Oppositioneller über Putins Machtpolitik: „Russland ist lebensgefährlich“
Wladimir Ryschkow, Ex-Duma-Abgeordneter und enger Weggefährte des ermordeten Politikers Boris Nemzow, fürchtet um sein Leben. Russland sei eine Diktatur.
taz: Vor einem Monat wurde auf Boris Nemzow ein Attentat verübt. Was hat die Opposition an den Ermittlungen auszusetzen?
Wladimir Ryschkow: Wir haben gerade Präsident Putin gebeten, eine Kontaktgruppe zum Ermittlungskomitee einzurichten. Wir wollen über den Stand der Ermittlungen informiert sein und verstehen, was vor sich geht. Nur so können wir den Ermittlungen auch vertrauen. Wie Wladimir Putin entscheidet, ist offen. Ich bin mit den Ermittlungen nicht zufrieden, weil nur wenige Informationen nach außen dringen und der Mord so dargestellt wird, als gäbe es keine Auftraggeber. Die Widersprüche sind offensichtlich ...
Was sind das für Ungereimtheiten?
Einerseits wird behauptet, es seien 5 Millionen Rubel für den Mord gezahlt worden. Demnach ist es ein Auftragsmord gewesen. Andererseits wird der Eindruck erweckt, als hätten die Verdächtigen die Tat allein geplant.
Eine linguistische Analyse der Mails und Posts an Nemzow soll jetzt erstellt werden.
Nemzow erhielt viele Drohungen. Gegen eine Prüfung ist nichts einzuwenden. Es muss aber verhindert werden, dass er und seine Freunde kompromittiert werden. Leider ist nicht ausgeschlossen, dass ein doppeltes Spiel getrieben wird.
Haben Sie Angst, das nächste Opfer zu sein?
Ja, die Gefahr ist groß. Ich werde überwacht. Neulich stand derselbe Wagen vorm Restaurant, wo ich gegessen hatte, der später auch vor meiner Haustür auftauchte. Mir war vorher schon aufgefallen, wie zwei Männer an einem Nebentisch nur Tee tranken. Die klassische Agenten-Nummer.
, 48, ist studierter Historiker und ehemaliger Abgeordneter in der Duma. Er ist einer der führenden Köpfe der Kremlgegner und war enger Vertrauter von Boris Nemzow, der am 27. Februar 2015 in Moskau ermordet wurde.
Alle Verdächtigen im Fall Nemzow dienten in der tschetschenischen Eliteeinheit „Sewer". Sie sind Verwandte oder Freunde des tschetschenischen Präsidenten Ramsan Kadyrow. Bislang führen die Spuren alle nach Tschetschenien. Wenn die Fährte am Flughafen in Grosny abbricht, bedeutet das aber: wir alle - Journalisten oder Menschenrechtler - sind bedroht, solange der Auftraggeber nicht genannt wird. Bis heute weiß man nicht, wer die Morde an Anna Politkowskaja, Natalja Estemirowa oder Galina Starwoitowa in Auftrag gab.
Wurden Sie früher nicht observiert?
Doch, aber meistens nur vor größeren Protestaktionen. Ich verstehe nicht, warum die „Agenturen" auf einmal so aktiv sind. Im Altai sind mir vor kurzem auch zwei Wagen tagelang gefolgt.
Was bedeutet der Mord an Nemzow für die Opposition?
Das Verbrechen hat neue Realitäten geschaffen. Die Opposition wird nicht mehr nur bedroht und ins Gefängnis gesteckt. Sie wird jetzt auch getötet. Die Bedingungen für unsere Arbeit sind noch schwieriger geworden. Kurz vor seinem Tod meinte Nemzow: Opposition gäbe es keine mehr, wir seien nur noch Dissidenten jeder für sich auf seine Weise. Das trifft nach seinem Tod noch mehr zu.
Ist Russland noch ein autoritäres Regime oder bereits eine Diktatur?
Der Übergang zur Diktatur ist vollzogen. Entweder werden wir zu Wahlen nicht zugelassen oder die Ergebnisse werden gefälscht. Provokationen sind allgegenwärtig. Veranstaltungen werden verhindert. Wir finden keine Geldgeber, weil die die Unternehmer eingeschüchtert sind und die Angst groß ist. Dennoch versuchen wir, an Wahlen teilzunehmen und uns journalistisch Gehör zu verschaffen.
Vor allem in den Regionen haben Oppositionelle Angst. Dort verfolgt man sie noch unerbittlicher als in Moskau. Manche verlieren den Arbeitsplatz, andere werden überfallen oder festgenommen. Gegen andere strengt die Staatsanwaltschaft fabrizierte Verfahren an. In Nischnij Nowgorod schoss jemand auf die Fenster einer unserer Aktivistinnen.
Es sieht so aus, als hätte der Staat sein Gewaltmonopol verloren. Er ist nicht mehr der einzige Akteur....
Der Staat hat das Gewaltmonopol längst eingebüßt. Gewalt geht mittlerweile von oben und von unten aus. Eine Vielzahl nationalistischer und chauvinistischer Gruppierungen ist in letzter Zeit aus dem Boden geschossen. Darunter viele Heimkehrer, die in Donezk und Lugansk Kampferfahrungen sammeln konnten. Der Anführer der Rockergruppe „Nachtwölfe", sein Spitzname ist "Chirurg", hat es offen gesagt: die Feinde sollen mit allen Mitteln unter Druck gesetzt werden. Er ist einer der Rädelsführer des „Antimaidan", der die Gunst des Kreml genießt. Drohungen gehen von Geheimdiensten, extremistischen Gruppen und auch nicht organisierten Kräften aus.
Aber die Propaganda verfängt ...
Die Menschen glauben daran. Sie unterstützen ohne Wenn und Aber die Machthaber und sind überzeugt, dass der Westen die Krise verursacht hat und Russland zerschlagen will. Alle Putin-Kritiker sind Feinden. Unsere Machthaber sind unvorstellbar reich, daher werden sie um jeden Preis ihre Herrschaft sichern.
Wie lange kann das gut gehen?
Bis zum wirtschaftlichen Zusammenbruch wie ihn auch die Sowjetunion erlebte. Die Wirtschaft ist in Schwierigkeiten. Russland steht aber noch nicht vor dem Ruin, die Menschen sind von der Politik noch nicht enttäuscht. Die Rubelabwertung hat die Einkommen jedoch halbiert. Millionen sind davon betroffen, langfristig wird das zur Verarmung führen.
Noch sättigt der Landgewinn ...
Noch ist die Freude über die Rückeroberung der Krim groß. Dahinter verbirgt sich die Nostalgie für das untergegangene Imperium. Putin weckte Hoffnungen auf alte Größe. Er rief die „Russische Welt" aus und forderte zu ihrer Verteidigung auf. Das war Wasser auf die Mühlen imperialer Nostalgie. Die Menschen wollen glauben: wir sind eine Weltmacht und unser Einfluss wächst stetig. Wahre Größe ist jedoch Wirtschaftsleistung: Wo soll das geopolitische Gewicht herkommen, wenn unsere Wirtschaft um fünf Prozent schrumpft, während die USA und China zulegen?
Hat die russische Zivilgesellschaft noch eine Überlebenschance?
Der Kreml führt seit 2012 Krieg gegen sie. Ihr Zustand ist jämmerlich. Die aktivsten Bürger wandern aus. Viele meiner Bekannten sind schon emigriert oder haben es vor. Mehr als ein Fünftel der Bevölkerung würde am liebsten ausreisen. Die Vertreibung von Regimekritikern scheint auch gewollt zu sein.
Wie nach der Oktoberrevolution 1917. Als Stalin begriff, wie wichtig Fachkräfte sind, ließ er die Grenzen schließen. Das kann uns auch noch bevorstehen. Zurzeit emigrieren viele ins Baltikum, nach Prag, Warschau oder nach Deutschland. Die Geschichten der Emigranten unterscheiden sich. Sie ähneln sich aber darin, dass sie mit Risiken für Leib und Leben und Gefahren für die Familie verbunden sind. Das ist neu: Russland ist lebensgefährlich.
Wird Russland sich auch bei anderen Nachbarn unaufgefordert einmischen?
In Moldawien unterstützt der Kreml die moskaufreundlichen Führer der Gagausen gerade. Aggressives Eingreifen ist eher unwahrscheinlich, aber Unruhestiftung und Destabilisierung sind jederzeit denkbar. Auch in Estland und Litauen. Nicht auszuschließen, dass der Kreml in Belarus und Kasachstan auch die Stabilität aushöhlen würde, wenn er mit Entscheidungen der politischen Elite nicht zufrieden ist. Anschließend folgt dann Bruderhilfe.
Was kann die EU eigentlich noch tun?
Sie muss Einheit bewahren. Der Kreml will den Westen auseinanderdividieren. Das tut er bereits erfolgreich, indem er Griechenland, Zypern, Ungarn und Tschechien umgarnt. Ist der Westen erst mal gespalten, kann er nicht mehr angemessen auf das reagieren, was bei uns passiert.
Putin hält den Westen für schwach und spricht mit mehreren Zungen. Außerdem reicht auch das Geld noch, um Politiker zu kaufen. Oberstes Gebot für die EU: sie darf die gemeinsame Position nicht preisgeben. Vor zehn Jahren war die EU noch Russlands wichtigster strategischer Partner. 70 Prozent der Russen standen ihr positiv gegenüber. Zurzeit halten 80 Prozent die EU für ein feindliches Gebilde. Es finden keine Treffen mehr statt, kein Dialog und keine Gipfel. Die Wende von Freundschaft zu Konfrontation ist vollzogen. Europa wurde zum Gegner.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Christian Lindner
Die libertären Posterboys
Außenministerin zu Besuch in China
Auf unmöglicher Mission in Peking
Olaf Scholz’ erfolglose Ukrainepolitik
Friedenskanzler? Wäre schön gewesen!
Neuer Generalsekretär
Stures Weiter-so bei der FDP
Rücktrittsforderungen gegen Lindner
Der FDP-Chef wünscht sich Disruption
Zuschuss zum Führerschein?
Wenn Freiheit vier Räder braucht