Ökonom über Mileis Wirtschaftspolitik: „Das industrielle Argentinien wird verschwinden“
Auf den ersten Blick steht das Land unter Präsident Javier Milei ökonomisch gut da. Aber der Preis dafür sei hoch, sagt Ökonom Hernán Letcher.
taz: Herr Letcher, ein Teil der internationalen Wirtschaftspresse bejubelt derzeit den argentinischen Präsidenten Javier Milei dafür, den Pleitekandidaten Argentinien ökonomisch auf Kurs gebracht zu haben. Wird Milei dieses Jahr den Nobelpreis für Wirtschaft erhalten?
Hernán Letcher: Ich wüsste nicht warum. Milei macht überhaupt nichts Neues.
taz: Als Milei im Dezember 2023 sein Amt antrat, klaffte ein riesiges Loch im Staatshaushalt, eine dreistellige Inflationsrate machte der Bevölkerung das Leben schwer, die Wirtschaft stagnierte seit über zehn Jahren, niemand wollte Argentinien mehr Kredite geben und der Peso befand sich im freien Fall. Ein Jahr später weist der Staatshaushalt einen Überschuss auf, die monatliche Inflationsrate liegt im einstelligen Bereich und der Peso hat gegenüber dem US-Dollar erheblich an Wert gewonnen.
Letcher: Der allgemeine Konsens Ende 2023 war, dass unabhängig davon, wer regiert, eine Reihe von makroökonomischen Korrekturen vorgenommen werden müssen. Rein technisch gesehen macht Milei nichts anderes als eine traditionelle orthodoxe Anpassungspolitik, also Abwertung der Währung, Erhöhung der Tarife für Energie und Wasser und Liberalisierung der Preise. Dies war nicht immer Teil der orthodoxen Agenda, aber in einigen Stabilisierungsprogrammen schon. Im Vergleich zu früheren Anpassungsprogrammen in Argentinien ist Mileis Anpassungspolitik sogar weniger restriktiv.
Der politische Ökonom Hernán Letcher ist Direktor des Centro de Economía Política Argentina (CEPA).
taz: Also ist das, was Milei macht, gar nichts Besonderes?
Letcher: Realpolitisch betrachtet, ein klares Nein. Seine libertären Vorstellungen dagegen sind etwas ganz anderes. Milei vertritt die Ansichten der österreichischen Schule der Ökonomie, die unternehmerisches Handeln, freie Märkte, Privatwirtschaft und Selbstregulierung befürwortet. Das geht weit über eine liberale Sicht auf die Wirtschaft hinaus. Liberale halten im Allgemeinen einen kleinen Staat mit bestimmten Funktionen für notwendig. Libertäre wollen auf die Existenz des Staates gänzlich verzichten.
taz: Die sozioökonomischen Indikatoren haben sich in Mileis Amtszeit ja auch nicht unbedingt verbessert.
Letcher: Schlimmer. Sie haben sich seither alle verschlechtert. Der Preis für Mileis Erfolge ist extrem hoch. Die Armut ist in die Höhe geschnellt, auch wenn sie aktuell ein wenig zurückgeht. Die Arbeitslosigkeit hat zugenommen, die Kaufkraft der Löhne und vor allem der Renten ist weiter gesunken, und die Einkommen der informell Beschäftigten sind stark zurückgegangen.
taz: Gibt es keine Gewinner?
Letcher: Doch, der Finanzdienstleistungssektor, der Bergbau und der Energiesektor, sprich Öl und Gas. Ihre Rentabilität wird sich auch weiter vervielfachen und die Gesamtstatistik der Wirtschaft hochziehen. Aber die Allgemeinheit wird das Nachsehen haben. Es gibt keine Spillover-Effekte, zumal diese drei Gewinnersektoren nicht arbeitsintensiv sind und nur vier Prozent zu den registrierten Arbeitsplätzen beitragen. Hinzu kommt das umstrittene RIGI-System zur Förderung von Großinvestitionen. Ein Investitionsprogramm, das auch Steuer- und Deviseneinnahmen generiert und auf die Schaffung von Arbeitsplätzen und Technologietransfer abzielt, ist eine gute Sache. Das RIGI tut nichts von alledem. Milei favorisiert eindeutig ein extraktivistisches Wirtschaftsmodell, das sich auf Sektoren konzentriert, die wenig Beschäftigung schaffen. Ein kleiner Teil der Gesellschaft hat also Grund zum Feiern.
taz: Und wem ist nicht nach Feiern zumute?
Letcher: Der Industrie, dem Baugewerbe und dem Handel und allen, die damit zusammenhängen. Auf diese drei Sektoren entfallen 45 Prozent der Arbeitsplätze. Zusammen mit ihnen stehen die Arbeitnehmer und Rentner eindeutig auf der Verliererseite. Mileis Reprimarisierung wird die strukturelle Heterogenität zwischen den Produktionssektoren vertiefen. Das hat konkrete Auswirkungen, insbesondere auf die Industrieproduktion.
taz: Steuert Milei Argentinien in Richtung Deindustrialisierung?
Letcher: Ja, die gesamte Industrie ist betroffen, möglicherweise mit Ausnahme der Zulieferbereiche für die Erdöl- und Bergbauindustrie. Das Gleiche gilt für die Landmaschinen- und die Lebensmittelindustrie, die beide mit dem Agrarsektor verbunden sind, der ebenfalls ein extraktivistischer Sektor ist. Für alle anderen ist die Situation kompliziert. Abgesehen davon, dass ihre Umsätze zurückgegangen sind, droht auch eine Öffnung des Binnenmarkts für Importe. Das erinnert an die zehn Jahre der Präsidentschaft von Carlos Menem bis 1999, als viele Fabriken schließen mussten und die Menschen auf der Straße landeten. Wir sind jetzt auf dem Weg dorthin. Niemand investiert in Branchen, die international nicht konkurrenzfähig sein können, und Milei hat den Zeitraum für Antidumpingmaßnahmen gegen Importe bereits von fünf auf zwei Jahre verkürzt. Wer nicht konkurrenzfähig ist, wird seine Fabrik schließen müssen. Das industrielle Argentinien, wie wir es heute kennen, wird verschwinden.
taz: Eine große Mehrheit wird jedoch die billigeren Importe von elektronischen Gütern wie Handys und Computern begrüßen. Und auch im Textilbereich ist Argentinien im internationalen Vergleich extrem teuer.
Letcher: Das stimmt, die Textilindustrie hat den Importschutz ausgenutzt und die Preise wahllos erhöht. Aber ich glaube nicht, dass es angebracht ist, das Problem zu lösen, indem man den gesamten Sektor killt. Besser wäre es, darüber zu diskutieren, wie man die Schutzmaßnahmen aufhebt und die Industrie wettbewerbsfähig machen kann. Aber das setzt ein Eingreifen des Staates voraus, während gerade der libertäre Milei den Staat mit dem Credo „das müssen die Unternehmer schon selbst regeln“ abzieht. Das tut kein Staat, weder in Deutschland noch in den USA.
taz: Der Dezember ist in Argentinien traditionell ein Monat der sozialen Proteste. Warum ist es dieses Mal so ruhig geblieben?
Letcher: Ein kleiner Teil der Gesellschaft profitiert von der Politik Mileis. Aber auch der andere größere Teil hält immer noch an der Erwartung fest, dass sich die Dinge für ihn verbessern werden. Im Moment gibt es 50 Prozent, die Milei unterstützen, und 50 Prozent, die ihn hassen, die aber auch nicht zu den alten Zeiten zurückkehren wollen. Es ist eine eher subjektive, emotionale Zustimmung.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Debatte über Verbot von Privat-Feuerwerk
Schluss mit dem Böllerterror
Debatte nach Silvester
Faeser und Wissing fordern härtere Strafen
Mögliches Ende des Ukrainekriegs
Frieden könnte machbar sein
Evangelische Kirche im Osten
Wer will heute noch Pfarrer werden?
Kleinparteien vor der Bundestagswahl
Volt setzt auf die U30
Todesgefahr durch „Kugelbomben“
Bombenstimmung nach Silvester