Polizeigewalt in Dessau: Sein Name war Rose
Ein Familienvater stirbt 1997 schwerverletzt, kurz nachdem er in einem Dessauer Polizeirevier war. Jetzt zeigen seine Angehörigen vier Polizisten an.
D ass es schlecht aussah, das hatte Michael N. sofort erkannt. „Ich hab gleich gesagt, Mensch, hoffentlich hat der keine inneren Verletzungen oder was.“ In der Nacht auf den 7. Dezember 1997 wird der Polizist N. zu einem Wohnblock in der Dessauer Innenstadt gerufen. Schwer verletzt liegt vor dem Haus ein Mann, nur einen Steinwurf entfernt von dem Revier, in dem N. Dienst tat. „Der war mir fast am Abnippeln, ich musste den ja am Leben halten.“
N. ist heute Pensionär. Er steht im engen Flur eines Mietshauses in Dessau, in blauem Camp-David-Sweatshirt und Jeans, drahtig, ein Ex-Kampfsportler, Motorradfahrer. Fast eine Stunde spricht er mit der taz und berichtet von dieser Nacht. „Es war schweinekalt, der hat geklappert wie ein Maikäfer.“
Als Michael N. 2013 das letzte Mal zu den Ereignissen jener Nacht vernommen wird, kann er sich wichtige Punkte „nicht mehr in seine Erinnerung zurückholen“, so notiert es der Staatsanwalt. Aber heute, an diesem Freitag im März, ist die Erinnerung wieder da. Er habe Verstärkung gerufen, sagt er. „Ich hab gleich gesagt, alles ran hier, was ranzuholen ist.“
Es dauert eine halbe Stunde, bis der Rettungswagen kommt. 28 Stunden später, um 9.25 Uhr am 8. Dezember, stirbt der Mann im Städtischen Klinikum Dessau an inneren Verletzungen, die kurz vor seinem Tod eine Querschnittslähmung verursachen, übersät mit tiefen Hautunterblutungen, zerquetschtem Hoden, Lungenabriss, von Schlägen auf den Kiefer waren Zähne ins Gesicht durchgestoßen, ein Lendenwirbel so zertrümmert, dass der Wirbelkanal offen liegt. Der Name des Toten war Hans-Jürgen Rose, ein Maschinenbauingenieur aus Wolfen nahe Dessau. Als er stirbt, ist er 36 Jahre alt, Vater dreier Kinder.
Einer von drei Toten auf diesem Polizeirevier
Vier Stunden bevor Michael N. ihn vor dem Wohnblock Wolfgangstraße 15 findet, war Rose von Polizisten in das nahe gelegene Dessauer Polizeirevier in der Wolfgangstraße 25 gebracht worden, wegen Trunkenheit am Steuer.
Rose ist einer von drei Menschen, die zwischen 1997 und 2005 sterben, nachdem oder während sie auf diesen Polizeirevier waren: 2002 wird der alkoholkranke Mario Bichtemann mit einem Schädelbasisbruch in der Ausnüchterungszelle 5 des Reviers gefunden. 2005 verbrennt der Sierra Leoner Oury Jalloh in derselben Zelle. Der wegen fahrlässiger Tötung Jallohs angeklagte und 2008 freigesprochene Polizeibeamte Hans-Ulrich M. ist auch in der Nacht im Revier im Dienst, in der Rose so schwer verletzt wird.
Roses Familie will die Sache nicht ruhen lassen. Am Donnerstag hat sie vier Polizeibeamte aus Dessau, Kollegen von Michael N., wegen Mordes an Rose angezeigt – beim Generalbundesanwalt in Karlsruhe.
Zwei Mal hat die Justiz die Ermittlungen in der Sache eingestellt, erst 2002, dann 2014. Es sei „nicht auszuschließen“, dass Unbekannte Rose totprügelten oder dass er ohne Fremdeinwirkung einfach aus dem Fenster fiel, heißt es dazu im letzten Einstellungsvermerk der Staatsanwaltschaft.
Doch jetzt wurden neue Fakten bekannt, die daran Zweifel aufkommen lassen: Offenbar manipulierte Einsatzprotokolle, Ermittlungsakten, die auf ein völlig anderes Geschehen hindeuten – und Zeugenaussagen.
Unmöglicher Geschehensablauf
Viele der neuen Erkenntnisse gehen auf die jahrelange Investigation einer Gruppe namens Recherche Zentrum zurück, die aus der Initiative Gedenken an Oury Jalloh hervorgegangen ist. Die mit privaten Spenden finanzierte Gruppe von Investigativjournalist*innen, Filmemacher*innen und Aktivist*innen hat sich der „Aufklärung von möglichen Polizeimorden“ verschrieben. Im Fall Rose hat sie viele der Vorgänge rekonstruiert – und die Anzeige mit der Familie gemeinsam gestellt.
„Wir hoffen, etwas Gerechtigkeit zu bekommen“, sagte Iris Rose am Donnerstag auf einer Pressekonferenz, bei der das Recherche Zentrum die Indizien präsentierte, die nun zur Anzeige gegen die Polizisten führten. Iris Rose ist mit ihrer Tochter gekommen. Fast 27 Jahre lebt die Familie damit, nicht zu wissen, wie ihr Ex-Mann und Vater starb. „All die Jahre wurden wir belogen“, sagte Iris Rose. „Aber die Täter haben ihr Leben noch und zeigen keine Reue.“
Unstrittig ist, dass der damals arbeitslose Maschinenbauingenieur Rose in jener Nacht mit einem befreundeten Paar in einer Dessauer Kneipe sitzt. Gegen 1 Uhr fährt er von dort betrunken mit dem Auto zur Zerbster Straße 39. Hier wohnt das Pärchen, bei dem der von seiner Frau getrennt lebende Rose damals untergekommen war. Beim Einparken rammt er ein Auto. Dessen Besitzer kommt auf die Straße, nimmt Rose den Schlüssel weg. Eine Passantin ruft die Polizei. Die Beamten Thomas B. und Manfred H. erscheinen, lassen Rose pusten. Sie stellen 1,98 Promille fest, nehmen ihn zur Blutabnahme mit auf das Polizeirevier. Bis 2:55 Uhr nimmt der hinzugerufene Polizeiarzt Andreas Blodau Rose Blut ab. So geht es aus den Ermittlungsakten hervor.
Doch was dem so genannten Lagefilm des Reviers – eine Art Logbuch, in dem die Geschehnisse einer Schicht eingetragen werden – zufolge dann geschehen sein soll, ist praktisch unmöglich.
Demnach soll Rose um 3.01 Uhr entlassen worden sein und dabei angedeutet haben, wieder fahren zu wollen. Der Polizist Thomas B. schickt zwei Streifenbeamte zur Zerbster Straße, wo noch Roses Auto steht. Die Beamten Udo H. und Mario N. wollen Rose bereits um 3.02 Uhr in seinem Auto fahrend sehen, obwohl es zu Fuß mindestens sieben Minuten dorthin dauert. Statt den Betrunkenen aufzuhalten, wollen sie zugeschaut haben, wie er in Schlangenlinien wegfährt. Sie seien ihm gefolgt, zwei Kilometer stadtauswärts. Um 3.08 Uhr wollen sie ihn am Wallwitzhafen an der Muldebrücke angehalten, ihm den Schlüssel weggenommen und ihn erneut aufs Revier gebracht haben.
Die erst später aufgetauchte Anzeige wegen dieser angeblichen zweiten Trunkenheitsfahrt soll um 3.10 Uhr geschrieben worden sein – nur zwei Minuten, nachdem Rose weit außerhalb der Stadt angehalten worden sein soll und nur neun Minuten nach der ersten Entlassung. Schon um 3.35 Uhr soll Rose dann das zweite Mal aus dem Polizeirevier entlassen worden sein.
Von Unbekannten überfallen?
Danach, so die These der Justiz, könnte Rose von Unbekannten überfallen worden sein. Oder er könnte sich Zugang zum Haus Wolfgangstraße 15 verschafft haben und dort aus dem Fenster gefallen oder gestoßen worden sein.
Um 5 Uhr meldet dann ein Anwohner, dass ein Mann vor seinem Haus liegt. Der Schichtleiter schickt Michael N.
Nun könnten die Uhrzeiten im Lagefilm des Polizeireviers einfach falsch eingetragen worden sein. Und die Beamten Udo H. und Mario N. könnten Rose an seiner zweiten Trunkenheitsfahrt in dieser Nacht nicht gehindert haben, obwohl sie das hätten tun müssen, warum auch immer.
Doch es gibt ein vom Recherche Zentrum in Auftrag gegebenes Gutachten des Londoner Forensikers John Richard Welch. Der arbeitete 38 Jahre in der Abteilung für Dokumentenforensik des kriminaltechnischen Labors der Metropolitan Police und ist heute als Sachverständiger tätig. Im Oktober 2023 hat Welch die Rose-Akte untersucht. Das Ergebnis: Alle Lagefilm-Einträge zu Rose, von 1.11 Uhr morgen bis 15 Uhr an jenem Tag, seien manipuliert. Die „Unkenntlichmachung einiger Einträge (…) ist offensichtlich“, so Welch. Es gebe „Hinweis auf andere Änderungen, die heimlich vorgenommen wurden“ (…). Mit Schreibmaschine sei auf „eingetrocknete weiße Korrekturflüssigkeit“ geschrieben worden.
Aber weshalb?
„Zahlreiche stumpfe Gewalteinwirkungen“
Um 3.20 Uhr – rund 25 Minuten nachdem Rose angeblich zum ersten Mal entlassen wurde – sieht der Polizeiarzt Andreas Blodau Rose noch einmal im Treppenhaus des Reviers, begleitet von Polizisten. Eine womöglich erfundene, zweite Trunkenheitsfahrt könnte dazu dienen, die Begegnung Blodaus mit Rose zu dieser Zeit zu erklären.
Als Rose am 8. Dezember in der Städtischen Klinik stirbt, reicht die Anästhesistin und Intensivmedizinerin Barbara Fiedler eine Anzeige zur Todesermittlung bei der Dessauer Kripo ein. Per Formular beantragt sie eine Autopsie. Das ist das Standardvorgehen, wenn ein Tod keine natürliche Ursache hat.
Die Polizeidirektion beauftragt die Hallenser Rechtsmedizinerin Uta Romanowski, zu klären, ob die Verletzungen auf „Verkehrsunfall?, Sturz aus der Höhe?, Misshandlung?, Kombination?“ zurückzuführen sind. Zudem soll Romanowski prüfen, ob die Verletzungen am Rücken mit einem Schlagstock entstanden sein können. Die Ermittler übergeben ihr drei verschiedene Schlagstock-Modelle – jene, die die Beamten auf dem Dessauer Revier im Einsatz hatten.
Romanowski kommt zu dem Schluss, dass die „zahlreichen stumpfen Gewalteinwirkungen“, die zu Roses Tod führten, „als Folge von Misshandlungen anzusehen sind“. Die parallelen Blutungen auf dem Rücken entstünden „typischerweise durch Stockschläge“. Einer der drei ihr übergebenen Polizei-Schlagstöcke weise die Breite der Blutungsstreifen von 2,5 Zentimetern auf und wäre „am ehesten (…) geeignet, diese Verletzungen zu verursachen“.
Am Schulterblatt, am Rücken, an der Innenseiten der Beine und am Hoden seien Verletzungen erkennbar, bei denen „am ehesten an Fußtritte zu denken ist“.
Eine „besonders schwere Gewalteinwirkung“ hingegen sei so intensiv, dass sie durch Schläge oder Tritte nicht zu erklären sei. Hier komme am ehesten ein Sturz aus der Höhe infrage. Aber: Das „Gesamtverletzungsmuster“, das Fehlen von Kopfverletzungen und bestimmten Abschürfungen, spreche dagegen, dass Rose so aus dem Fenster fiel, wie er aufgefunden wurde. Die Verletzungen wären am ehesten so zu erklären, dass er aus der Höhe auf einen „prominenten Gegenstand“ aufprallte. Doch die Gegebenheiten an der Hauswand von Roses Fundort, seien „mit Sicherheit als Verletzungsursache auszuschließen“. Wäre Rose dort heruntergefallen, dann sähe die Leiche anders aus, so schließen Romanowski und der Leiter der Gerichtsmedizin Halle.
„Nie eine Erklärung bekommen“
Ermittlerfotos von einer Treppe, die offenbar zum Speisesaal im Dessauer Polizeirevier führt, zeigen das Ende des Treppengeländers mit einem großen Knauf.
Mit der Presse will Romanowski heute nicht sprechen. Doch in einem aufgezeichneten Gespräch mit dem Recherche Zentrum, das die taz anhören konnte, sagt sie: „Die Befunde waren eigentlich so eindeutig, dass man da kein langes Überlegen mehr gebraucht hatte.“ Der Gedanke daran habe „uns nie so richtig losgelassen“ und sie „etliche Jahre beschäftigt.“ Die Mediziner hätten „eigentlich nie eine Erklärung bekommen, wer das verursacht hat“, so Romanowski. Sie habe sich gewünscht, „dass eines Tages jemand von der Staatsanwaltschaft oder von der Ermittlungsbehörde kommt und sagt: Also, Sie hatten recht, wir wissen jetzt, wie es gewesen ist, der und der hat in dieser Situation diese Verletzung verursacht, auf den Herrn Rose eingeschlagen, so hätte ich mir gewünscht, dass der Fall geklärt wird.“
Was also geschah, bevor Rose starb?
Rose galt als aufbrausend. Er soll die Angewohnheit gehabt haben, Menschen zu provozieren.
Laut Anzeige der Familie beim Generalbundesanwalt habe Rose das Revier nicht verlassen. Stattdessen sei womöglich ein Streit mit ihm eskaliert. Polizisten hätten Rose schwer misshandelt. Anschließend hätten sie ihn vor das Haus in der Wolfgangstraße gebracht, um den Verdacht auf Unbekannte zu lenken.
Speisesaal als „Aufenthaltsort des Rose“?
In der Rose-Akte finden sich seitenweise Fotos aus dem Gebäude des Polizeireviers. Die Todesermittler machten die Aufnahmen am 15. Dezember 1997. Ihre Bildmappe ist überschrieben mit „Räumlichkeiten Polizeirevier Dessau Aufenthaltsort des Rose“. Doch sie zeigen weder eine Gewahrsamszelle noch einen Vernehmungsraum. Stattdessen sind Steinsäulen im Speisesaal fotografiert, durchnummeriert, mit angelegten Maßstäben. Aus der Akte geht hervor, dass von diesen Säulen auch DNA-Abstriche genommen wurden. Es handelt sich um den Speisesaal für die Beamten, der über eine Treppe vom Rest des Reviers getrennt ist.
Warum wird dieser Raum als „Aufenthaltsort des Rose“ untersucht? Wurde Rose dorthin gebracht, an eine der Säulen gekettet und misshandelt?
Der pensionierte Polizist Michael N. sagt, dass es „Anfang der 1990er Jahre“ Usus gewesen sei, im Speisesaal Menschen anzuketten, weil es damals „zu viele Gefangene“ gegeben habe. „Irgendwie müssen wir die ja fixieren“. Später sei das aber nicht mehr so gehandhabt worden.
Eine weitere Ungereimtheit sind die Anzeigen gegen Rose. Als Ermittler Roses Tod untersuchen, liegen diese nicht vor. Erst später werden sie der Akte beigefügt.
Die erste – wegen des Verkehrsunfalls und Fahren unter Alkoholeinfluss – soll von dem Polizeibeamten Thomas B. um 2.51 Uhr am Computer erstellt worden sein. Aber: Die Computer-Logdaten des Reviers für jenen Tag sind offenbar nicht auffindbar. Stattdessen legt ein Polizeihauptkommissar Abel, der EDV-Beauftragte des Reviers, den Todesermittlern eine offensichtlich handgeschriebene Excel-Tabelle mit den Logdaten der Diensthabenden vor. Sie soll belegen, dass Thomas B. tatsächlich zu jener Zeit am Rechner saß. Doch während bei allen anderen Einträgen der Tabelle das korrekte fragliche Datum 7. Dezember steht, steht in der Zeile von Thomas B. der 6. Dezember. Die Ermittler fragen den EDV-Beauftragten Abel, wie das möglich sei. Dessen Antwort: ein „Computerfehler“. Den Ermittlern reicht die Auskunft, wie sie handschriftlich vermerken.
Herr P. will nichts mehr sagen
Die Ermittlungen leitete damals zuerst der Kriminalkommissar Uwe P. Er ermittelte zunächst gegen die eigenen Kollegen. Die Witwe Iris Rose sagt, dass Uwe P. ihr später in einem persönlichen Gespräch gesagt habe, die Polizei wisse, „wer diese Täter sind, aber sie könnten dagegen nichts machen“, so Iris Rose.
Uwe P. lebt heute als Pensionär in einem kleinen Dorf auf dem Land, nahe Dessau. Statt die Tür zu öffnen, stellt er sich hinter das Fenster im Hochparterre, stellt das Fenster auf Kipp und sagt nur sehr lang: „Ja?“ Eine Erklärung unterbricht er sofort und sagt, er werde zu der Sache „gar nichts mehr sagen“ und damit sei „doch alles gesagt“. Dann schließt er das Fenster. Man wüsste gern von ihm, was er Iris Rose sagte, warum er die Säulen im Speisesaal fotografieren ließ, was er zu den Manipulationen im Einsatzjournal sagt, zum Gutachten der Rechtsmedizin. Doch auf einen Brief mit Nachfragen und auf Nachrichten auf dem Anrufbeantworter reagiert er nicht.
Der wohl erste Hinweis auf mögliche Polizeigewalt stammt von dem Polizisten Michael N. Noch am Morgen des 7. Dezember gibt er zu Protokoll, in der vorigen Nacht etwas Merkwürdiges gehört zu haben. „Ich hatte da schon Informationen, die hatten den vorher schon“, sagt er heute dazu. Durch die Wand zum Pausenraum des Polizeireviers hätten sich Kollegen unterhalten. „Der wollte mir doch ein paar in die Fresse hauen, da hab ich ihm eine reingezogen“, so zitiert ein Staatsanwalt aus Michael N.s erster Vernehmung. Der taz bestätigt Michael N., an jenem Morgen aus dem Nebenraum sinngemäß einen solchen Satz gehört zu haben. „Den haben wir ordentlich verrollt“, sagt er, der Satz sei gefallen. Die Stimme habe er aber nicht erkannt.
Noch etwas ist auffällig: Als Michael N. in jener Nacht mit dem schwer verletzten Rose auf den Krankenwagen wartet, tauchen die beiden Beamten auf, die Rose wenige Stunden früher aufs Revier gebracht hatten: Thomas B. und Manfred H. Michael N. sagt später, sie wirkten „sichtlich nervös“. Er fragt die beiden, ob sie Rose kennen – sie verneinen. „Wir haben ihn nicht erkannt“, sagt Manfred H. auch später bei der Staatsanwaltschaft. Sie hätten lediglich eine Wolldecke bringen wollen, nachdem sie Michael N.s Funkspruch gehört hatten.
N. gibt auch das Erscheinen von B. und H. zu Protokoll. Etwa 14 Tage lang sei er danach mit Vernehmungen und Aussagen beschäftigt gewesen, erzählt Michael N. heute. Am Tag von Roses Tod sei er am Nachmittag, während er nach seiner Nachtschicht schlief, zur Vernehmung abgeholt worden. „Da sind die hier angedonnert und haben gesagt: ‚Micha, komm mal mit.‘“ Später seien ihm die Bilder der Leiche vorgelegt worden. „Die haben mich gefragt: 'Hast du den da verwichst?’“ Michael N., der Hinweise auf mögliches Fehlverhalten von Kollegen gibt, wird verdächtigt. Zwei der mit Rose befassten Polizisten werden nicht einmal befragt.
2002 wird die Akte geschlossen
Das Ermittlungsverfahren in Sachen Rose wird 2002 eingestellt.
Als das Landgericht Dessau fünf Jahre später den Tod Oury Jallohs verhandelt, bekommt der Jalloh-Anwalt Ulrich von Klinggräff ein anonymes Schreiben, das „offensichtlich aus Polizeikreisen stammte“, wie von Klinggräff heute der taz sagt. Es ist die Rede davon, dass im Fall Jalloh Beweismittel manipuliert wurden. Und: Zum ersten Mal wird in dem Brief ein möglicher Zusammenhang zwischen dem Tod von Oury Jalloh und dem Tod von Hans-Jürgen Rose hergestellt. Es seien auch da „Gewahrsamsakten manipuliert“ worden. „Bestimmte Beweismittel“ sollen „zurückgehalten worden sein und waren nie der Beweisakte beigefügt gewesen“.
Nach einer Pressemitteilung der Initiative Gedenken an Oury Jalloh Anfang 2013 leitet die Dessauer Staatsanwaltschaft ein neues Ermittlungsverfahren im Jalloh-Fall ein. Es steht der Verdacht im Raum, dass eine mögliche Tötung Jallohs dazu dienen sollte, neue Ermittlungen bei den früheren Todesfällen in dem Polizeirevier zu verhindern.
Der Dessauer Oberstaatsanwalt Christian Preissner, späterer Präses der evangelischen anhaltinischen Landessynode, vernimmt 2013 die vier Beamten, die in der Nacht mit Rose zu tun hatten. Thomas B. und Manfred H. werden zum ersten Mal überhaupt in der Sache angehört – 16 Jahre nach dem Tod. Doch Thomas B. kann sich an nichts erinnern, Udo H. sagt, er habe mit den Verletzungen nichts zu tun, Manfred H. und Mario N. schildern einen ruhigen Einsatz, ohne besondere Vorkommnisse. Keiner kann sich erinnern, dass der von Michael N. gehörte Satz gefallen ist. Und so stellt Preissner am 28. Februar 2014 die Ermittlungen ein: Es gebe „keinen Anfangsverdacht gegen eine beteiligte Person“.
Die Generalstaatsanwaltschaft Naumburg, die 2018 auch die Ermittlungen im Fall Jalloh schloss, erklärt auf Anfrage gegenüber der taz, die Rose-Akten im Rahmen des Jalloh-Verfahrens „einer Sichtung unterzogen“ zu haben. Dabei sei geprüft worden, „ob ein irgendgearteter Zusammenhang zwischen den einzelnen Sachverhalten bestehen könnte“. Das Ergebnis: Ein Zusammenhang zwischen Roses und Jallohs Tod sei „unter keinem Gesichtspunkt erkennbar“.
Eine Sache des Gewissens
Die taz hat die vier damals beteiligten Beamten ausfindig gemacht. Mario N. wohnt in einem unsanierten Plattenbau nahe der Dessauer Innenstadt. Er kocht mit seiner Frau, als er hört, worum es geht, will er nichts sagen. Thomas B. lebt und arbeitet in Magdeburg, die Tür seiner Plattenbauwohnung öffnet er nicht, bei Anrufen legt er sofort auf. Auch Manfred H. öffnet die Tür seiner Plattenbauwohnung nicht. Briefe lassen alle drei unbeantwortet. Udo H. ist nach Angaben seiner ehemaligen Lebensgefährtin vor Jahren mit einer anderen Frau in die Türkei ausgewandert.
Er glaube nicht, dass einer seiner Kollegen im Dienst derartig gewalttätig geworden sein könnte, sagt der pensionierte Polizist Michael N. „Von der Polizei macht so was keiner. Das traue ich keinem zu.“ Aber was geschehen sei, „ich weiß es ja nicht“, sagt er. Mit Rose „gab es ja auch Ärger in der Nacht, mit dummen Sprüchen. Aber würden Sie da wen beschuldigen, wenn Sie es nicht genau wissen?“ Wenn da etwas vorgefallen sei, „das müssen die Kollegen ja mit sich ausmachen, mit ihrem Gewissen“.
Iris Rose hofft darauf, dass sich nun Menschen melden, die in der Tatnacht auf dem Polizeirevier, vor dem Haus in der Wolfgangstraße oder in der Klinik etwas mitbekommen haben. „Auf Unterstützung der Polizei können wir nicht hoffen“, sagt sie. „Aber das Schlimmste wäre, wenn man es nicht versuchen würde. Damit wir Jürgen sagen können: Wir haben es versucht für dich.“
Haben Sie Informationen zu diesem oder anderen Vorfällen, über die Sie die taz informieren möchten? Melden Sie sich bei den Autoren oder über informant.taz.de.
Transparenzhinweis: Wir haben an einer Textstelle die Jahreszahl korrigiert, wann die Justiz die Ermittlungen im Fall Rose eingestellt hat. Außerdem haben wir den Text mit Zitaten von Iris Rose von der Pressekonferenz am 28. März aktualisiert. Die Redaktion.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Stockender Absatz von E-Autos
Woran liegt es?
Erfolg gegen Eigenbedarfskündigungen
Gericht ebnet neue Wege für Mieter, sich zu wehren
Wahlprogramm der FDP
Alles lässt sich ändern – außer der Schuldenbremse
Tod des Fahrradaktivisten Natenom
Öffentliche Verhandlung vor Gericht entfällt
Energiewende in Deutschland
Erneuerbare erreichen Rekord-Anteil
Migration auf dem Ärmelkanal
Effizienz mit Todesfolge