piwik no script img

Pflegegrad 1 soll abgeschafft werdenDann müssen (wieder) die Frauen ran

Simone Schmollack

Kommentar von

Simone Schmollack

Die Bundesregierung erwägt, den Pflegegrad 1 abzuschaffen. Damit will sie Kosten sparen. Es könnte am Ende aber teuer werden.

Berlin 1966: Frauen haben schon immer gern geholfen – auch unentgeltlich Foto: Jürgen Wagner/picture alliance

F rau G. ist 86 Jahre alt, lebt in Berlin in einer kleinen Wohnung im 2. Stock und hat ihr Leben noch weitgehend im Griff. Sie hat keine Angehörigen, die ab und zu mal nach ihr schauen, für sie einkaufen, Wege erledigen, die sie selbst nicht mehr bewältigt. Aber Frau G. hat Pflegegrad 1, eingestuft nach den Regeln der Pflegeversicherung. Das heißt, sie bekommt Geld aus der Pflegeversicherung, 131 Euro im Monat. Davon leistet sie sich „Hilfen im Haushalt“: Mal kauft jemand für sie ein, mal putzt jemand ihre Fenster, jemand anderes besorgt Medikamente aus der Apotheke. Alles auf Rechnung und mit Kassenzettel.

Frau G. ist eine von knapp 864.000 Menschen in Deutschland, die mit Pflegegrad 1 ein zwar eingeschränktes, aber doch freies Leben in ihren eigenen vier Wänden führen können. Die Hilfe, die sie benötigen, können sie sich „kaufen“ – bei ambulanten Pflege- und anderen Serviceeinrichtungen, Haushaltshilfen. In den meisten Fällen aber sind es Angehörige, die für die Mutter, den Großvater, den Ehemann zu Hause da sind. Fast immer sind es Frauen, die die private Pflege „nebenbei“ leisten.

Fällt diese kleine Finanzspritze weg, wie die Bundesregierung das plant, wird es sowohl für Frau G. als auch für die Pflegenden schwierig. Bleiben wir bei Frau G. Wer kauft für sie ein? Wer ist da, wenn sie schwächer wird? Mit großer Wahrscheinlichkeit müsste Frau G. in ein Pflegeheim umziehen. Das ist ungünstig für ihren Gemütszustand und am Ende teuer – für Frau G. und den Staat. Ein Heimplatz kostet, gestaffelt nach Pflegegrad der Bewohner:innen, Lage und Ausstattung, ein Vielfaches mehr, als die Ausgaben für Pflegegrad 1 ausmachen – zwischen 800 und 2.100 Euro monatlich, getragen von den Pflegekassen.

Das Logo der taz: Weißer Schriftzung t a z und weiße Tatze auf rotem Grund.
taz debatte

Die taz ist eine unabhängige, linke und meinungsstarke Tageszeitung. In unseren Kommentaren, Essays und Debattentexten streiten wir seit der Gründung der taz im Jahr 1979. Oft können und wollen wir uns nicht auf eine Meinung einigen. Deshalb finden sich hier teils komplett gegenläufige Positionen – allesamt Teil des sehr breiten, linken Meinungsspektrums.

Damit sind die Heimkosten noch nicht gedeckt, in vielen Fällen müssen die Be­woh­ne­r:in­nen privat zuzahlen, das können schon mal bis zu 3.000 Euro sein. Wer kein Vermögen und/oder nur eine geringe Rente hat, dem hilft das Sozialamt, also der Staat.

Trotzdem erwägt die Bundesregierung, den Pflegegrad 1 zu streichen. Dadurch ließen sich rund 1,8 Milliarden Euro jedes Jahr sparen. Sparen ist tatsächlich nötig, die Kosten für die Pflegeversicherung betragen derzeit 68,2 Milliarden Euro, in Kürze droht ein Finanzloch von 3,5 Milliarden Euro. Gleichwohl weiß niemand, wie die Pflegekosten explodieren, müssten Betroffene wie Frau G. Hilfe in größerem Umfang in Anspruch nehmen.

Gleichzeitig klagt der Staat über zu wenige Frauen auf dem Arbeitsmarkt

An dieser Stelle sind wir bei den pflegenden Angehörigen. Fällt der Pflegegrad 1 weg, wird die Pflege mit großer Wahrscheinlichkeit vor allem von ihnen, konkret von den Frauen übernommen. Denn gibt es keine professionelle Einkaufshilfe mehr, muss das durch Familie oder Bekannte geleistet werden. Auf diese Weise privatisiert der Staat die Pflege und fällt zurück in eine Zeit, in der in erster Linie Frauen für die Familie da waren. Gleichzeitig klagt er über zu wenige Frauen auf dem Arbeitsmarkt, die zudem zu oft Teilzeitstellen haben. Sollte die Bundesregierung ihren Plan durchziehen, dürfte sich dieses Gefälle verstetigen. Das ist kontraproduktiv – für alle Seiten.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 50.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Simone Schmollack
Ressortleiterin Meinung
Ressortleiterin Meinung. Zuvor Ressortleiterin taz.de / Regie, Gender-Redakteurin der taz und stellvertretende Ressortleiterin taz-Inland. Dazwischen Chefredakteurin der Wochenzeitung "Der Freitag". Amtierende Vize-DDR-Meisterin im Rennrodeln der Sportjournalist:innen. Autorin zahlreicher Bücher, zuletzt: "Und er wird es wieder tun" über Partnerschaftsgewalt.
Mehr zum Thema

9 Kommentare

 / 
  • "Frau G. ist 86 Jahre alt,...Sie hat keine Angehörigen,...Frau G. hat Pflegegrad 1,"

    "An dieser Stelle sind wir bei den pflegenden Angehörigen. Fällt der Pflegegrad 1 weg, wird die Pflege mit großer Wahrscheinlichkeit von ihnen, konkret von den Frauen übernommen."

    Ein klassischer Schmollack.

    Ansonsten ist es natürlich Quark den Pflegegrad 1 abzuschaffen.

  • In Frankreich geht die Bevölkerung auf die Straßen, weil sie jetzt statt mit 62 Jahren erst mit 64 Jahren in die Rente gehen dürfen. Wir sollen jetzt alle bis 67 arbeiten, da brauchen viele keinen Pflegegrad mehr, da werden nur noch unsere Gräber gepflegt. Unter Reformen kann man auch Verbesserungen/ Erleichterungen für die Bevölkerung verstehen. Durch die enorme Auftragslage in unserer Rüstungsindustrie, wird unser Bruttoinlandsprodukt [ BIP ] doch steigen wie schon lange nicht mehr, also was soll dieses unnötige Sparprogramm von Friedrich Merz ?

  • Dann werden manche, die schon seit ein paar Jahren in Stufe 1 verweilen, prüfen lassen, ob sie nicht in Stufe 2 eingruppiert werden können. Dem wird auch häufiger stattgegeben werden, der Gesundheitszustand verschlechtert sich ja häufig schleichend im Lauf der Jahre, ohne daß von den Gebrechlichen oder deren Angehörigen ohne besonderen Anlass eine Überprüfung beantragt wird. Der Anlass wäre bei Streichung der Stufe 1 gegeben. Mal schauen, wie die Ersparnis dann unter dem Strich ausschaut. Auch unter dem Gesichtspunkt der Kosten der fälligen Überpüfungen, die zu den Gesamtkosten dazugezählt werden müssen.

    • @Josef 123:

      ... dann werden die Kriterien für Stufe 2 "geschärft". Stufe 1 abzuschaffen ist erst der Funke an der Züdelschnur.

      • @humusaufbau:

        Das halte ich nicht für wahrscheinlich.

  • Vorlauf in die "Kriegstüchtigkeit" ... Gemeinsam sind wir stark: Der Notstand der Armen und die Privilegien der Rechen auch in der Pflege müssen gemeinsm verteidigr werden. So sieht Deutsche Einheit in Einigkeit und Recht und Freiheit aus.



    Den Ärmeren bleibt eben nichts anderes übrig als noch früher aufzustehen - wann tun sie es ;-)



    Die Frauen müssen sowieso ran, weil hauptsächlich die Männer Kriegsdienst leisten müssen oder "unabkömmlich" kriegswichtigeres zu tun haben.

  • Zitat: "Dann müssen (wieder) die Frauen ran"



    Stimmt nicht ganz, denn die Frauen, welche pflegebedürftige Angehörige haben, sind schon längst in großer Zahl aktiv.

    ich arbeite in einem ambulanten Setting (früher Pflegedienst, heute Palliativversorgung) und sehe das täglich:

    Ohne den Einsatz von Ehefrauen, Töchtern, Enkelinnen usw. und ohne Pflegestufe 1 müssten viele Menschen einen Pflegedienst in Anspruch nehmen. Was in der Realität aber ein Problem ist, da es zuwenige Pflegekräfte gibt.

    Die geforderten Frauen haben aber noch ein Berufsleben, ein Privatleben, müssen sich dann für die Pflege krankschreiben lassen, was eine zusätzliche Belastung darstellt.

    Das gesamte System ist völlig marode, nur vereinzelt sieht man Besserung.



    Dazu kommt auch, daß der MD (Medizinische Dienst) teilweise Versorgungen kürzt oder gleich ganz ablehnt, weil er diese in der beantragten Form als nicht nötig erachtet - obwohl sich da kein Mitarbeiter ein konkretes Bild gemacht hat (oft wird nur nach Aktenlage begutachtet).

    Fazit:



    Würden heute alle pflegenden Angehörigen (nicht nur Frauen) diese Arbeit verweigern, dann hätten wir ein Riesenproblem.

    • @Juhmandra:

      Meine Idee zur Arbeitsverweigerung: Wenn ich das Beamtenprinzip richtig verstanden habe, müssten pflegende Angehörige ja verbeamtet sein, damit sie für ihre Aufgaben zur Verfügung stehen und sich nicht entziehen können, weder durch Streik noch durch Umzug. Dann könnten wir uns bei Bedarf auch mal auskurieren oder - welch traumhafter Gedanke - vielleicht sogar mal Urlaub machen. Und ob wir das, was wir bis zur Hilfsbedürftigkeit von Eltern und Schwiegereltern ansparen konnten, zur Kompensation von Rentenabschlägen oder von Einkommenseinbußen bzw. Bürgergeldkürzungen verwenden, wäre dann nicht mehr relevant. Später, wenn wir selbst pflegebedürftig sind, könnten wir auch viel mehr für die Gewinnspannen von Pflegeinvestoren bezahlen, bis das System zusammenbricht.



      Und es gibt tatsächlich viele Antragsteller für Pflegestufe 1, die sich bei tapfer verteidigter weitgehender Unabhängigkeit nach Ablehnung des Pflegeantrags Stufe 1 oft der Familie gegenüber als Bittsteller fühlen oder ohne Hilfe vom Leben abgeschnitten wären. Und mehr als Pflegestufe 1 gibt es unserer Erfahrung nach sowieso meist erst, wenn Firmen oder Pflegeheim involviert sind sind.

  • taz: *Die Hilfe, die sie benötigen, können sie sich „kaufen“ – bei ambulanten Pflege- und anderen Serviceeinrichtungen, Haushaltshilfen.*

    Ja, so sieht der 'Sozialstaat Deutschland' im 21. Jahrhundert aus, wo die Reichen von CDU/CSU/SPD gepampert werden und die Alten und Kranken sich Hilfe kaufen müssen, obwohl sie dafür oftmals nicht das Geld haben.

    taz: *An dieser Stelle sind wir bei den pflegenden Angehörigen. Fällt der Pflegegrad 1 weg, wird die Pflege mit großer Wahrscheinlichkeit von ihnen, konkret von den Frauen übernommen.*

    Diesen pflegenden Frauen wird dann von Merz und Linnemann irgendwann wieder gesagt werden, dass sie zu faul zum "richtigen Arbeiten" sind.

    taz: *Trotzdem erwägt die Bundesregierung, den Pflegegrad 1 zu streichen. Dadurch ließen sich rund 1,8 Milliarden Euro jedes Jahr sparen.*

    Wenn man unfähige Politiker einspart, dann würden sicherlich mehr als 1,8 Milliarden Euro jedes Jahr dem Staat zugute kommen.

    Eine Vermögens- und Erbschaftssteuer einführen. Die großen Steuerhinterzieher dingfest machen und die Jobcenter schließen, die ohnehin nur noch die zunehmende Armut in diesem Land verwalten und dem Steuerzahler Milliarden Euro an Kosten verursachen.