Pro und Contra gebührenfreie Angebote: Nicht mehr gratis für alle?
Die SPD streitet darüber, ob die Kostenlos-Politik bei Kita oder Schulessen unabhängig vom Einkommen wieder abgeschafft werden soll.
Ja
B erlin hat über 60 Milliarden Euro Schulden. Im Landeshaushalt sind demnächst Milliardeneinsparungen nötig. 2026 soll das noch dramatischer werden. Spätestens jetzt ist der Zeitpunkt, ganz genau hinzusehen, wofür das Land Geld ausgibt. Und festzustellen, dass staatliche Zuwendungen seit über eineinhalb Jahrzehnten zunehmend an Menschen gehen, die gar nicht danach gerufen haben und sie teils gar nicht brauchen.
Es war gar nicht Raed Saleh, der die ihm nun angelastete Kostenlos-Politik auf den Weg brachte. Los ging es damit schon, als der damalige SPD-Regierungschef Klaus Wowereit im Wahlkampf 2006 warb: „Wir machen die Kita beitragsfrei.“ Damals fehlte wie heute der Zusatz: „bis soundsoviel Euro“.
Das lag und liegt nicht daran, dass darauf auf einem Wahlplakat kein Platz war. Die SPD-Verantwortlichen drückten sich schlicht darum, eine Grenze zu ziehen, ab wann wer bezahlen müsste. Dabei ist es die Aufgabe von Politik, Entscheidungen zu treffen. Zudem machte die SPD das Ganze zu einer Grundfrage: Kita sei Bildung, die dürfe nichts kosten, sonst stelle man ja auch den freien Schulbesuch infrage. Der Unterschied ist bloß: Berlin würde durch Kita-Gebühren nur einen noch vor gar nicht langer Zeit üblichen Zustand wieder herstellen: Wer nix hat, zahlt nix, wer wenig hat, zahlt wenig, wer viel hat, viel. Nach dem klassischen Sozialprinzip: Starke Schultern müssen mehr tragen als schwache.
Mit einer durch die Kita-Beitragsfreiheit und die späteren Beschlüsse zu BVG-Schülerkarte und Schulessen beförderten und nicht nur von Bundesfinanzminister Christian Lindner so bezeichneten „Gratismentalität“ soll die SPD-Politik nicht zu tun haben. Das beteuerte Saleh vielfach.
Warum der Staat und vor allem die SPD nicht nur den Bedürftigen und Wenig-Verdienern hilft, sondern selbst Begüterten Kita, Ticket und Essen bezahlt, vermochte er dabei nur so zu erklären: Er wollte da nicht differenzieren, sondern die Spitzenverdiener „über ein gerechteres Steuersystem abrechnen“. Was aber weder schnell noch auf Berliner Landesebene durchzusetzen ist.
Selbst wenn Berlin die eingangs erwähnten Milliarden nicht einsparen müsste, wäre nicht einfach Geld „über“. Da muss man gar nicht mal zum Schuldenabbau kommen, obwohl dessen Höhe bei wachsenden Zinsen den Landeshaushalt immens belastet. Egal ob Brückensanierung, Bäder-Unterhalt oder Obdachlosenhilfe – drängende Projekte gibt es genug.
Wenn den Gratis-Befürwortern sonstige Argumente ausgehen, kommt meist: aber der Verwaltungsaufwand! Der sei angeblich riesig und es darum letztlich billiger, undifferenziert an alle zu überweisen – wie bei der Energiepauschale 2022. So kann man argumentieren. Aber nur, wenn man in der Politik innerlich kapituliert hat. Stefan Alberti
Nein
Seit anderthalb Jahrzehnten arbeitet Berlin daran, das Grundrecht auf Bildung für alle Kinder zu verwirklichen – unabhängig vom Geldbeutel der Eltern. Seit Einführung eines ersten kostenfreien Kita-Jahres 2007 wurden die Hürden sukzessive abgebaut; vergangenes Jahr kam als bislang letzter Schritt das dritte Gratis-Hort-Jahr hinzu.
In keinem anderen Politikbereich hat die Landespolitik in der Vergangenheit so konsequent an der Verwirklichung einer positiven, sozialen Vision gearbeitet. In puncto kostenfreier Bildung, zu der das Schulmittagessen genauso gehört wie die Nachmittagsbetreuung, ist Berlin Vorreiter, bundesweit. So familienfreundlich, so inklusiv, so unbürokratisch geht es nirgends sonst zu.
Dass nun ausgerechnet aus der SPD selbst, die maßgeblich für diese Politik verantwortlich ist, die Forderung nach einer partiellen Rückabwicklung kommt, ist eine Groteske. Sie zeigt, jeder fortschrittlichen sozialdemokratischen Politik wohnt die Regression inne. Geschliffen werden könnte der letzte positive Markenkern der hauptstädtischen SPD. Man sieht schon die Wahlplakate vor dem geistigen Auge: „Kostenloses Schulessen für alle abschaffen. SPD!“ Eine Partei im Selbstzerstörungsmodus.
Der rechte Parteiflügel, jener, der sich unnötigerweise der CDU als Juniorpartner an den Hals geworfen hat, begründet den Vorstoß mit dem angeblichen Streben nach Gerechtigkeit, schließlich sollen ja nur die Gutverdienenden zur Kasse gebeten werden. Mit jenem Scheinargument hatte sich auch CDU-Bürgermeister Kai Wegner vor Kurzem kritisch zur allgemeinen Kitagebührenfreiheit zu Wort gemeldet.
Schon daran sieht man: Jedes Aufweichen der bisherigen Teilhabepolitik – und sei es nur die Wiedereinführung der Zuzahlung beim Mittagessen für gut verdienende Eltern – öffnet Tür und Tor. Aus der SPD reicht man den kleinen Finger, und diejenigen, die überall und dann womöglich auch für alle ein Preisschild dranhängen wollen, reißen schon am Arm. Eine Politik, die die Interessen der Mehrheit der Familien ohne hohe Einkommen verteidigt, ist nicht selbstverständlich in Zeiten, in denen Bürgergeldempfänger:innen wieder als Sündenböcke für eine verfehlte – die Reichen schonende – Steuerpolitik herhalten müssen.
Ganz praktisch kommt hinzu: Durch den allgemeinen Grundsatz der Gebührenfreiheit hat sich Berlin riesiger Verwaltungsaufgaben entledigt. Keine Einkommensprüfungen, keine Anträge, keine überforderten Bezirksämter. Will man das alles wieder künstlich reaktivieren, um ein paar Milliönchen an der falschen Stelle einzunehmen, die dann zum Teil für die Verwaltung wieder draufgehen? Wer an dieser Schraube dreht, beweist nur eines: Er ist nicht bereit, Bildung zur – auch finanziellen – Priorität zu machen. Erik Peter
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Prozess zu Polizeigewalt in Dortmund
Freisprüche für die Polizei im Fall Mouhamed Dramé
Ex-Wirtschaftsweiser Peter Bofinger
„Das deutsche Geschäftsmodell funktioniert nicht mehr“
Armut in Deutschland
Wohnen wird zum Luxus
Leben ohne Smartphone und Computer
Recht auf analoge Teilhabe
Ex-Mitglied über Strukturen des BSW
„Man hat zu gehorchen“
Studie Paritätischer Wohlfahrtsverband
Wohnst du noch oder verarmst du schon?