Polarisierende Rede im Bundestag: Merkel legt den Schalter um
Die Kanzlerin greift den SPD-Kandidaten Olaf Scholz unerwartet heftig an. Der liefert sich anschließend einen Schlagabtausch mit Laschet und Baerbock.
Dann aber, sie ist bei der Pandemie und beim Impfen angekommen, wechselt sie plötzlich den Ton. „Niemand ist bei der Impfung ein Versuchskaninchen, weder Olaf Scholz noch ich“, sagt Merkel ungewohnt scharf. Und dass zur Vergrößerung der Impfbereitschaft doch eher „Argumente statt schiefer Bilder“ helfen würden.
Das ist ein Angriff auf den Kanzlerkandidaten der SPD, Olaf Scholz, ihren Finanzminister, mit dem sie jahrelang gut zusammengearbeitet hat – und den sie eigentlich schätzt. Doch Merkel, die sich zuletzt fast präsidial gegeben und wenig Interesse am Schicksal ihrer Partei gezeigt hatte, hat in den Wahlkampfmodus geschaltet.
Scholz hatte in einer Rede das Bild vom Versuchskaninchen verwendet, allerdings mit klar ironischem Unterton. Letzteres hatte die Bild-Zeitung gekonnt ignoriert und daraus eine Schlagzeile gemacht. Dass Merkel darauf einsteigt, ist höchst ungewöhnlich.
Rote-Socken-Gerede von der Kanzlerin
Doch damit nicht genug. Es sei nicht egal, wer dieses Land regiere, sagt die Kanzlerin dann. Die Bundestagswahl in knapp drei Wochen sei eine besondere Wahl, „weil es in schwierigsten Zeiten eine Richtungsentscheidung für unser Land ist“. Die Bürgerinnen und Bürger hätten die Wahl zwischen zwei Optionen: einer Regierung von SPD und Grünen, „die die Unterstützung der Linkspartei in Kauf nimmt, zumindest sie nicht ausschließt“.
Oder einer von CDU und CSU geführten Regierung mit Armin Laschet an der Spitze – dem „besten Weg für unser Land“. Denn eine solche Regierung werde für Stabilität, Verlässlichkeit, Maß und Mitte sorgen. „Das ist genau das, was Deutschland braucht.“
„Schämen Sie sich!“, schallt es von den Linken zu Merkel herüber, auch in den anderen Fraktionen jenseits der Union wird es unruhig. Rote-Socken-Gerede? Von der Kanzlerin? Das ist keine Rede, die man von Merkel im Bundestag erwartet hätte. Es scheint, als sei sie kurzfristig zurück in die Rolle der Parteichefin oder gar der Generalsekretärin geschlüpft, die sie in den späten 90er Jahren einmal war.
Merkel selbst reagiert gelassen auf den Protest. Man sei hier in der „Herzkammer der Demokratie“, wo denn sollten diese wichtigen Fragen diskutiert werden? Von der Unionsfraktion bekommt sie Applaus im Stehen.
Scholz gibt sich staatsmännisch
Die Kanzlerin hat sich, nach langem Zögern, offensichtlich entschlossen, jetzt doch mit aller Kraft in den Wahlkampf einzusteigen. Das zeigt, wie verzweifelt die Lage der Union inzwischen ist. In einer Umfrage, die Forsa zeitgleich mit der Debatte veröffentlicht, ist sie erstmals unter die 20-Prozent-Marke gerutscht. „Dies dürfte der niedrigste Wert sein, den jemals ein Institut seit 1949 für die Union ermittelt hat“, erklärt dazu das Umfrageinstitut. Der Trend der SPD dagegen geht weiter bergauf: Sie liegt jetzt bei 25 Prozent.
Auch die Debatte, die auf Merkels Rede folgt, hat es in sich. Sie ist scharf und pointiert und vor allem: sie ist inhaltlich. Wer sie verfolgt, weiß danach im Kern, dass es bei der Wahl tatsächlich um sehr verschiedene Konzepte geht.
Scholz gibt sich staatsmännisch. Er dankt der „Frau Bundeskanzlerin“ für die gute Zusammenarbeit, kontert dann aber deren Angriff. Auch mit Witzen müsse man die Bevölkerung vom Impfen überzeugen, wenn einige nicht lachen könnten, liege das möglicherweise auch an den Umfragewerten.
Scholz spricht über Respekt, über die Wirtschaft und auch kurz übers Klima, vor allem aber arbeitet er das Thema soziale Gerechtigkeit als Kernthema der SPD heraus. Er verspricht einen Mindestlohn von 12 Euro, keinen Anstieg beim Renteneintrittsalter, eine Kindergrundsicherung und 400.000 neue Wohnungen pro Jahr.
Weidel fabuliert vom „Hippiestaat“ Deutschland
Annalena Baerbock, die grüne Kanzlerkandidatin, macht es genau andersherum. Auch sie spricht über soziale Fragen und Außenpolitik, aber bei ihr steht das Klima im Zentrum. Die Bundesregierung habe es „vermasselt“, den Weg der Klimaneutralität einzuschlagen, sagt sie und wirft Union und SPD vor, weiter am Kohleausstieg bis 2038 festzuhalten. Baerbock teilt gleichermaßen gegen Union und SPD aus und scheint dabei wieder zu sich selbst gefunden zu haben. So angespannt wie noch vor einigen Wochen wirkt Baerbock längst nicht mehr.
Laschet dagegen hat es schwer. Er kann die Leistung der Bundesregierung nicht angreifen, doch dass ein „Weiter so“ nicht reicht, weiß er auch. Das führt dazu, dass er manchmal wie ein Oppositionspolitiker klingt, der mehr an den anderen kritisiert als eigene Konzepte vorträgt. Seine wichtigsten Punkte: Klimapolitik müsse wirtschaftskompatibel betrieben werden und man dürfe Unternehmern in der Krise nicht Geld entziehen, im Gegenteil: Man müsse die Wirtschaft entfesseln.
Deutschland, so Laschet, werde „nicht Industrieland bleiben, wenn man mit den Rezepten agiert, die Rot-Grün hier vorgetragen hat“. Stark ist Laschet dann, wenn er den Grünen deren eigene Versäumnisse vorwirft – beispielsweise in elf Landesregierungen. Und natürlich darf auch die Forderung nach einer Abgrenzung zur Linkspartei nicht fehlen: „Man kann nicht mit der Raute durch die Gegend laufen und reden wie Saskia Esken.“
Christian Lindner, Spitzenmann der FDP, der „erwirtschaften statt verteilen“ will, sagt Richtung Scholz: Es könne passieren, dass man die Wahl gewinne „und trotzdem keine Koalition hat“. Das kann man als Absage in Richtung Ampel deuten, muss aber wohl eher taktisch verstanden werden. Ein zweites Mal kann sich Lindner die Chance zum Regieren kaum entgehen lassen kann.
Dietmar Bartsch, der gemeinsam mit Janine Wissler Spitzenkandidat der Linken ist, spricht von „politischer Verantwortungslosigkeit“ und formuliert damit die schärfste Kritik an der Bundesregierung. Er sagt, dass seine Partei „Politik für Millionen statt für Millionäre“ mache, und ruft am Ende in Richtung Scholz: „Es ist besser, gut mit der Linken zu regieren, als falsch mit Lindner zu regieren.“ Das soll wohl als Angebot verstanden werden.
Und die AfD? Die kritisiert erwartungsgemäß so ziemlich alles an der Bundesregierung, besonders die Asylpolitik. Und dann ruft Spitzenkandidatin Alice Weidel wegen der Klimaziele noch die Bundesrepublik als „Hippiestaat“ aus. Von Love und Peace aber ist in diesen Minuten so gar nichts zu spüren.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Hoffnung und Klimakrise
Was wir meinen, wenn wir Hoffnung sagen
Abschiebung erstmal verhindert
Pflegeheim muss doch nicht schließen
Rechte Gewalt in Görlitz
Mutmaßliche Neonazis greifen linke Aktivist*innen an
Künstler Mike Spike Froidl über Punk
„Das Ziellose, das ist doch Punk“
+++ Nachrichten im Ukraine-Krieg +++
Slowakischer Regierungschef bei Putin im Kreml
Negativity Bias im Journalismus
Ist es wirklich so schlimm?