Ökonom Rudolf Hickel über neue Regierung: „Bei Merz ist es purer Opportunismus“
Vor 50 Jahren hat die Memorandum-Gruppe erstmals die Bundesregierung kritisiert. Nun lobt ein Mitgründer den kommenden Kanzler. Wenigstens zum Teil.

taz: Zum 1. Mai legt die „Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik“ ihr inzwischen 50. Memorandum vor. Und es scheint, als habe sich ausgerechnet der künftige konservative Kanzler Friedrich Merz mit seiner Lockerung der Schuldenbremse und einem hunderte Milliarden schweren Investitionsprogramm endlich mal nach den Empfehlungen der linken Memo-Gruppe gerichtet. Oder, Herr Hickel?
Rudolf Hickel: Nicht ganz. Die Gruppe, insbesondere um den Ökonomen und Linken-Politiker Axel Troost und mich, war von Anfang an schärfster Kritiker der Schuldenbremse. Von dem, was wir bei deren Einführung 2007 prognostiziert haben, ist ja vor allem ein entscheidender Punkt eingetreten: der massive Rückgang öffentlicher Investitionen. Aber die Merz-Agenda bedeutet trotzdem keinen Sieg der Memo-Gruppe. Nicht die Einsicht in unsere Argumentation hat die Union zur Vernunft gebracht, sondern die reale Gewalt der Krise hat sie zu etwas gezwungen, was wir theoretisch längst begründet hatten. Bei Merz ist es vor allem purer Opportunismus. Er steht halt vor den Katastrophen im Infrastrukturbereich.
taz: Damals haben die Schuldenbremsenbefürworter gesagt, man dürfe die Kosten der Investitionen nicht den künftigen Generationen aufbürden …
Hickel: Wir haben das Generationenargument auch genutzt, aber genau andersherum. Schulden sind die einzige Möglichkeit, mit dem ich die Nachkommen daran beteiligen kann, die Investitionen von heute auch zu bezahlen. Das Instrument dafür heißt intergenerative Finanzierung. Ob das gerecht und ob das zumutbar ist für künftige Generationen, konzentriert sich doch auf die Frage, was mit den Schulden angeschafft wird. Konsumausgaben dürfen damit nicht finanziert werden. Wenn das Geld für den Umbau der Wirtschaft in Richtung Ökologie genutzt wird, rentiert es sich jedoch meistens.
taz: Auch für Rüstung wird die Schuldenbremse aufgeweicht. Ist das eine Investition in die Zukunft?
Hickel: Nein. Mit kreditfinanzierten Waffen bekommt die künftige Generation nichts dafür, dass sie später an den Zinsen beteiligt wird.
taz: Aber was nützen den Jungen die besten Umweltprojekte, wenn zwischendurch Krieg geführt wird? Wie soll die Politik den Bedrohungen beispielsweise durch Russland begegnen?
Hickel: Das muss über den Regelhaushalt finanziert werden – aber nicht zulasten des Sozialstaats.
taz: Genau wie die Memo-Gruppe in den 70er Jahren stehen wir offenbar vor einer Phase des Neoliberalismus. US-Präsident Donald Trump installiert Elon Musk, um Behörden zu zerschlagen, um Bürokratieabbau und Schrumpfung des Sozialstaats will sich zumindest auch die Union in der neuen Bundesregierung kümmern. Gibt es Parallelen zu damals?
Hickel: Es gibt diese Parallelen. Aber es war nicht ganz so, als wir 1975 angefangen haben. Es gab einen ganz klaren Gründungsanlass. Ich kann mich sehr gut erinnern, als Jörg Huffschmid, Herbert Schui und ich damals in Südfrankreich zusammensaßen. Deutschland war in der Rezession, die Arbeitslosigkeit stieg. Und da fing SPD-Kanzler Helmut Schmidt mit der Austeritätspolitik an, also mit dem Sparen. Der Neoliberalismus keimte auf. Dagegen haben wir uns gewendet. Das zweite Motiv war, dass wir das Monopol des Sachverständigenrats, also der Wirtschaftsweisen, als Berater der Regierung brechen wollten – zusammen mit ihrem damaligen Plädoyer, dass die Marktwirtschaft alle Probleme löst.
taz: Das war verbreitet?
Hickel: Die Medien waren voll davon. Wir haben in den 1980ern mal Investitionen in Höhe von 120 Milliarden Mark gefordert. Da hat die Süddeutsche Zeitung geschrieben: „Jetzt sind sie völlig durchgedreht.“ Das hat sich alles stark verändert. Die beratende Wirtschaftswissenschaft hat an Bedeutung verloren – und wir auch. Im Grunde genommen leiden wir heute unter dem Bedeutungsverlust unserer „Gegner“, der neoliberalen Ökonomie.
taz: Dafür soll die neue Wirtschaftsministerin Katherina Reiche in die Fußstapfen von Ludwig Erhard treten, der den Posten von 1949 bis 1963 innehatte – klingt nach altem Ordoliberalismus und Marktwirtschaft pur.
Hickel: Stimmt. Aber Frau Reiche wird viele Kompromisse machen und ganz unliberal in die Wirtschaftsabläufe eingreifen müssen. Leider ist ja das ganze bislang bekannte Kabinett auch mit Kulturstaatsminister Weimer Ausdruck des konservativen Backlashs. Selbst Sahra Wagenknecht hält plötzlich Loblieder auf Erhard. Wenn die Befürworter von BSW oder Union den Erhard in seiner ganzen Verschwommenheit auch machen würden, wäre es gar nicht so schlimm. Dann hätte der Sozialstaat weiter eine Chance. Wenn man mit Erhard meint, dass die Märkte alles selber regulieren, liegt man nämlich falsch. Der Erhard war viel pragmatischer, seine Marktwirtschaft hatte soziale und ökonomische Säulen.
taz: Deutschland geht möglicherweise in sein drittes Rezessionsjahr. Wie soll die Bundesregierung die Exportnation im neuen globalen Handelskonflikt aufstellen?
Hickel: Also der Anfang, Milliarden für Klima und Infrastruktur, war aus unserer Sicht ganz positiv. Aber: Eins hat Merz noch nicht auf dem Plan. Transformation braucht die öffentliche Hand. Der scheidende Wirtschaftsminister Robert Habeck hatte begriffen, dass die großen Herausforderungen wie die ökologische Wende durch Wasserstoff oder grünen Stahl nur durch eine Partnerschaft zwischen Staat und Wirtschaft zu bewältigen sind.
taz: Also der Staat soll dafür zahlen.
Hickel: Ja, wir müssen helfen. Der Umbaubedarf ist riesig. Ich bin immer noch im Aufsichtsrat der Salzgitter AG Flachstahl. Dort wird gerade die erste Anlage für grünen Stahl errichtet, ein Riesending für den Konzern. Dort entsteht eine völlig neue technologische Produktionslinie. Und die geht nur mit staatlichen Subventionen. Habeck hat das verstanden. Und im Grunde das gemacht, was Joe Biden mit seinem grünen Investitionsprogramm IRA in den USA getan hat. Es ist völliger Quatsch, dass der einstige FDP-Chef Christian Lindner das Staatskapitalismus genannt hat. Die neue Regierung steckt im Grunde im gleichen Dilemma wie die alte. Es gibt zwar jetzt das Geld, aber es fehlt die Strategie. Die alte Partnerschaft zwischen Unternehmen und Regierung wie unter Habeck droht unter Frau Reiche zusammenzubrechen. Immerhin kennt sie die Welt der Konzerne. Ich hoffe, dass sie die erforderliche ökologisch-soziale Transformation nicht mit Marktfundamentalismus ausbremst. Beispiel Elektroautos: Da geht es ja gar nicht ohne staatliche Beihilfen.
taz: Die sollen auch laut Koalitionsvertrag kommen …
Hickel: Zum Glück. Frau Reiche kommt ja aus der Energiewirtschaft. Irgendwann sagt sie bestimmt, wenn die Energiepreise nicht sinken, dann machen wir eben Atomstrom. Das wäre ein richtiger Rückschritt.
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