Offener Brief an die Bundeskanzlerin: #FreeDeniz
Seit 100 Tagen sitzt Deniz Yücel nun in Haft. Seine Situation hat sich nicht verbessert. Zeit also, um mal ganz oben anzuklopfen.
Abs.: taz, die tageszeitung, Doris Akrap, Rudi-Dutschke-Str. 23, 10996 Berlin
An: Bundeskanzleramt, Bundeskanzlerin Angela Merkel, Willy-Brandt-Straße 1, 10557 Berlin
Liebe Bundeskanzlerin,
ich schreibe Ihnen heute mal so von Aktivistin zu Aktivistin. Es geht um die Situation unseres gemeinsamen Bekannten Deniz Yücel, die Ihnen sicher auch schon diverse Nächte geraubt hat. Stehen Sie manchmal auch morgens auf und denken: Ich will mein Leben zurück? Oder wenigstens meinen Job? Deniz denkt das. Und ich auch.
Seit 100 Tagen bin ich mit Freunden und Kollegen auf Promotion-Tour für #FreeDeniz. Sie haben sicher davon gehört. Wir hupen, klingeln, singen, lesen. Und die Mithuper, Mitklingler, Mitsinger, Mitleser und Zuhörer werden immer mehr.
In Münster fährt man Fahrrad für Deniz, in Bielefeld hält man Kerzen für Deniz, in Bittelbronn läuten mittags die Kirchenglocken für Deniz, an deutschen Schreibtischen schreibt man Briefe für Deniz, in deutschen Theatern liest man Texte von Deniz, vor dem Brandenburger Tor und anderswo singt man Lieder für Deniz. Alle diese Leute machen das freiwillig. Es ist nicht ihr Job.
Vom ersten Tag an habe ich mich bei jedem Schritt, den ich gemacht, und bei jedem Wort, das ich gesagt oder geschrieben habe, gefragt: Ist das mein Job? Hilft das oder schadet das? Das fragen Sie sich sicher auch. Also Letzteres.
Besser Klappe halten und schweigen? Hoffen, dass der Präsident die Gefangenen freilässt, wenn er merkt, dass sich niemand für ihn interessiert? Ich kann diese Überlegungen nachvollziehen. Aber ich halte sie für falsche Hoffnungen.
Immer wieder daran erinnern
Deniz sitzt nicht im Gefängnis, weil er selbst irgendetwas Besonderes getan hätte. Er hat seinen Job gemacht und ist damit einer von Hunderten Journalisten, einer von Zehntausenden Gefangenen, die von der türkischen Justiz und Regierung wegen ähnlich absurder Vorwürfe und noch absurderen weggesperrt werden.
Mittlerweile sitzt eine zweite deutsche Staatsbürgerin und Journalistin im Gefängnis: Meşale Tolu. Über Deniz zu schweigen hieße, von allen zu schweigen. Von Meşale, Ahmet, Tunca und Canan.
Meine 100-Tage-Bilanz lautet: Deniz nicht aus dem Knast geholt. Die Situation in der Türkei nicht verbessert. Aber: Das war ja auch nie unser Job.
Den berühmten Druck, von dem es immer heißt, dass man ihn auf die türkische Regierung ausüben muss, den können wir nicht herstellen. Unser Job ist es, die deutsche Öffentlichkeit immer wieder daran zu erinnern, dass Deniz und all die anderen unschuldig im Gefängnis sitzen, und denen Solidarität zu zeigen, die sich dafür einsetzen, dass Demokratie, dass Presse- und Meinungsfreiheit gewahrt und wieder hergestellt werden. In der Türkei, in Deutschland, in Europa, in Washington, überall.
Aber jetzt interessiert mich natürlich brennend, wie Ihre 100-Tage-Bilanz aussieht. Sie haben immer wieder gesagt, dass Sie alles tun, was in Ihrer Macht steht, damit Deniz freikommt. Können Sie uns verraten, was Sie bisher unternommen haben? Ich, wir alle fangen nämlich an zu zweifeln, ob wirklich schon alle politischen Mittel ausgeschöpft sind.
Auf Augenhöhe
Sie haben immer wieder betont, dass die Regierung den Dialog mit der Türkei nicht beenden will. Ich bin für Dialog. Aber kann man noch von Dialog sprechen, wenn der Dialogpartner einfach immer „Nein“ sagt? Verstehen Sie mich nicht falsch: Sie haben an verschiedenen Stellen Street Credibility bewiesen. Als der türkische Präsident Sie zur PKK-Unterstützerin erklärte, kommentierten Sie nur trocken, dass Sie nicht auf jede Scheiß-Provo reagieren müssen. Das war – wie man so schön sagt – auf Augenhöhe!
Auch saucool: Dass Sie nicht wegen jedem Mist den türkischen Botschafter einbestellen, wie es in Ankara alle paar Tage passiert. Respekt! Aber jetzt mal unter uns: Was ist aus den vor der Verhaftung Yücels begonnenen Gesprächen über deutsche Wirtschaftshilfen an die Türkei geworden?
Wolfgang Schäuble hat nur gesagt, dass es schwierig werde, die weiter fortzuführen, solange Yücel weiter in Haft ist. Können Sie nicht einfach mal klar sagen: „Es wird so lange kein Geld fließen, bis Yücel frei ist“?
Die Geldkarte spielen
Was ist mit den EU-Verhandlungen über die Zollunion, in denen der Türkei weitere wirtschaftliche Erleichterungen in Aussicht gestellt werden. Können Sie nicht einfach mal sagen: „Es wird so lange keine Verhandlungen geben, bis Yücel frei ist“? Können Sie nicht wenigstens mal die Geldkarte probieren? Einfach, um zu sehen, ob Erdoğan die Gelder aus der EU genauso egal sind wie die Worte der EU? Es könnte ja sein, dass er diese Sprache versteht.
Oder wollen Sie wirklich so lange warten, bis sich Erdoğan alternative Märkte erschlossen hat, die ihn aus der deutschen und europäischen Abhängigkeit entlassen? So lange, bis Erdoğan einen alternativen Partner gefunden hat, bevor Sie sich dazu entschlossen haben, einen alternativen Standort zu Incirlik zu beziehen?
Verstehen Sie mich nicht falsch: Ich will nicht, dass Sie der Türkei endgültig den Zugang zur EU verweigern. Den Gefallen sollten Sie dem türkischen Präsidenten nicht tun. Aber Sie können ihm einen anderen Gefallen verweigern: ihm kein Geld geben. In den 90er Jahren gab es eine von Einwanderern kolportierte liebevoll und metaphorisch gemeinte Charakterisierung der Deutschen: „Immer nur labern, labern. Nix ficken.“
Liebe Frau Merkel, wenn Sie nicht wollen, dass man das auch über Sie sagt, sollten Sie handeln.
Herzlich, Doris Akrap
40.000 mal Danke!
40.000 Menschen beteiligen sich bei taz zahl ich – weil unabhängiger, kritischer Journalismus in diesen Zeiten gebraucht wird. Weil es die taz braucht. Dafür möchten wir uns herzlich bedanken! Ihre Solidarität sorgt dafür, dass taz.de für alle frei zugänglich bleibt. Denn wir verstehen Journalismus nicht nur als Ware, sondern als öffentliches Gut. Was uns besonders macht? Sie, unsere Leser*innen. Sie wissen: Zahlen muss niemand, aber guter Journalismus hat seinen Preis. Und immer mehr machen mit und entscheiden sich für eine freiwillige Unterstützung der taz! Dieser Schub trägt uns gemeinsam in die Zukunft. Wir suchen auch weiterhin Unterstützung: suchen wir auch weiterhin Ihre Unterstützung. Setzen auch Sie jetzt ein Zeichen für kritischen Journalismus – schon mit 5 Euro im Monat! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Werben um Wechselwähler*innen
Grüne entdecken Gefahr von Links
Wahlverhalten junger Menschen
Misstrauensvotum gegen die Alten
Polarisierung im Wahlkampf
„Gut“ und „böse“ sind frei erfunden
Donald Trump zu Ukraine
Trump bezeichnet Selenskyj als Diktator
Streit um tote Geiseln in Israel
Alle haben versagt
Berlinale-Rückblick
Verleugnung der Gegenwart