Präsidentschaft in Brasilien: Zwei Welten gehen wählen
Bolsonaro oder Lula? Rechtsextremer Waffennarr oder nostalgischer Ex-Gewerkschafter? Die Stichwahl zeigt: Brasilien steckt in der Sinnkrise.
F ür Rubens Horst Liesenberg ist die Sache klar: Wenn die Linke zurückkommt, geht alles bergab. Dann werden Kirchen geschlossen, Drogen legalisiert, Abtreibungen erlaubt. Er zupft die Hosenträger seiner Lederhose zurecht, nimmt einen großen Schluck Bier und sagt: „Lula will den Kommunismus in Brasilien einführen.“
Liesenberg, 50, ist ein Brasilianer mit deutschen Wurzeln, ein breiter Mann mit moosgrünen Augen, gepflegtem Bart und leichtem Silberblick. Den Filzhut hat er vor sich auf dem Tisch abgelegt. An diesem Vormittag ist das „Kulturzentrum 25. Juli Blumenau“ gut besucht. Auf einer Bühne wird Blasmusik gespielt, fast alle tragen Trachten, Bierkrüge werden in die Höhe gestemmt – „Prosit!“
Blumenau liegt im Süden Brasiliens, im Bundesstaat Santa Catarina. Die Stadt hat 300.000 Einwohner. Bekannt ist Blumenau vor allem als Mittelpunkt deutscher Kultur in Brasilien. Man sieht dort Fachwerkhäuser und Bierbrauereien, überall hängen Deutschlandfahnen. Mitte Oktober hat hier das Oktoberfest begonnen, das zweitgrößte der Welt. Vor dem „Deutschen Dorf“, wo das Fest stattfindet, verkaufen Händler Maßkrüge und Lebkuchenherzen. Auf dem Festivalgelände drängen sich Menschenmassen um riesige Bühnen und Bierstände.
In sozialen Medien zirkuliert ein Video der Eröffnungsfeier, von oben gefilmt, ein prall gefüllter Saal, bierschwangere Stimmung. Nach der Nationalhymne schallt es „Mito, mito, mito“ im Chor. Mito, also Mythos, wird Jair Bolsonaro von seinen Anhängern gerufen. An kaum einem Ort hat Brasiliens Präsident treuere Anhänger als in Blumenau.
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Nun findet an diesem Sonntag die Stichwahl um das brasilianische Präsidentenamt statt. Jair Messias Bolsonaro gegen Luiz Inácio „Lula“ da Silva. Amtsinhaber gegen Ex-Präsident. Rechtsradikaler gegen Sozialdemokrat. Es ist eine Wahl der harten Kontraste, es kommt zum großen Showdown zwischen zwei Männern, die unterschiedlicher kaum sein könnten. Trotz aller politischen Differenzen haben sie aber auch einiges gemeinsam: Beide elektrisieren die Massen, wecken Emotionen, werden gleichermaßen verehrt wie verachtet. Ein Riss geht durch das größte Land Lateinamerikas. Brasilien ist in zwei Lager gespalten.
Bei der Wahl 2018 inszenierte sich Bolsonaro als Saubermann und Anti-Establishment-Kandidat. Mit einem geschickten Wahlkampf in den sozialen Medien gelang es ihm, den Hass auf die Arbeiterpartei PT zu schüren und zu bündeln, bestehende Ressentiments weiter anzufachen. Die Rechnung ging auf, der Außenseiter Bolsonaro gewann die Wahl.
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In den fast vier Jahren seiner Amtszeit hat der ultrarechte Präsident tiefe Spuren hinterlassen. Sein schulterzuckender Umgang mit dem Coronavirus stürzte das Land ins Pandemiechaos, wegen seiner Kahlschlagpolitik im Regenwald gilt Brasilien als Paria im Ausland, Korruptionsskandale kratzen an seinem eigenen Saubermann-Image. Viele haben sich mittlerweile von Bolsonaro abgewendet, bei einigen gilt er als Hassfigur schlechthin: Wenn er im Fernsehen spricht, klopfen sie aus Protest auf Kochtöpfe.
Einiges deutet darauf hin, dass sein Konkurrent Lula die anstehende Stichwahl gewinnen wird. In der ersten Wahlrunde lag er 6 Millionen Stimmen vor Bolsonaro. Doch der Rechtsaußen schnitt besser ab, als alle Demoskopen prognostiziert hatten.
Freund oder Feind – wir gegen die
Das hat auch mit Bolsonaros treuen Anhängern zu tun. Als Präsident hat er es tatsächlich geschafft, eine Massenbewegung hinter sich zu scharen – und das nicht nur im Netz. Der Bolsonarismus setzt sich aus ganz unterschiedlichen Gruppen zusammen, Christen, Neoliberalen, Landwirten, Waffenfans. Was sie zusammenhält: die Überzeugung, auf der richtigen Seite zu stehen, und die Haltung, sich nach außen hermetisch abzuschirmen. In ihrer Welt gibt es nur zwei Kategorien: für Bolsonaro oder gegen ihn. Freund oder Feind. Wir gegen die.
Bolsonaro nährt diese Wagenburgmentalität noch, indem er ständig Konflikte mit den demokratischen Institutionen provoziert. Von seinen Anhängern, den bolsonaristas, wird der Pöbelpräsident als einsamer Kämpfer verehrt, der das Establishment das Fürchten lehrt. Bisweilen trägt der Bolsonaro-Kult fast religiöse Züge.
Insbesondere die weiße Mittel- und Oberschicht hält ihm weiterhin die Treue. Doch es wäre zu einfach zu sagen: Die Reichen wählen Bolsonaro, die Armen Lula. Auch viele Schwarze aus den prekären Vorstädten unterstützen den Rechtsradikalen. Das liegt vor allem am Einfluss der ultrakonservativen Pfingstkirchen. Schon in zehn Jahren könnten die Evangelikalen die Mehrheit der brasilianischen Bevölkerung stellen, sagen Schätzungen. Und die evangelikalen Kirchen sind besonders in den Armenvierteln präsent – also gerade dort, wo der Staat es nicht ist.
Wenn man auf die Karte dieses gigantischen Landes schaut, wird dennoch klar: Bolsonaro ist in den weißeren und reicheren Regionen überdurchschnittlich stark. Also in Städten wie Blumenau. In der ersten Wahlrunde stimmten dort 66,74 Prozent für Bolsonaro, nur 22,76 Prozent für Lula. Dass diese Region traditionell rechts wählt, hat auch mit ihrer Geschichte zu tun.
Am 22. Juni 1867 betrat eine Familie aus dem niedersächsischen Schöning ein Schiff im Hamburger Hafen. Ziel war Brasilien. Nach drei Monaten Reise traten die Liesenbergs zum ersten Mal auf brasilianischen Boden. Ihr neues Zuhause war ein Städtchen im Tal des Itajaí-Açu-Flusses. Hier hatte Hermann Blumenau, ein Apotheker aus dem Harz, im Jahr 1850 zusammen mit 17 Siedlern eine Kolonie gegründet: Blumenau.
Zehntausende folgten dem Ruf der deutschen Pioniere: Lasst die Misere des alten Kontinents hinter euch! Kommt in die neue Welt, nach Brasilien! Auch die Ururgroßeltern von Rubens Horst Liesenberg wanderten mit diesem Gedanken aus.
Liesenberg erzählt gern die Geschichte seiner Familie. Mit seiner Frau und den beiden Söhnen wohnt er etwas außerhalb von Blumenau, dort, wo bereits sein Großvater lebte. Er arbeitet als Buchhalter, geht oft in das deutsche Kulturzentrum, sonntags in die Kirche, ist ein offener Mensch, hört aufmerksam zu, lacht viel. Der 50-Jährige ist kein rechter Fanatiker – und doch ein typischer Bolsonaro-Wähler. Die großen Medien verfolge er schon lange nicht mehr, sagt er. Die steckten doch alle unter einer Decke, hingen an der „Zitze der Linken“. Woher er seine Informationen bekomme? „Aus WhatsApp-Gruppen. Und von Telegram.“
Wie Liesenberg informieren sich viele Brasilianer ausschließlich über Messengerdienste. In kaum einem Land ist es gelungen, die Internetaffinität der Bevölkerung so geschickt für politische Zwecke zu missbrauchen wie in Brasilien. Das liegt auch an den Logiken der sozialen Medien: In den viel zitierten Filterblasen werden die Benutzer in ihren Ansichten bestärkt, können sich als Teil einer gigantischen Gemeinschaft fühlen, belohnt durch Likes und Shares. Andere Meinungen kommen in dieser parallelen Realität nicht vor.
Auch Rubens Horst Liesenberg teilt auf Facebook fleißig Beiträge, die keinen seriösen Faktencheck bestehen würden. So werden in kurzen Videoschnipseln etwa Bolsonaros Aussagen über angebliche Wahlfälschungen sekundiert. Seit Monaten verbreitet der Rechtsradikale Lügen über das elektronische Wahlsystem. „Nur Gott“ könne ihm die Präsidentschaft entziehen, sagt der Mann.
Viele Politanalysten gehen davon aus: Je knapper die Stichwahl ausfallen wird, desto größer die Wahrscheinlichkeit, dass Bolsonaro das Ergebnis nicht anerkennt. Einige befürchten sogar einen Putschversuch. Doch für einen offenen Bruch mit der Verfassung dürfte Bolsonaro dann doch die nötige Rückendeckung fehlen. Es gibt eine aktive Zivilgesellschaft in Brasilien, kritische Medien, und die demokratischen Institutionen funktionieren immer noch, zumindest halbwegs.
Es geht zum Tanz: In voller Tracht stapft Liesenberg jetzt nach vorn. Auf der Bühne stellen sich mehrere Paare auf, Liesenberg hakt sich bei seiner Frau ein. Ein Walzer erklingt. Vor einer Fototapete mit Berglandschaft schwingen die Paare im Takt. Liesenberg tanzt schon seit 35 Jahren. Die deutsche Kultur ist für ihn mehr als ein Hobby – sie ist seine Identität. „Ich fühle mich als Brasilianer“, sagt er, „aber einen Fuß habe ich immer in Deutschland.“
Die Vergangenheit ist in Blumenau omnipräsent. Viele sind stolz auf die harte Arbeit ihrer Vorfahren. Und stolz ist man auch darauf, dass es dieser Region heute im Vergleich besser geht als dem Rest des Landes. Es existierte sogar einmal eine Unabhängigkeitsbewegung in der Gegend. Auch Liesenberg konnte früher etwas mit dem Gedanken anfangen, sich abzuspalten. Heute sei er sich in dieser Frage nicht mehr sicher, sagt er, aber man merkt: Die Abgrenzung gegen ärmere Landesteile ist ihm immer noch wichtig. „Es ist nicht Teil unserer Identität, Dinge vom Staat zu bekommen.“ Im Nordosten sei das anders. Das erkläre auch die Beliebtheit Lulas in jener Region: „90 Prozent der Lula-Wähler wollen nicht arbeiten.“
Im „Texas von Brasilien“ ballert man gern herum
Am Stadtrand Blumenaus führt ein Kopfsteinpflasterweg einen Hang hinauf. Schon von Weitem ist die riesige Brasilienfahne zu sehen, die an der Fassade eines weißen, kastenförmigen Gebäudes hängt. Darunter ein Schriftzug: „Jagd- und Schießklub Concórdia“. Vor 105 Jahren gründete ein Deutscher den Verein. Heute wird er von Moisés Lazzari geführt. Der 49-Jährige trägt ein hellblaues Polohemd, Jeans, hat eine selbstbewusste Art – Typ Kleinunternehmer. Neben den Deutschen siedelten auch viele Italiener in der Region, Lazzaris Vorfahren kamen aus Venetien nach Brasilien. Das Wappen seiner Familie, sagt Lazzari, zeige einen Hund, der ein Kaninchen jagt. „Wir waren schon immer Jäger.“
Der Bundesstaat Santa Catarina gilt als das „Texas von Brasilien“, Waffen im Wohnzimmerschrank haben Tradition. Lazzari betont, dass die Mordrate nirgends niedriger sei als hier. Das Schießen sei für viele vor allem eins: ein Sport. Er selbst besitzt 14 Waffen, musste sie aber noch nie zur Verteidigung benutzen, sagt Lazzari. Und er hoffe auch, dass das so bleibt.
Wie so viele Waffenfans ist auch Lazzari ein Anhänger von Bolsonaro. Der rechtsradikale Präsident hat aus seiner Liebe für Waffen nie einen Hehl gemacht. Seine Geste, beide Hände zu Pistolen zu formen, ist zum Symbol des Bolsonarismus geworden. Unmittelbar nach seinem Amtsantritt brachte er mehrere Dekrete auf den Weg, um die Waffengesetze zu lockern. Zwar machte ihm der Oberste Gerichtshof bei vielen Initiativen einen Strich durch die Rechnung. Doch Bolsonaro konnte durchaus einige Erfolge feiern und den Erwerb von Schusswaffen erleichtern. Das schlägt sich in den Statistiken nieder: Immer mehr Waffen sind in Brasilien im Umlauf, Experten schlagen Alarm, warnen vor einer Zunahme der Gewalt.
Lazzari sieht die Sache anders: „In den allermeisten Fällen werden Waffen für etwas Gutes verwendet.“ Mit einem Finger drückt er auf einen Sensor, eine Tür öffnet sich. Ein kahler Gang. Dann noch eine Tür. Dahinter steht ein Mann mit Schutzbrille und Lärmschutzkopfhörer an einem Schießstand. Bum, bum, bum.
Wird hier mit scharfer Munition geschossen? Lazzari grinst, zieht eine Pistole aus seinem Hosenbund, lässt ein geladenes Magazin in seine Hand fallen und sagt: „Waffen sind ein Symbol der Freiheit.“ Die Klubmitglieder kämen aus allen Gesellschaftsschichten, vom Anwalt bis zum Müllsammler sei alles dabei. Ein Monatsbeitrag fällt an, jeder bringt seine eigene Waffe mit, montags ist Frauentag.
Die brasilianische Bevölkerung könne nur frei sein, wenn sie bewaffnet sei, sagt Lazzari. Es ist das Mantra Bolsonaros. Was passiert, wenn der Amtsinhaber die Wahl verliert? „Dann werden wir das akzeptieren. Es wird nicht ein Schuss fallen.“ Brasilien sei schließlich eine Demokratie, betont der Freizeitschütze.
Doch nicht alle bolsonaristas klingen so maßvoll. Manche rufen in sozialen Medien schon zu einem regelrechten Endkampf auf, sollte nicht Bolsonaro, sondern Lula die Wahl gewinnen, die wildesten Gerüchte und Verschwörungsmythen kursieren. Besonders gefährlich dürfte es werden, wenn Bolsonaro das Wahlergebnis nicht anerkennt und seine Anhänger in Trump-Manier aufstachelt. Viele Beobachter halten das für möglich.
Bolsonaro galt anfangs als farbloser Typ
Jair Messias Bolsonaro wuchs im Landesinneren des Bundesstaates São Paulo auf. Seine Vorfahren waren Bauern, die aus dem Norden Italiens nach Brasilien eingewandert waren. Die Familie war nicht arm, führte aber ein einfaches Leben. 1973 schrieb sich der junge Bolsonaro in einer renommierten Militärakademie ein, die er 1977 als Leutnant der Artillerie abschloss. Danach ließ er sich zum Fallschirmjäger ausbilden und diente bis 1988 in der Luftlandebrigade. Dann wurde er in den Stadtrat von Rio de Janeiro gewählt, und zwei Jahre später zog er in das brasilianische Parlament ein.
Dort blieb Bolsonaro zunächst lange Zeit farblos. Er war als Interessenvertreter des Militärs und der Waffenlobby aktiv. 2015 kam er als Parlamentsabgeordneter nach Blumenau, und Moisés Lazzari hatte die Möglichkeit, ihn persönlich kennenzulernen. Er finde nicht alles gut, was Bolsonaro sagt, meint Lazzari. Und: Ja, manchmal vergreife sich der Mann im Ton. „Aber den einzigen perfekten Menschen haben wir ans Kreuz genagelt.“ Bolsonaro sei eben ein Hauptmann der Reserve, verhalte sich oft noch wie ein Militär. Brasilien brauche jemanden, der auch mal auf den Tisch haue, glaubt Lazzari: „Denn wir steuern auf den Kommunismus zu.“
Der fast schon paranoide Antikommunismus in Brasilien ist nicht nur ein Relikt des Kalten Kriegs. Für das Weltbild rechtsextremer Figuren wie Bolsonaro ist ein fiktives Bedrohungsszenario fundamental. Überall halluzinieren sich die heutigen Neuen Rechten eine kommunistische Bedrohung herbei. Donald Trump behauptete etwa, eine staatliche Gesundheitsversorgung sei ein trojanisches Pferd des Marxismus. Bolsonaro wiederum wird nicht müde zu behaupten, die Arbeiterpartei PT plane einen kommunistischen Umsturz. Dabei handelt es sich bei der PT bloß um gemäßigte Sozialdemokraten.
Der theatralische Antikommunismus dient vor allem der Abgrenzung: Alles, was als bedrohlich empfunden wird, kann zu einem einzigen, teuflischen Feind verdichtet werden – mit Ex-Präsident Lula als prominente Hassfigur. „Eine Rückkehr würde eine Katastrophe für Brasilien bedeuten“, glaubt Lazzari.
Im Nordosten Brasiliens sehen das die meisten Menschen ganz anders. Eraldo Ferreira dos Santos schiebt einen Schlüssel ins Schloss einer Holztür, stemmt seinen Oberkörper dagegen, knarrend gibt sie nach. Dahinter ist es stockdunkel, es riecht muffig. In einer Ecke der Lehmhütte liegen mit Stroh gefüllte Matratzen, in der Küche rosten altertümliche Gerätschaften vor sich hin. Elektrisches Licht gibt es nicht. Santos, 68, ein kleiner Mann mit blauen Augen, großer Nase und Cowboyhut, klopft auf einen Balken: „Von hier kommt der wichtigste Politiker in der Geschichte Brasiliens.“
Caetés heißt die Ansammlung von Hütten. Das Dorf liegt im staubigen Hinterland des nordöstlichen Bundesstaats Pernambuco, mit dem Auto dauert es eine halbe Stunde in die nächste größere Stadt Garanhuns. Am 27. Oktober 1945 erblickte Luiz Inácio in Caetés das Licht der Welt. Unter dem Spitznamen „Lula“ wurde das siebte von acht Kindern einer bitterarmen Familie Jahre später weltbekannt.
Eigentlich stand das Geburtshaus des berühmt gewordenen Dorfbewohners ein paar Meter weiter oben. Doch das Land wurde verkauft. Deshalb ließ Santos einen originalgetreuen Nachbau der Hütte hier aufbauen. Es war ihm wichtig, denn der große Lula ist sein Cousin.
Lula stand schon mit 14 an der Werkbank
Wohl kein Politiker prägte die brasilianische Politik in den letzten Jahrzehnten so stark wie jener Lula. Die Faszination, die von ihm ausgeht, hängt auch damit zusammen, dass seine Geschichte die Geschichte vieler Brasilianer ist. Lula war sieben, als seine Mutter ihre Habseligkeiten packte und ihre Kinder auf die Ladefläche eines Lastwagens setzte. Nach 13 Tagen Fahrt kam die Skyline von São Paulo in Sicht. Wie Millionen von Landarbeitern ließ auch diese Familie den verarmten Nordosten hinter sich, um im industriellen Süden ein neues Leben zu beginnen.
Früh musste Lula lernen, Verantwortung zu übernehmen: Als Kind verkaufte er Kekse aus Maniokmehl, arbeitete als Bote und sah nur für kurze Zeit ein Klassenzimmer von innen. Mit 14 fing er an, als Dreher in einer Kupferfabrik zu arbeiten. An der Werkbank formte er nicht nur Metallplatten, sondern auch eine außergewöhnliche Karriere: Der redegewandte junge Mann brachte es schnell zum Gewerkschaftsführer, organisierte Streiks, hielt flammende Reden vor Werkstoren.
Bald wurden die Schergen der rechten Militärdiktatur auf ihn aufmerksam, nahmen ihn fest. 31 Tage verbrachte er im Gefängnis. Auch sein Cousin war damals dabei. „Sie haben uns wie Tiere behandelt“, sagt er. „Da wir die Diktatur am eigenen Leib erlebt haben, macht Bolsonaro uns große Angst.“
Anfang der 1980er Jahre gründete Lula mit einigen Mitstreitern eine Partei, die Brasilien nachhaltig verändern sollte: die Partido dos Trabalhadores, die Arbeiterpartei. In den dunklen Jahren der Militärdiktatur war sie ein Sammelbecken für oppositionelle Gewerkschaftler, sozialistische Katholiken und soziale Bewegungen, und Lula wurde ihr bekanntestes Gesicht. Sein Interesse an Politik, erklärte er später einmal, erwachte bei einem Besuch im brasilianischen Kongress: Von den 433 Abgeordneten kamen nur zwei aus der Arbeiterklasse.
Das wollte Lula ändern. Dafür musste er nach ganz oben. Dreimal zog er als Spitzenkandidat für die PT in den Wahlkampf. Dreimal unterlag er. Vor der Wahl 2002 schlug Lula moderatere Töne an und signalisierte: Mit ihm als Präsidenten werde es keinen radikalen Bruch geben. Revolution? Sozialismus? Klassenkampf? Begriffe der Vergangenheit! So schrieb der Politiker mit der unverkennbaren Kratzstimme vor 20 Jahren Geschichte: Der Metallarbeiter wurde zum Präsidenten des größten Landes Lateinamerikas gewählt.
Für die Armen begann eine neue, bessere Zeit
Für die Armen sollte mit Lulas Wahlsieg eine neue Zeit beginnen. Mit den Einnahmen aus dem Rohstoffgeschäft konnte die Regierung Sozialprogramme finanzieren, 30 Millionen Brasilianer entkamen der Armut, der Hunger konnte fast komplett beseitigt werden. Schwarze Vorstadtkids schrieben sich nun an Universitäten ein, Hausangestellte bekamen erstmals einige Arbeitsrechte zugesprochen.
Die Früchte des Booms wurden etwas gerechter verteilt, doch an den grundsätzlichen Strukturen wurde nicht gerüttelt. Trotzdem weckt Lula heute bei vielen Brasilianern das Gefühl von saudade, einer Sehnsucht nach besseren Zeiten.
Besonders im Nordosten gilt er noch immer als Lichtgestalt. Am Stadtrand von Garanhuns lebt Rosângela da Silva mit ihren Töchtern und Enkeln. Die hiesigen Häuser wurden während der Regierungszeit der PT gebaut. Lulão, großer Lula, nennen sie die Siedlung liebevoll. Silva ist 59, hat lange graue Haare und ist so klein, dass ihre Füße nicht den Boden berühren, als sie sich auf die Couch setzt.
Durch das dunkle Wohnzimmer rennen Kinder, draußen gackern Hühner, drinnen ist es stickig heiß. 20 Personen wohnen hier, in drei Zimmern. An den Wänden hängen Heiligenbilder. In ihrer Nachbarschaft, sagt Silva, unterstützten alle Lula. In der Tat stimmten in Garanhuns 72 Prozent in der ersten Wahlrunde für den bekannten Sohn dieser Gegend.
Während Lulas Amtszeit habe sich vieles verbessert, sagt Silva. Wohnungen wurden gebaut, Universitäten gegründet, Kanalisationssysteme errichtet. Der abgehängte Nordosten blühte auf. Die Silvas erhielten Sozialhilfe, konnten sich plötzlich Dinge wie einen Fernseher leisten. Und noch wichtiger: Die arme, schwarze Familie habe zum ersten Mal so etwas wie Würde verspürt. Silva drückt das so aus: „Gott im Himmel, Lula auf Erden.“
Weil die brasilianische Verfassung keine dritte Amtszeit in Folge zulässt, schied Lula 2011 aus dem Amt – mit einer Zustimmungsrate von 83 Prozent. Barack Obama nannte ihn den „beliebtesten Politiker der Erde“.
Lulas „politische Ziehtochter“ Dilma Rousseff wurde zur Präsidentin gewählt, und die Mehrheit der Bevölkerung blickte damals mit schier grenzenlosem Optimismus in die Zukunft. Brasilien wurde als aufstrebender Global Player gefeiert, galt als Musterschüler der Finanzmärkte, alles schien möglich.
Doch es kam anders.
Denn es dauerte nicht lange, und der einstige Popstar der brasilianischen Politik wurde für viele zur Hassfigur. Auf Demonstrationen brüllten sie „Lula: ladrão“, „Lula: Dieb“ und hielten Puppen des Ex-Präsidenten in Häftlingsuniform in die Luft. Die einst so stolze und populäre Arbeiterpartei wurde eine Projektionsfläche für die Enttäuschung einer ganzen Nation. Was war passiert?
Ein Korruptionsskandal machte alles zunichte
Nicht nur der weltweite Boom der nuller Jahre war geendet, in Brasilien kam zudem ein gigantisches Korruptionsnetz ans Licht – und damit schlitterte das Land ab 2013 immer weiter in den Krisenmodus. Die größten Baufirmen Brasiliens hatten ein Kartell gebildet, das seit vielen Jahren Aufträge des halbstaatlichen Petrobras-Konzerns unter sich aufteilte und zu überhöhten Preisen durchführte. Für die Vermittlung der Aufträge waren Milliarden auf die Konten von Politikern, Staatsbeamten und Managern geflossen. Zwischenzeitlich stand die Hälfte der Kongressmitglieder unter Verdacht, sich bereichert zu haben.
Der ambitionierte Richter Sérgio Moro übernahm die Ermittlungen in diesem Skandal und machte ihn zum Medienspektakel: Festnahmen wurden live im Fernsehen übertragen, Erkenntnisse reißerisch in sozialen Medien präsentiert, Ermittler traten wie Fußballstars in Pressekonferenzen auf.
Mit der Zeit kamen einigen Beobachtern Zweifel an der Unvoreingenommenheit der Justiz – denn es wurde vor allem gegen die PT und ihre Koalitionspartner ermittelt. Die großen Medien zeichneten das Bild einer durch und durch korrupten linken Partei. Bestechungen, in die rechte Parteien verstrickt waren, wurden hingegen kaum beachtet. Bald fragte keiner mehr, wer tatsächlich angeklagt war, stattdessen brannte sich bei vielen ein diffuses Bild einer durchweg korrupten Regierung ein.
So galt Lula plötzlich als Kopf eines kriminellen Netzwerks. 2016 wurde seine Nachfolgerin Dilma Rousseff nach einem juristisch fragwürdigen Amtsenthebungsverfahren abgesetzt. Im folgenden Jahr verurteilte ein Gericht Lula wegen passiver Korruption und Geldwäsche. Der Vorwurf lautete konkret: Der Ex-Gewerkschafter soll einem Baukonzern Staatsaufträge als Gegenleistung für eine Luxuswohnung verschafft haben. Das Urteil stützte sich allein auf Indizien, Beweise konnte die Staatsanwaltschaft nicht präsentieren. Trotzdem kam der frühere Präsident in Haft und konnte damit, anders als geplant, 2018 nicht bei der Wahl antreten.
Auf diese Art wurde der Weg frei für Bolsonaro. Den „Star-Richter“ Sérgio Moro machte er später zum Justizminister. Es war der perfekte Coup – zumindest beinahe. Denn Brasiliens serienreife Geschichte nahm weitere Volten: 2019 kam Lula aus der Haft frei, und im März 2021 wurden alle Urteile gegen ihn annulliert. Mittlerweile hegte nämlich auch der Oberste Gerichtshof Zweifel an der Unparteilichkeit von Richter Moro.
Versöhnung ist das Ziel des „Lulismo“
Im Wahlkampf gibt sich Lula jetzt als großer Versöhner, als Anti-Bolsonaro, als jemand, der das Land wieder zusammenbringen will. Er zeigt Empathie für die Coronatoten, zeigt sich staatsmännisch auf Europatour und tut, was er schon immer am besten konnte: seine Fühler in alle Richtungen ausstrecken. Am Vormittag über ein besetztes Gebiet der Landlosenbewegung MST marschieren, am Nachmittag in einer gläsernen Bankfiliale feinen Kaffee trinken? Kein Widerspruch für Lula. Schon immer war seine Politik auf Konsens und Dialog ausgerichtet. Lulismo nennt sich das in Brasilien.
Lula wird nicht müde zu betonen, dass jeder Brasilianer die Möglichkeit haben muss, Reis, Bohnen und ein Stück Fleisch zu essen. Damit spielt er auf die aktuelle dramatische Situation vieler Familien an. Zwar ist die Inflation in den vergangenen Monaten in Brasilien leicht zurückgegangen, und im kommenden Jahr wird mit einem zaghaften Wirtschaftswachstum gerechnet, doch die Verarmung hat landesweit zugenommen. Das bekommen auch die Silvas in ihrem kleinen Haus am Stadtrand von Garanhuns zu spüren.
„Ein Gaskanister kostet heute 120 Reais“, schimpft die 59-jährige Rosângela. Das sind umgerechnet rund 23 Euro, kaum erschwinglich für die Familie. Öfter sei der Herd deshalb schon ausgeblieben. Oft gebe es nur Eier und Hühnerfüße zu essen, manchmal seien sie auch schon hungrig ins Bett gegangen.
Damit sind die Silvas nicht allein. 33 Millionen Brasilianer sind laut Studien von sogenannter Ernährungsunsicherheit betroffen. Das heißt nichts anderes als: Sie hungern. Viele machen dafür Präsident Bolsonaro mitverantwortlich. Die soziale Not im Land könnte ihn das Amt kosten.
Lula sagt, er wolle „das Glück“ zurück nach Brasilien holen. Wie genau er das machen will, verrät er aber nicht. Oft bleibt er schwammig, viel spricht er über die Vergangenheit, fast schon nostalgisch klingt es gelegentlich. Die goldenen Zeiten: Sie sind vorbei. Die Fronten verhärtet, die Gesellschaft gespalten. Und der Bolsonarismus wird sich nicht einfach in Luft auflösen, selbst wenn der Namensgeber dieses Phänomens nicht mehr Präsident sein sollte. Mit seinen 77 Jahren ist Lula wahrlich nicht mehr der Jüngste, auch wenn er im Wahlkampf mal wie ein Rockstar tanzt oder in Interviews erklärt, verliebt zu sein „wie ein 20-Jähriger“.
Am Ende hilft womöglich nur: beten
In der ersten Wahlrunde schafften viele rechte Politiker den Einzug in das Parlament. Bolsonaros Partei wird die stärkste Fraktion stellen. Das heißt: Lula wird hart um Mehrheiten kämpfen müssen. Er ist sich der Kräfteverhältnisse bewusst und bewegt sich politisch nun deutlich gen Mitte. Zuletzt erklärte er gar, gegen Abtreibungen zu sein und polemisierte gegen Unisex-Toiletten.
Allzu scharfe Kritik von linker Seite bekam er im Wahlkampf aber nicht zu hören. Es gehe jetzt erst einmal darum, Bolsonaro zu schlagen, sagen Lulas Parteikollegen. Wenn es einer richten könne – dann Lula!
Im Juli reiste Lula in seine alte Heimat im Bundesstaat Pernambuco. Er stattete seinem Geburtshaus in Caetés einen Besuch ab und trat danach bei einer klassischen Wahlkampfveranstaltung in Garanhuns auf. Tausende vor der Bühne, ein Meer aus Rot, auf T-Shirts und Fahnen, ungezählte in die Luft gereckte Fäuste. Lula nannte Bolsonaro einen Lügner und gab sich selbstbewusst, die Wahl zu gewinnen. Auch Rosângela da Silva wollte eigentlich seine Rede hören. Doch ihre Beine machten an jenem Tag schlapp. Ihr Traum sei es, Lula irgendwann einmal persönlich kennenzulernen. Sie ist optimistisch, dass er nun wieder Präsident wird. Und wenn nicht? Dann, sagt sie, helfe nur noch beten.
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