Präsidentschaftswahl in der Ukraine: Sie haben keine Stimme
Viele ukrainische Wähler kommen nicht an die Orte, wo sie in den Wahllisten stehen. Grund ist der Krieg mit Russland und die Annexion der Krim.
Auf der Krim leben 2,3 Millionen Ukrainer, in der „Volksrepublik Donezk“ ebenfalls 2,3 Millionen, in der „Volksrepublik Lugansk“ 1,45 Millionen Menschen. Geht man davon aus, dass von diesen 60 Prozent wahlberechtigt sind, leben in den von Kiew nicht kontrollierten Gebieten 3,6 Millionen Wählerinnen und Wähler. Sie alle müssen einen Antrag stellen, dort wählen zu dürfen, wo sie sich am Wahltag aufhalten.
Wer auf der Krim, in Donezk oder Lugansk lebt, muss somit vor der Wahl in einem von der Kiewer Zentralregierung kontrollierten Ort einen Antrag auf Eintrag in das Wählerverzeichnis stellen. Dann muss er oder sie am Wahltag erneut die Waffenstillstandslinie mit den erniedrigenden Kontrollen durch beide Seiten überqueren.
Allein das Überqueren der „administrativen Grenze“ kann einen Tag Warten bedeuten. Und es ist davon auszugehen, dass die Behörden der „Volksrepubliken“ von Donezk und Lugansk und erst recht die russischen Behörden auf der Krim alles unternehmen werden, um eine Wahlbeteiligung „ihrer“ Bürger zu erschweren.
Sollte es zu einem zweiten Wahlgang am 21. April kommen, ist für diese Stichwahl das gleiche Prozedere erneut zu durchlaufen. Allerdings darf man den Antrag auf Eintrag in das Wählerverzeichnis am faktischen Aufenthalt dann erst nach der Bekanntgabe des offiziellen Wahlergebnisses stellen. Eine Woche vor der Wahl wird diese Liste geschlossen, de facto haben die Bewohner der Krim oder der ostukrainischen „Volksrepubliken“ also nur eine Woche Zeit, um sich auch für die Stichwahl eintragen zu lassen. Und wieder müssen lange Wartezeiten an der „administrativen Grenze“ und vor den Meldebehörden ausgestanden werden.
Zwar hat das Justizministerium, so berichtet das ukrainische Internetportal Ukraina moloda, mitteilen lassen, dass man auf dem Gerichtsweg auch nach Ende der Antragsfrist eine Aufnahme in das Wählerverzeichnis erstreiten kann. Für die überwiegende Mehrheit der Wahlberechtigten dürfte ein Gang zum Gericht aber eine zu große psychologische Hürde sein, zumal auch dieser Gang mit einer weiteren Reise über die „administrative Grenze“ verbunden wäre.
Auch die 2,5 Millionen Ukrainer, die laut dem ukrainischen Außenminister Pawlo Klimkin in einem Beitrag für die Ukrainska Prawda derzeit in Russland lebten, können sich kaum an der Wahl beteiligen. Im Gegensatz zu den Wahlen in den vergangenen Jahren wird es dieses Mal durch Beschluss der zentralen Wahlkommission der Ukraine in den diplomatischen und konsularischen Vertretungen der Ukraine in Russland keine Wahlurnen geben. Es wäre schließlich naiv zu glauben, der russische Inlandsgeheimdienst FSB würde nicht versuchen, auf ukrainische Wahlen, die auf russischem Territorium stattfänden, Einfluss zu nehmen, verteidigt Klimkin die Entscheidung der ukrainischen Wahlkommission.
In Russland lebende Ukrainer, so Klimkin, könnten ja ihre Stimme in den ukrainischen Vertretungen in Georgien, Finnland oder Kasachstan abgeben. 1,5 Millionen ukrainische Wähler, die in Russland leben, werden so ihres Stimmrechtes beraubt. Zur Wahl eigens nach Finnland, Kasachstan oder Georgien zu reisen dürfte nur für einen Bruchteil der in Russland lebenden Arbeitsmigranten finanziell und zeitlich machbar sein.
Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.
Ein weiteres Hindernis: In den ukrainischen Metropolen ist es die Regel, nicht die Ausnahme, dass Vermieter ihre Mieter nicht bei den Behörden melden. Vorteilhaft ist diese Praxis für beide Seiten. Vermieter brauchen so nicht auf staatliche Unterstützungsleistungen zu verzichten, die ihnen alters- oder krankheitsbedingt für die teuren Heizkosten häufig zustehen. In der Regel werden die Kosten für Heizung und Wasser nicht nach Verbrauch, sondern nach Anzahl der Bewohner einer Wohnung berechnet. Das bedeutet für einen Vermieter: Je mehr Personen offiziell in seiner Wohnung leben, umso mehr muss er an Heizkosten bezahlen. Und wer keine Mieteinnahmen angibt, muss diese auch nicht versteuern.
Insbesondere für junge männliche Mieter ist diese Praxis angenehm, sind sie doch so für eine Einberufung zum Militär nicht erreichbar. Dies heißt jedoch auch: Wer etwa in Kiew lebt, aber noch bei seinen Eltern mehrere hundert Kilometer entfernt gemeldet ist, kann nur am Wohnort der Eltern seine Stimme abgeben.
Angesichts dieser Hürden wundert es nicht, dass nur ein Bruchteil der Wähler einen Antrag stellt, am faktischen Aufenthaltsort die Stimme abgeben zu dürfen. 315.725 Personen, so das staatliche Wählerverzeichnis auf seiner Homepage, haben bisher einen derartigen Antrag gestellt. Darunter 4.419 Wähler von der Krim und 1.109 aus Sewastopol. Man kann davon ausgehen, dass es beim zweiten Wahlgang noch weniger sein werden.
Geringe Beteiligung von Binnenflüchtlingen
1,8 Millionen Binnenflüchtlinge aus Donezk, Lugansk und der Krim leben in den von Kiew kontrollierten Gebieten der Ukraine, 1 Million von ihnen dürften wahlberechtigt sein. Im Gegensatz zu Arbeitsmigranten und Studenten, die ihrem Antrag auf Wahlbeteiligung am faktischen Aufenthaltsort eine Bescheinigung von Arbeitgeber oder Universität beilegen müssen, ist die Antragstellung für Umsiedler vereinfacht.
Trotzdem stellen Umsiedler nur wenig Anträge. Laut der ukrainischen Menschenrechtsbeauftragten Ljudmyla Denisowa haben sich nur 200 von insgesamt 1.000 der in der Ortschaft Stanyzja Luhanska wohnhaften Binnenflüchtlinge für die bevorstehenden Präsidentschaftswahlen registrieren lassen. Grund hierfür ist laut Denisowa, dass die Binnenflüchtlinge nicht genügend darüber informiert wurden, wie sie ihrem Wahlrecht nachkommen können.
Gegenüber der taz bestätigt die aus Donezk stammende Oxana Tschepischko von der Nichtregierungsorganisation „re:start“, dass es zwar für Umsiedler relativ einfach sei, eine Wahl am Aufenthaltsort zu beantragen. Dass hiervon jedoch so wenig Gebrauch gemacht werde, liege vor allem daran, dass es sich unter den Umsiedlern nicht herumgesprochen habe, dass vor einem Jahr die Antragsbestimmungen für sie liberalisiert worden seien. „So viel Geld wird für den Wahlkampf und die ganzen Wahlplakate ausgegeben“, sagt Tschepischko. „Aber warum macht sich niemand die Mühe, in einer verständlichen Weise zu erklären, wie sich Umsiedler an der Wahl beteiligen können?“ Offensichtlich fürchte man, dass die Umsiedler nicht so stimmen werden wie von den Machthabern erwünscht, meint sie.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nach dem Anschlag in Magdeburg
Rechtsextreme instrumentalisieren Gedenken
Anschlag in Magdeburg
„Eine Schockstarre, die bis jetzt anhält“
Bundestagswahl am 23. Februar
An der Wählerschaft vorbei
Erderwärmung und Donald Trump
Kipppunkt für unseren Klimaschutz
EU-Gipfel zur Ukraine-Frage
Am Horizont droht Trump – und die EU ist leider planlos
Streit um Russland in der AfD
Chrupalla hat Ärger wegen Anti-Nato-Aussagen