Pflegekräfte in der Coronakrise: Ich habe diesen Job geliebt
Die Pandemie offenbart die Schwierigkeiten des Pflegesystems mehr denn je. Unser Autor schreibt, warum er nicht mehr als Pfleger arbeiten kann.
Bis vor Kurzem war ich Pfleger in einer Wohngruppe für Menschen mit sogenannter geistiger Behinderung. Der Abschied war schon lange geplant, nach sieben Jahren am gleichen Arbeitsplatz war es mal Zeit für einen Wechsel. Dann aber kam Corona. Also dachte ich, ich würde noch eine Weile länger dort bleiben, bis das Gröbste überstanden wäre. Passiert ist dann das Gegenteil: Ich bin noch schneller gegangen als gedacht.
Die Coronakrise hat Schwächen und Schwierigkeiten des Systems noch stärker hervortreten lassen. Ich habe die letzten Wochen und Monate mit vielen Kolleg’innen gesprochen, auch aus ganz anderen Bereichen. Es sind einige, die laufen auf der letzten Rille. Der Rest beißt sich durch. Es gibt fast niemanden, den das ganze unangetastet lässt.
Verifizierte Daten gibt es dazu meines Wissens nur in einzelnen Bereichen. Von den Intensivkrankenpfleger’innen planen laut einer Umfrage des Deutschen Ärzteblattes 37 Prozent den Ausstieg in den kommenden fünf Jahren, 33 weitere Prozent wollen ihre Arbeitszeit verkürzen. Und das war 2019, noch vor der Pandemie. Laut des Gesundheitsexperten Prof. Dr. Michael Simon fehlen aktuell 100.000 Pflege-Vollzeitstellen, und das sind nur die Krankenhäuser.
Für mich war ein Punkt ausschlaggebend, früher die Reißleine zu ziehen: das Versagen des mittleren Managements. Es gibt hier drei Ebenen, und alle drei waren in Folge eines Umbruchs erst seit Monaten auf ihrem Posten. Erstens die Gruppenleitung, sozusagen die Chefin des Teams, eine junge Frau, die ganz frisch auf dem Posten war, ihr erster Job.
Die Frage des Infektionsschutzes
Eine gute Wahl für frischen Wind und neue Ideen, aber suboptimal im Falle einer akuten Krisensituation. Eins drüber die Hausleitung, ein arroganter mittelalter Mann, der bisher dadurch aufgefallen war, dass er bei seinen sporadischen Besuchen bei den Gruppen keine’n der Bewohner’innen je grüßte, immer nur die Mitarbeiter’innen (auch da nicht alle). Und die Bereichsleitung, ganz oben sozusagen, eine Frau Ende 50, sehr engagiert und kommunikativ, allerdings auch permanent überschätzend, wie gut sie die einzelnen Bewohner’innen kannte.
Bereits Anfang März hatte ich eine Mail an die Bereichsleitung geschrieben mit Vorschlägen, wie die Infektionswahrscheinlichkeit einzudämmen sei. Das war recht simpel: Maskenpflicht im Dienst; wenn möglich Einzeldienste in den Gruppen; keine Leasingkräfte mehr, die heute in der einen und morgen in der nächsten Einrichtung eingesetzt werden, und künftige Besprechungen per Telefon abhalten. Die Leitung rief sofort zurück, bedankte sich und sagte, man sehe, was man umsetzen könne.
Umgesetzt wurde: nichts. Die Tagesbeschäftigungsangebote wurden geschlossen und die Bewohner’innen eingesperrt, der Hausleiter schrieb in einer ersten Rundmail, diese Pandemie sei kein Grund, krank zu machen. Selbst Leasingkräfte wurden bis Anfang April eingesetzt, auch wenn sie nicht dringend benötigt wurden. Begründung: Schließlich seien sie ja schon gebucht. Bei Absage müsse man sie also trotzdem bezahlen. Das sei schlicht unwirtschaftlich.
Ende März wurde eine Bewohnerin ins Krankenhaus eingeliefert, unklare Symptomatik. Sie hatte plötzlich das Bewusstsein verloren und seltsame Blasen den kompletten Arm entlang. Nach zwei Tagen wurde sie entlassen, einziger neuer Befund: eine beginnende Wirbelsäulenverkrümmung. Man hatte Bilder von der Lunge gemacht und da war das zufälligerweise mit aufgefallen. Ansonsten stand da nur „Synkope“, das ist ein Codewort und bedeutet: Wir wissen es nicht, keine Ahnung.
Zu dem Zeitpunkt war schon klar, dass Covid-19 bei Patient’innen mit schweren Grunderkrankungen völlig undefinierte Verläufe hat. Ich hatte das jedenfalls in diversen Veröffentlichungen gelesen. Die Kolleg’innen waren darüber nicht von der Leitung informiert worden. Es war zu dem Zeitpunkt auch klar, dass das örtliche Krankenhaus ein Coronahotspot war, weswegen ich beschloss, die Bewohner’in zunächst einmal zu isolieren. Weisungsgemäß informierte ich die Bereichsleitung.
Drei Tage später rief mich der Hausleiter an und lud mich zu einem Gespräch ein. Ich fragte mehrfach, welchen Zweck dieses Gespräch denn haben solle, und jedes Mal sagte er mir: Es sei nur ein informeller Austausch, es gäbe auch keinen konkreten Anlass. Der Typ war neu auf dem Posten, also dachte ich mir, vielleicht will er einfach wissen, wie es gerade läuft in den Gruppen. Wie es uns so geht.
Ja, war dann aber anders. Ich kam in einen Raum, in dem Haus- und Gruppenleitung saßen und mich beäugten. Die erste Frage: Was mir eigentlich einfiele, eigenmächtig eine Bewohnerin zu isolieren. Ich habe die Bereichsleitung informiert, antwortete ich, woraufhin der Typ antwortete: Aber nicht mich! Ich solle es außerdem unterlassen, den Kolleg’innen zu erklären, wie sie mit ihren FFP2-Masken umzugehen hätten (eine Kollegin hatte ihre bei 60 Grad waschen wollen, ich hatte dringend abgeraten, weil das die Schutzwirkung zerstört).
Ich fragte, ob das ein Personalgespräch sein solle. Nein, sagte er. Ich fragte, warum die Einrichtung keine verständliche Anleitung für FFP2-Masken ausgeben würde. Die käme dann bei Bedarf, sagte er. Ich fragte, ob er keinen Bedarf erkenne, wenn Mitarbeitende ihre Masken bei 60 Grad waschen wollen würden. Da müsse er sich erst mal informieren, sagte er. Es stünde alles auf den Seiten des RKI, sagte ich, und er antwortete: Wir setzen die Vorgaben des RKI allesamt um.
Die Pflegekraft trägt das Risiko
Ob ich noch Fragen hätte, wurde ich gefragt, und in der Tat hatte ich einige: Warum keine allgemeine Maskenpflicht gelte, obwohl das RKI eine solche empfehle, er antwortete: Das ist nur eine Empfehlung des RKI, keine Vorgabe. Das RKI empfehle Einzeldienste, wie es darum stehe, er lächelte maliziös und sagte: Eine schöne Idee, aber das Arbeitsrecht! Man könne doch nicht die gesamte Belegschaft ins Minus planen.
Am besten war folgender Dialogausschnitt: Hausleitung: Ich treffe hier die Entscheidungen. Ich: Und ich trage das Risiko? Hausleitung: Ja.
Am Ende fragte ich, warum eigentlich noch immer Dienstbesprechungen vor Ort stattfänden, obwohl es dafür keine Notwendigkeit gäbe, ja sogar die Geschäftsleitung des ganzen Unternehmens davon abrate. Da meldete sich zum ersten Mal die Gruppenleitung zu Wort: Wir seien ja schließlich im sozialen Bereich, da sei es wichtig, dass man sich in die Augen sähe. Und wenn Covid-19 hier ankäme, kriegten wir das doch sowieso alle, also was soll’s.
Danach ging ich zum Dienst. Eine halbe Stunde später betrat die Gruppenleitung die Gruppe, ohne Maske, ohne zu klingeln. Ich sollte ein Papier unterschreiben, dass ich haftbar sei, wenn ich die Isolation nicht fachgerecht eingeleitet hätte – zivil- und strafrechtlich. Ich sei Nichtfachkraft, antwortete ich. In einem normalen Betrieb hätte ich da beschlossen, zum Betriebsrat zu gehen und Rabatz zu machen. Es ist aber eine kirchliche Einrichtung, es gibt keinen Betriebsrat (nur eine zahnlose Mitarbeitervertretung).
Nicht tragisch, paradigmatisch
Also war das der Moment, in dem ich beschloss, nicht mehr zu kommen. Ich ließ mich krankschreiben. Dann Aufhebungsvertrag. Seither war ich einmal kurz da, um mich zu verabschieden. Für mich ist das dramatisch: Ich habe diesen Job geliebt, und ich träume noch jetzt von den Bewohner’innen.
Gleichzeitig beherrschen draußen irgendwelche Demonstrant’innen mit ihren gefährlichen Agenden die Schlagzeilen, während von uns Pflegenden erwartet wird, dass wir unseren Job machen und die Fresse halten. Und noch schlimmer: die Bewohner’innen abschirmen und sie von der Gesellschaft isolieren. Diese Geschichte ist nicht tragisch, sie ist paradigmatisch. Und keine Ausnahme. Betreuer’innen und Pflegende müssen anfangen, ihre Geschichten zu erzählen.
Der Applaus, der von den Balkonen auf uns herunterregnete während dieser Zeit, hat vor allem Haus- und Gruppenleitung gefreut; mir kam er vor wie blanker Hohn. Wir sollten ertragen und schweigen, wir Held’innen des Hilfesystems. Held’innen sind immer stumm. Nein, einfach. Nein.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
BSW in Koalitionen
Bald an der Macht – aber mit Risiko
Dieter Bohlen als CDU-Berater
Cheri, Cheri Friedrich
Hybride Kriegsführung
Angriff auf die Lebensadern
Kinderbetreuung in der DDR
„Alle haben funktioniert“
Selbstzerstörung der FDP
Die Luft wird jetzt auch für Lindner dünn
Stellungnahme im Bundestag vorgelegt
Rechtsexperten stützen AfD-Verbotsantrag