Politik und Coronavirus: Verschobene Verantwortung
In der Corona-Krise müssen Politiker auch zu unbequemen Entscheidungen stehen. Alles andere wäre fatal.

I m Horrorroman „The Stand“ von Stephen King rafft eine gefährliche Virusmutation nahezu die gesamte US-Bevölkerung dahin. Das Militär versucht mit gewaltsamen Mitteln das Virus einzudämmen und setzt auf einen totalitären Staat. Am Ende überleben nur ein paar Tausend Menschen, die sich gegenseitig nachstellen. Kings Buch ist in diesen Tagen wahrscheinlich nicht die erbaulichste Lektüre, erst recht nicht für Quarantäne. Die Horrorvision lotet das Ende der Angstskala aus und zeigt, wie eine Zivilisation im Zeichen eines Virus kollabiert.
Die deutsche Realität im Zeichen von Corona ist natürlich eine ganz andere und kein Horror. Die Apokalypse steht nicht bevor, die Republik setzt den beruhigenden Gegenpol zu Kings Angstszenario. Allerdings ist dabei fraglich, ob die Politiker*innen die Coronakrise wirklich ernst genug nehmen. Es herrscht das gepflegte Sowohl-als-auch vor: Das Virus muss eingedämmt werden, aber wir müssen auch besonnen bleiben, heißt es. Schulschließungen werden jetzt häufig mit dem Argument abgelehnt, dass dann die Eltern ihre Kinder betreuen müssten – und damit, so der Subtext, als Arbeitskräfte zum Erhalt des deutschen Wohlstands ausfallen. In Niedersachsen lobt der Kultusminister die Schulleitungen für ihre Besonnenheit, in Berlin sagt der Regierende Bürgermeister tapfer, dass das öffentliche Leben ja weitergehen müsse. Veranstalter von Großveranstaltungen „ermuntert“ Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) zu Absagen. Unverbindlicher geht es nicht. Immerhin haben NRW, Bremen und Bayern die zarte Empfehlung aus Berlin jetzt umgesetzt.
Regierende Politiker*innen agieren in der Coronakrise so, wie sie es auch in normalen Zeiten tun: Sie wollen es allen recht machen und keiner großen Interessengruppe – den eigenen Wähler*innen, der Wirtschaft – wehtun. Es überwiegt die kommode bundesdeutsche Konsenspolitik. Und wenn das nicht klappt, wird Verantwortung hin und her geschoben, denn das klappt praktischerweise gut im Föderalismus: Der Bund verweist auf die Länder oder, wie der Kultusminister in Hannover, auf das „örtlich zuständige Gesundheitsamt“; Länder und Kommunen zeigen mit dem Finger zurück.
Corona wird zeigen, ob die Politiker*innen Krise können. Dazu gehört, Verantwortung zu übernehmen – etwas, was sie als Floskel gemeint häufig sagen –, zu unbequemen Entscheidungen zu stehen und einer einzelnen Interessengruppe auch mal auf die Füße zu treten. Damit macht man sich zunächst nicht bei allen beliebt – aber Halbherzigkeit und Inkonsequenz werden auf lange Sicht fataler sein.
40.000 mal Danke!
40.000 Menschen beteiligen sich bei taz zahl ich – weil unabhängiger, kritischer Journalismus in diesen Zeiten gebraucht wird. Weil es die taz braucht. Dafür möchten wir uns herzlich bedanken! Ihre Solidarität sorgt dafür, dass taz.de für alle frei zugänglich bleibt. Denn wir verstehen Journalismus nicht nur als Ware, sondern als öffentliches Gut. Was uns besonders macht? Sie, unsere Leser*innen. Sie wissen: Zahlen muss niemand, aber guter Journalismus hat seinen Preis. Und immer mehr machen mit und entscheiden sich für eine freiwillige Unterstützung der taz! Dieser Schub trägt uns gemeinsam in die Zukunft. Wir suchen auch weiterhin Unterstützung: suchen wir auch weiterhin Ihre Unterstützung. Setzen auch Sie jetzt ein Zeichen für kritischen Journalismus – schon mit 5 Euro im Monat! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Werben um Wechselwähler*innen
Grüne entdecken Gefahr von Links
Wahlverhalten junger Menschen
Misstrauensvotum gegen die Alten
Polarisierung im Wahlkampf
„Gut“ und „böse“ sind frei erfunden
Donald Trump zu Ukraine
Trump bezeichnet Selenskyj als Diktator
Kanzler Olaf Scholz über Bundestagswahl
„Es darf keine Mehrheit von Union und AfD geben“
Berlinale-Rückblick
Verleugnung der Gegenwart