Obdachlosigkeit: „Es müsste mehr Hilfe geben“

11.000 Menschen sind in Berlin ohne Wohnung: Dagmar von Lucke von der Landesarmutskonferenz fordert eine neue Strategie gegen Wohnungslosigkeit.

Eine Pappe ist auf Dauer zu wenig: Obdachlose in Berlin Bild: dpa

taz: Frau von Lucke, Sie fordern vom Berliner Senat, dass er seine Wohnunglosenpolitik neu ausrichtet. Was läuft zurzeit schief?

Dagmar von Lucke: Das größte Problem ist der enger werdende Wohnungsmarkt. Menschen, die keine hohe Mieten zahlen können, finden kaum mehr eine neue Wohnung. Die Nachfrage ist zu groß. Gleichzeitig gibt es nur noch einen geringen Leerstand. Selbst bei den städtischen Wohnungsbaugesellschaften muss man inzwischen mit langen Wartezeiten rechnen. Nicht nur innerhalb des S-Bahn-Rings, sondern auch am Stadtrand. Die privaten Anbieter, aber auch die Wohnungsbaugesellschaften vermieten nicht mehr an Menschen, die Schulden haben oder keine Mietschuldenfreiheit vom vorherigen Vermieter vorlegen können. All das führt dazu, dass die Zahl der Wohnungslosen steigt.

Schätzungen zufolge leben rund 11.000 Obdachlose in Berlin. Sie fordern nun eine gemeinsame Strategie von Senat, Bezirken und Jobcentern für eine bessere Prävention. Die Leute sollen ihre Wohnung gar nicht erst verlieren. Wie könnte diese Strategie aussehen?

Bisher werden die Räumungsklagen von den Gerichten an die Bezirksämter geschickt. Die schreiben dann einen Brief an die Betroffenen. Da das meistens überforderte Menschen sind, die ein ganzes Bündel von Problemen mit sich herumschleppen, lassen die den Dingen oft ihren Lauf. Obwohl man vielleicht noch etwas ändern könnte. Es müsste deshalb viel mehr aufsuchende Hilfe geben.

Die Information einer drohenden Räumung müsste mit einer persönlichen Beratung vor Ort verbunden werden?

Genau. Es müsste auch im Vorfeld schon eine bessere Koordination von den Jobcentern und den Bezirksämtern geben. Wenn jemand zum Beispiel einen Antrag auf Mietschuldenübernahme beim Jobcenter gestellt hat, ist das ein Hinweis darauf, dass ein Wohnungsverlust drohen könnte. In manchen Bezirken bewilligen die Jobcenter die Übernahme der Mietschulden nur sehr selten. Schon da müssten die Behörden aktiv werden und eine Beratung anbieten. Insbesondere, wenn Kinder in dem Haushalt leben.

Für Menschen, die von Obdachlosigkeit bedroht oder betroffen sind, halten die Wohnungsbaugesellschaften ein Kontingent an Wohnungen vor. Das müsste die Situation doch etwas entschärfen.

Es handelt sich dabei um zirka 1.300 Wohnungen. Das müsste man verdoppeln, damit es wirklich einen Effekt hat. Und selbst dann gibt es noch das Problem, dass vor allem Wohnungen für Alleinstehende fehlen. Es werden Ein- und Anderthalbzimmerwohnungen gebraucht. Oder ganz große Wohnungen für vielköpfige Familien. Aber davon haben die Wohnungsbaugesellschaften zu wenig. Ich hoffe sehr, dass bei Neubauprojekten der Bedarf vor allem kleiner, preisgünstiger Wohnungen berücksichtigt wird.

56, leitet die ambulante Wohnungslosenhilfe der Caritas in Lichtenberg. Sie ist bei der Landesarmutskonferenz zudem Sprecherin der Fachgruppe für wohnungslose Menschen.

Es gibt in Berlin 6.000 Plätze in Obdachlosenunterkünften, sie sind meist belegt. Was muss hier getan werden?

Es müssen mehr Plätze geschaffen werden. In diesen Einrichtungen sollte es auch mehr sozialpädagogische Betreuung geben. Die Menschen brauchen Unterstützung, um wieder eine Wohnung und zurück ins normale Leben zu finden.

Das hatte sich der damalige Senat schon in seinen Leitlinien zur Wohnungslosenpolitik von 1999 vorgenommen.

Seitdem ist auch einiges passiert. Die ambulanten Hilfen wurden ausgebaut. Es gibt inzwischen zudem spezifische Angebote für wohnungslose Frauen und Familien, wenn auch nicht in ausreichendem Umfang. Da man jetzt aber so viele Menschen unterbringen muss, besteht die Gefahr, dass weniger auf die Qualität geachtet wird – und zum Beispiel die sozialpädagogische Beratung hinten runter fällt.

Es gibt in Berlin vermehrt Obdachlose aus Ost- und Südosteuropa. Welche Ansprüche auf Hilfen haben sie?

Das ist von Fall zu Fall unterschiedlich. Meist bleibt nur ein Platz in der Notübernachtung für die Nachtstunden. Die Notübernachtungen erwarten allerdings, dass die Menschen zum Bezirksamt gehen und sich eine längerfristige Unterbringung in einer Obdachlosenunterkunft organisieren. Weitergehende Hilfen werden von den Behörden aber in der Regel nicht genehmigt, zum Beispiel weil die richtigen Papiere fehlen. Wir fordern, dass zumindest obdachlose Menschen in Not in Wohnungslosenunterkünften unterkommen. Nicht-EU-Bürger meiden die Notübernachtungen auch manchmal aus Angst vor Abschiebung.

Derzeit leben viele Wohnungslose auf der Cuvrybrache in Kreuzberg, Deutsche aus der Drogenszene ebenso wie Roma-Familien. Was raten sie den Menschen?

Auch hier werden die Ansprüche auf Hilfeleistungen sehr unterschiedlich sein. Die Menschen sollten auf jeden Fall zu einer Beratungsstelle gehen. Besteht ein Anspruch, sollten sie sich vom Bezirksamt unterbringen lassen. Es gibt aber auch Leute, die sich auf der Straße eingerichtet haben und sich gar nicht unterbringen lassen wollen. Sie haben sich von der Gesellschaft verabschiedet. Diesen Menschen können wir nur Hilfen zum Überleben anbieten.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.