Politologe über Wagenknecht-Partei: „Junge spricht das BSW nicht an“
Ist das Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) eine Partei der Midlife-Crisis? Es erreicht zumindest bisher vor allem Menschen ab 45, so Politologe Kai Arzheimer.
taz: Herr Arzheimer, Sahra Wagenknecht und ihre Mitstreiter, mit denen sie ihre neue Partei gegründet hat, sind alle zwischen Mitte 40 und Ende 50. Ist das BSW eine Partei von Politikern in der Midlife-Crisis?
Kai Arzheimer: Das sind zu einem großen Teil Leute, die lange in der Linken aktiv waren, darunter viele Mitglieder der ehemaligen Bundestags-Fraktion. Dass die etwas älter sind, ist nicht überraschend – wirklich junge Menschen ziehen ja nicht so einfach in den Bundestag ein. Das erklärt die Altersverteilung.
Kai Arzheimer ist Politikwissenschaftler und Universitätsprofessor an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz.
Der Wunsch, im reiferen Alter noch einmal ganz neu anzufangen, ist ein typisches Symptom einer Midlife-Crisis. Spielt das keine Rolle?
Es stimmt, Wagenknecht ist schon lange in der Politik, seit den 1990er Jahren. Aber das ist die autobiografische Erklärung. Ich bevorzuge die strukturelle Erklärung: Ein Flügel in der Führungsebene der Linkspartei hatte eine andere Vorstellung davon, was die Partei sein sollte. Er konnte sich aber nicht durchsetzen und hat sich deshalb abgespalten.
Hat das neue Bündnis Sahra Wagenknecht eine Chance?
Inhaltlich füllt es eine Lücke. Bisher gab es kein Angebot für Leute, die eine stärkere sozial- und wirtschaftspolitische Umverteilung mit einem eher regressiven gesellschafts- und kulturpolitischen Kurs kombiniert sehen möchten. Diese Lücke füllt Sahra Wagenknecht – und im zweiten Anlauf ist sie jetzt organisatorisch deutlich besser vorbereitet als bei ihrer Sammlungsbewegung „Aufstehen“ vor fünf Jahren.
Welche Leute spricht das BSW an?
Das sind vor allem Leute aus der unteren Mittelschicht, klassische Facharbeiter und alle, die sich eine traditionelle sozialdemokratische Politik wünschen – also mehr Staat, höhere Steuern und bessere Sozialleistungen – und zugleich eine Gesellschaftspolitik ablehnen, die sich in ihren Augen zu sehr um Minderheiten, Kultur und Zuwanderung dreht. Gegen das BSW spricht, dass diese Leute vermutlich schon die AfD wählen.
Was unterscheidet BSW und AfD?
Ein Unterschied ist der Stil. Die AfD ist über die Jahre hinweg immer aggressiver geworden.
Sahra Wagenknecht spricht von der „irren Ampel“ und der „dümmsten Regierung Europas“ … ist das nicht aggressiv?
Das ist der klassische Populismus, der sagt: Die Eliten haben versagt und handeln nicht im Sinne des Volkes. Aber die AfD hat sich beim Thema Migration stark radikalisiert. Davon ist das Bündnis Sahra Wagenknecht momentan weit entfernt. Im BSW-Programm kommt das Thema erst ganz am Schluss vor und ist so formuliert, wie man es auch in der CDU oder in Teilen der SPD finden könnte. Interessant sind in diesem Zusammenhang jüngste Äußerungen, wonach man sich vorstellen kann, im Bundestag auch mal mit der AfD zu stimmen, wenn es inhaltlich passt. Das ist bisher eine symbolische Aussage. Aber es zeigt, dass man nichts ausschließt und sich nicht an der Brandmauer beteiligt.
Wo gibt es Schnittmengen zwischen der AfD und dem BSW?
Bei der militärischen Unterstützung der Ukraine und beim Klimaschutz: Die Dekarbonisierung geht zu weit, sagt sie. Wir müssen die traditionellen deutschen Industrien, vor allem die Autoindustrie unterstützen.
Auf dem Parteitag in Berlin war das Publikum älter, der 80-jährige Oskar Lafontaine war dort der Star. Spricht das Bündnis Sahra Wagenknecht vor allem Ältere an?
Es spricht Menschen an, die sich seit Gerhard Schröder von der Politik entfremdet haben und der Meinung sind, das hätte nicht passieren dürfen. Von der Gesamtbevölkerung her betrachtet ist das eine kleine Gruppe, damit gewinnt man keine Wahlen. Deshalb zielt das BSW auf die Mitte der Gesellschaft. Es erreicht bisher vor allem Menschen ab 45.
Im Wahlkampf will Wagenknecht auf das Thema Rente setzen. Ist das eine gute Idee?
Idealerweise sollte sie auch jüngere Menschen ansprechen. Aber das könnte schwierig werden, denn die interessieren sich zum Teil ja gerade für die gesellschaftspolitischen Themen, die das BSW ablehnt. Ob das BSW jüngere Menschen begeistern kann, hängt vermutlich von deren sozialen Lage ab. Aber wenn es ihm gelingt, sich zu etablieren, werden sie es mit Sicherheit auch schaffen, Jüngere als Wähler zu gewinnen – möglicherweise Menschen mit einfacheren Bildungsabschlüssen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Scholz und Pistorius
Journalismus oder Pferdewette?
Krieg in der Ukraine
Kein Frieden mit Putin
Krieg in der Ukraine
Geschenk mit Eskalation
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Weil sie weiblich sind