Parteikonvent der Grünen: Viele, viele bunte Fragen
Mit einem „Startkonvent“ beginnen die Grünen die Arbeit am neuen Grundsatzprogramm. Ärgerlich, dass er von zwei Marketingprofis geleitet wird.
Ausgestattet mit Headsets haben sich die beiden Bundesvorsitzenden in der Mitte des Saales um einen kleinen Stehtisch gestellt. Von dort aus starten sie tänzelnde Ausflüge in den Raum, um ihre „Impulse“ an das um sie gruppierte Auditorium zu bringen. Dabei sagen sie mehr oder weniger gewichtige Sätze. „Es war noch nie so dringend wie jetzt, die Welt zu retten“, lautet so einer aus dem Mund von Baerbock. „Lasst uns wieder unsere Welt retten.“
Eigentlich keine schlechte Idee. Dumm nur, dass Baerbock und Habeck so unernst erscheinen. Mit ihrem locker-flockigen Auftritt konterkarieren sie die eigenen politischen Aussagen. Es ist eine merkwürdige Inszenierung, die wohl Modernität demonstrieren soll. Die beiden wollen „unkonventionell“ rüberkommen. Doch sie wirken wie eine Conférencière und ein Conférencier, deren Ziel es ist, ihr Publikum zu bespaßen.
„Neue Zeiten. Neue Antworten.“ Unter diesem Motto ruft der grüne Bundesvorstand zur Grundsatzdiskussion auf. Rund zwei Jahre hat er für die Erarbeitung eines neuen Programms geplant. 2018 soll „das Jahr der Fragen“ sein, 2019 „das Jahr der ersten Vorschläge“. Im Frühjahr 2020 soll es pünktlich zum 40. Jubiläum der Grünen auf einem Parteitag verabschiedet werden. „Wir wollen uns Streit zumuten und wir glauben, dass dieser Streit stellvertretend für die Debatten in der Gesellschaft geführt werden muss“, verkündete Habeck am Freitag. „Wir müssen radikale Antworten geben“, sagte Baerbock. „Die Zukunft braucht uns, lassen wir sie nicht im Stich.“
Das dritte Grundsatzprogramm
Viele „neue Fragen“ wollen sich die Grünen stellen: „neue Fragen“ der Ökologie, in der Wirtschafts- und Sozialpolitik, in der Digitalisierung, in der Wissenschaftsgesellschaft und Bioethik. Ebenso gebe es „neue Fragen“ einer vielfältigen Gesellschaft und für Europa, die Außen-, Sicherheits-, Entwicklungs- und Menschenrechtspolitik. Das sind die Themenbereiche, an denen entlang die Debatte um das Grundsatzprogramm geführt werden soll. So hat es der grüne Länderrat, der am Samstagvormittag eingeblockt wurde, beschlossen – wobei das Parteigremium übrigens ganz klassisch tagte: mit Präsidiumstisch und den üblichen Ansprachen vom RednerInnenpult.
Aber geht es wirklich um „neue“ Fragen? Auf dem Startkonvent hegten manche Zweifel. „Mir kommt das Wort ‚neu‘ zu oft vor“, sagte ein Teilnehmer. „Viele der Fragen sind auch ganz alt.“ Auf jeden Fall sollen die Antworten besser verpackt werden. Schon jetzt klingen die beiden Vorsitzenden wie zwei Marketingprofis. „Wir haben Bock auf besser“, dichtete Baerbock. Es gehe darum, Politik „auf Ballhöhe der Gegenwart“ zu gestalten, fabulierte Habeck.
Es ist das dritte Grundsatzprogramm in der Geschichte der Grünen, das die Partei nun erarbeiten will. Das erste entstand wenige Wochen nach der Gründung. Die 46 Seiten, die nach heftigen Diskussionen auf der zweiten grünen Bundesversammlung im März 1980 in Saarbrücken beschlossen wurden, sind entsprechend durchdrungen von der systemoppositionellen Radikalität der Anfangszeit. Sie lesen sich wie eine Mischung aus der Angst vor der Apokalypse und dem damaligen Aufbruchsgeist der sozialen Bewegungen, aus denen die Partei entstanden ist.
Das erste und das zweite Grundsatzprogramm
„Wir sind die Alternative zu den herkömmlichen Parteien“, lautet der erste Satz in der Präambel von 1980. Der damalige Anspruch war groß: „Die Zerstörung der Lebens- und Arbeitsgrundlagen und der Abbau demokratischer Rechte haben ein so bedrohliches Ausmaß erreicht, dass es einer grundlegenden Alternative für Wirtschaft, Politik und Gesellschaft bedarf.“ Die Politik der Grünen orientiere sich „an vier Grundsätzen: sie ist ökologisch, sozial, basisdemokratisch und gewaltfrei“.
Wie grundsätzlich die Partei in ihrem ersten Grundsatzprogramm war, zeigen anschaulich die Ausführungen zum letztgenannten „Grundsatz“: Das Prinzip der Gewaltfreiheit gelte „uneingeschränkt und ohne Ausnahme“. Oberste Maxime sei: „Humane Ziele können nicht mit inhumanen Mitteln erreicht werden.“ Die Grünen definierten sich also kompromisslos als pazifistische Partei.
Im März 2002 beschlossen die Grünen im Berliner Tempodrom ihr zweites Grundsatzprogramm. 22 Jahre zuvor noch völlig außerhalb der Vorstellungswelt, waren sie inzwischen Regierungspartei geworden. Nun galt es, mit geschliffenen Worten den utopischen Überschuss von einst den „realpolitischen“ Gegebenheiten anzupassen und so den offenkundigen Widerspruch zwischen hehrem Anspruch und tristem Regierungsalltag ideologisch aufzulösen. In den Worten Robert Habecks: „Die idealistischen Grundsätze von 1980 sind einem krassen Wirklichkeitscheck unterzogen worden.“
Auch im Grundsatzprogramm von 2002 wird immer noch die Gewaltfreiheit verbal hochgehalten, aber nicht mehr „uneingeschränkt und ohne Ausnahme“ – was ja auch nach der grünen Zustimmung erst zur deutschen Beteiligung am Jugoslawienkrieg, dann zum Bundeswehreinsatz in Afghanistan wenig glaubwürdig gewesen wäre. Deswegen heißt es nun einschränkend: „Wir wissen aber auch, dass sich die Anwendung rechtsstaatlich und völkerrechtlich legitimierter Gewalt nicht immer ausschließen lässt.“
Grundsatzprogramme und Tagespolitik
Die inhaltliche Radikalität der Anfangsjahre wurde ersetzt von der Eleganz der Formulierung. So beginnt nun das stolze 171 Seiten lange Programm mit dem hübschen Satz: „Im Mittelpunkt unserer Politik steht der Mensch mit seiner Würde und seiner Freiheit.“ Dass das wenig mit der Realität zu tun hatte, zeigte sich nur ein Jahr später, als die Grünen der „Agenda 2010“ Gerhard Schröders ihr Plazet gaben.
Nun erfährt der alte Präambelanfangssatz eine Renaissance. Nach den Vorstellungen des aktuellen grünen Bundesvorstands soll er der Ausgangspunkt für die Arbeit am neuen Grundsatzprogramm sein. „Das ist ein Satz wie ein Ausrufezeichen“, sagte Habeck auf dem Startkonvent. „Wenn man ihn liest und zulässt in seiner Kraft, dann fragt man sich: Wo haben wir den eigentlich die ganze Zeit versteckt gehabt?“
Aber so ist das stets mit Grundsatzprogrammen. In der Tagespolitik geraten sie schnell aus dem Blick. Das gilt nicht nur für die Grünen, sondern für alle Parteien. Bei der SPD ließe sich schließlich auch fragen, wo sie den „demokratischen Sozialismus“ aus ihrem immer noch gültigen „Hamburger Programm“ von 2007 verborgen hält.
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