Oxfam-Chef über globale Ungleichheit: „Weltweit hungern 800 Millionen“
Verbreitet Oxfam jedes Jahr die gleichen Hiobsbotschaften und ignoriert Fortschritte? Fragen an Amitabh Behar, den Chef der Entwicklungsorganisation.
taz: Die weltweite Ungleichheit und Ungerechtigkeit wird schlimmer. Einen Bericht mit dieser Aussage veröffentlicht Oxfam jedes Jahr zum Weltwirtschaftsforum von Davos. Nutzen sich diese jährlichen Notrufe nicht ab?
Amitabh Behar: Keineswegs. Unsere Berichte erhalten immer große Aufmerksamkeit. Denn sie erzählen eine wahre Geschichte, die oft genug absichtlich ignoriert wird.
Wenn der Reichtum der Milliardäre weltweit wächst, bedeutet das nicht automatisch, dass die Mehrheit der Menschen ärmer wird.
Um kaum vorstellbare 2.700 Milliarden Euro haben die Vermögen der reichsten Personen seit Beginn der Coronapandemie zugenommen. In derselben Zeit sind jedoch 60 Prozent der weltweiten Bevölkerung ärmer geworden. Die Mehrheit hat noch nicht einmal einen Ausgleich für die Inflation erhalten. Also wuchs die Ungleichheit – der Abstand zwischen Arm und Reich. Das hat Folgen: Weil die Milliardäre so viel Geld für sich behalten und es nicht umverteilt wird, kommen hunderte Millionen Menschen nicht aus der Armut heraus.
Ihr Bericht sagt aber, dass die Mehrheit gerade nicht ärmer geworden ist. Sie hat rechnerisch nur etwa 18 Milliarden Euro verloren. Das ist ein geringer Betrag, der, weltweit betrachtet, kaum ins Gewicht fällt. Man könnte es als gute Nachricht werten, dass die Vermögen der Mehrheit trotz Krise stabil blieben.
Nein, wir sollten dies in Relation zum Vermögen der Milliardäre betrachten. Einigen Leuten geht es extrem gut – die Mehrheit profitiert davon jedoch überhaupt nicht. Das ist der Punkt. Wenn man die Superreichen effektiver besteuerte, stünde viel Geld zur Verfügung, um es zum Beispiel in Bildung und Gesundheitsversorgung zu investieren. Und man muss auch wissen, dass in zahlreichen Ländern große Teil der Bevölkerung in Armut leben. In meinem Heimatland Indien sind es 15 bis 20 Prozent der Bürgerinnen und Bürger. Weltweit hungern immer noch 800 Millionen Menschen.
Ignorieren Sie nicht, dass es auch positive Entwicklungen gibt? Seit Anfang der 1990 Jahre ist die Zahl der absolut armen Leute weltweit deutlich gesunken. Die Armut wurde verringert.
Das ist ein großer Fortschritt, aber er reicht nicht. Die Armut hält ja weiter an, während der Coronapandemie ist sie nicht gesunken. Deshalb brauchen wir eine Politik, die die Ungleichheit zurückdrängt.
In Deutschland stieg der Gini-Koeffizient, ein rechnerisches Maß für die soziale Ungleichheit, zwischen 2010 und 2019 nicht an. Ein kleines, positives Beispiel?
Die Ungleichheit sollte nicht nur stagnieren, sondern abnehmen. Das ist unsere Vision einer gerechten Gesellschaft. Alle Menschen brauchen Einkommen und Vermögen, die ein Leben in Würde ermöglichen. Währenddessen gehen die Gewinne der 1.500 größten Aktiengesellschaften weltweit zu 80 Prozent an die Anteilseigner. Der Mehrheit der Menschen wird damit Wohlstand vorenthalten.
Amitabh Behar arbeitet als Exekutivdirektor der Hilfs- und Entwicklungsorganisation Oxfam International im Hauptquartier in Nairobi
Zur Abhilfe fordert Oxfam, überall auf der Welt Vermögenssteuern einzuführen. Ist das nicht ziemlich unrealistisch?
Vor ein paar Jahren hat sich die Mehrheit der Staaten auf eine globale Mindeststeuer für transnationale Unternehmen geeinigt. Wir denken, dass sie höher ausfallen sollte als die jetzt vereinbarten 15 Prozent der Gewinne. Trotzdem handelt es sich auch hier um einen beträchtlichen Fortschritt. Da müssen wir weitermachen. Und tatsächlich wollen die Vereinten Nationen nun an einem weltweiten Steuerabkommen arbeiten. Langfristig könnten sich daraus internationale Einkommens- und Vermögenssteuern entwickeln, die Einnahmen unter anderem für bessere Bildung und Gesundheitsversorgung generieren. Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, deren 75. Jubiläum wir gerade gefeiert haben, bedeutet auch, dass alle Menschen auf der Welt das Recht auf ärztliche Betreuung haben.
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