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Obdachlose in WinterDas Sterben auf den Straßen beginnt

Hamburg zwingt Obdachlose, trotz Minusgraden tagsüber die Gebäude des Winternotprogramms zu verlassen. Ein erstes Kälteopfer gibt es wohl seit Montag.

Schon länger und vergeblich kämpfen Helfende in Hamburg für ein ganztägig offenes Winternotprogramm Foto: Markus Scholz/dpa

Hamburg taz | Jedes Jahr wieder gibt es in Hamburg politischen Streit darum, ob es richtig ist, dass die Stadt die rund 700 Menschen, die in zwei Groß-Unterkünften im Winternotprogramm übernachten, tagsüber von 9.30 bis 17 Uhr auf die Straße schickt. Die SPD-geführte Sozialbehörde hält eisern daran fest. Daran änderten auch die eisigen Temperaturen der jüngsten Tage nichts.

Gefragt, ob die Menschen auch angesichts der aktuellen Kälte die Notunterkünfte tagsüber verlassen müssen, erklärte Behördensprecher Martin Helfrich am Donnerstag früh um 10.10 Uhr: „Bei besonderen Wetterlagen gibt es die Möglichkeit der Tagesöffnung, eine entsprechende Wetterwarnung des DWD liegt bislang noch nicht vor.“

Zu dem Zeitpunkt hatten die Menschen ihre Unterkünfte in der Friesenstraße in den Stadtteilen Hammerbrook und Billbrook schon seit 40 Minuten verlassen müssen. Sie sollen – so die Theorie – zu Tagesaufenthaltsstätten in anderen Stadtteilen fahren, wo sie auch etwas zu essen bekommen. Doch die sind nicht immer offen und haben auch nur begrenzt Plätze.

Und ein Blick aufs Thermometer zeigte minus drei Grad. Der Deutsche Wetterdienst (DWD) warnt für Norddeutschland vor Schnee und kalten Temperaturen. Für Hamburg galt am Donnerstag Vormittag die gelbe „Warnstufe 1“, laut einer Sprecherin hieß das Schnee bis fünf Zentimeter und Kälte bis minus fünf Grad. Nördlich von Hamburg galt die orange „Warnstufe 2“, mit Schnee bis zehn Zentimetern. Im Lauf des Tages weitete sich diese orange Zone auf der Karte rund um Hamburg Richtung Niedersachsen aus.

Schnee in ganz Norddeutschland

„Jeder Mensch, der aus dem Fenster guckt und überlegt, will ich da draußen stundenlang rumlaufen, sagt: nein, will ich nicht, weil es ungesund ist“, sagt Jörn Sturm, Geschäftsführer des Straßenmagazins Hinz & Kunzt. „Herr Helfrich guckt auf den Wetterbericht, das ist der Fehler.“ Der Deutsche Wetterdienst habe nicht die Aufgabe, der Sozialbehörde zu sagen, ob es menschenwürdig ist, bei dieser Kälte draußen zu sein.

Bei diesen kalten Temperaturen bestehe für die oft gesundheitlich geschwächten Menschen eine „Gefahr für Leib und Leben“, sagt Ronald Kelm vom Gesundheitsmobil, das ehrenamtlich Obdachlose medizinisch versorgt. „Einen Schutz vor Erfrieren muss es auch von 9.30 bis 17 Uhr geben.“ Deshalb müsse unbedingt die Winterunterkunft tagsüber offen sein.

Der 58-jährige Pole habe vor einem Supermarkt gelegen – mit einer Körpertemperatur von unter 30 Grad

Das Gesundheitsmobil habe vergangene Woche durch das Ausstellen eines ärztlichen Attests für zwei Menschen erreicht, dass sie drinnen bleiben durften. „Der eine hatte eine Lungenentzündung, der andere konnte kaum gehen“, sagt Kelm.

„Dass Menschen trotz der eisigen Temperaturen tagsüber das Winternotprogramm verlassen müssen, ist unmenschlich und macht mich fassungslos“, sagt die Linken-Politikerin Stephanie Rose. Im Winter 2020/2021 seien binnen weniger Wochen 13 Menschen auf Hamburg Straßen verstorben. „Das darf sich nicht wiederholen“.

Polizei fand Mann ohne Puls und Atmung

Ein erstes Kälteopfer in diesem Winter gibt es offenbar seit Montag. Ein Obdachloser habe vor einem Supermarkt nahe des Hauptbahnhofs gelegen – mit einer Körpertemperatur von unter 30 Grad. Die Polizeipressestelle bestätigt, dass es am Abend des 5. Dezember so einen Einsatz dort gab.

„Polizisten bemerkten eine leblos wirkende Person. Es konnten weder Puls noch Atmung festgestellt werden. Es wurden Reanimationsmaßnahmen durchgeführt und die Person durch die Feuerwehr ins Krankenhaus verbracht“, heißt es auf Nachfrage. Am Montag ist der 58-jährige Pole verstorben. Die Ermittlungen zur Todesursache laufen noch an, so die Polizei weiter. Es gebe keinen Hinweis auf Fremdverschulden.

Auch Klaus Wicher, der Hamburger Landesvorsitzende des Sozialverbandes (SovD), unterstützt die Kritik am Winternotprogramm. Zwar werde dort inzwischen einiges besser gemacht, aber dass die Menschen tagsüber in die Kälte müssen, sei „unmenschlich“ und gehe an die Substanz der Gesundheit. „Die Menschen sind ständig auf der Suche nach einem warmen Ort, werden oftmals vertrieben und müssen wieder in die Kälte.“

Besonders besorgt sei er um die obdachlosen EU-Bürger aus Polen, Rumänien und Bulgarien, die aufgrund ihres Status nicht einmal Anspruch auf den Schlafplatz im Winternotprogramm haben – so wie der am Montag Verstorbene. Für sie gibt es nur eine Wärmestube mit Sitzplätzen. „Das finden wir nicht in Ordnung“, sagt Wicher. „Was spricht dagegen, diesen Menschen ein Bett zu geben und mit ihnen ins Gespräch zu kommen?“

Der SoVD ist im Verwaltungsausschuss der Sozialbehörde vertreten, in dem auch über das Winternotprogramm gesprochen wird. Er habe dort auf das Problem hingewiesen, sagt Wicher, bekomme aber zur Antwort, dass Hamburg, wenn das Winternotprogramm zu gut sei, Obdachlose anlocken könnte. Wicher: „Ich habe Zweifel, ob das stimmt.“

Aktualisierung: Etwa eine halbe Stunde nach Erscheinen dieses Berichts schickte die Stadt eine Mail an verschiedene Hilfseinrichtungen, dass das Winternotprogramm „während der anhaltenden Kälteperiode“ täglich zwei Stunden länger geöffnet habe. Die Menschen müssten die Räume erst um 10.30 Uhr verlassen und könnten schon um 16 Uhr zurück. Allerdings soll das nur für drei Tage bis einschließlich Sonntag gelten. Denn ab kommender Woche werde ja wieder „mit milderen Temperaturen gerechnet“. Nur: Am Montag soll es regnen und mit minus zwei bis plus sechs Grad ist es immer noch zu kalt fürs Draußenleben.

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5 Kommentare

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Kommentarpause ab 30. Dezember 2024

Wir machen Silvesterpause und schließen ab Montag die Kommentarfunktion für ein paar Tage.
  • "Antwort, dass Hamburg, wenn das Winternotprogramm zu gut sei, Obdachlose anlocken könnte."



    Genau.



    Weil der Mensch ist nunmal schlecht, faul und gierig. Der kommt nach Deutschland wegen der sozialen Hängematte und der zum Ramschpreis erhältlichen Staatsbürgerschaft (die Vetreibung der Eingeborenen aus Mitteleuropa nicht zu vergessen), der arbeitet nur, wenn er mittels Hartz 4 Sanktionen dazu gezwungen wird und er übernachtet winters auf der Strasse. um die Behörden zur Öffnung der Notunterkünfte zu zwingen.



    Man muss sich ja schämen, zu dieser Spezies zu gehören.

  • Danke, dass die taz engagiert berichtet, denn Hinschauen schenkt Respekt.



    Das "Problem" könnte mit genügend finanziellen Mitteln, Personal und genug Wohn-Containern sofort gelöst werden. Aber fast nichts geschieht.

    Wie soll das bundesweite Wohnungsproblem jemals gelöst werden, wenn die Bundesregierung beim bundesweiten Neubauprogramm mit ihrem Neubauziel kaum voran kommt?

    19.000 Menschen sind allein in Hamburg wohnungslos. Viele Ukrainer wollen zurecht hierbleiben, suchen eine Wohnung in Hamburg.

    Obdachlosigkeit und die riesige Zahl an fehlenden Wohnungen hängen als Problem zusammen.

    Die AWO analysiert:

    Trotz des ambitionierten Wohnungsbauprogramms des Senats hat die Zahl der für die hamburgischen Haushalte zur Verfügung stehenden



    Wohnungen zwischen 2011 und 2020 um 5.760 Wohneinheiten abgenommen.



    Gründe sind die Zunahme der Haushalte sowie der Verlust von Wohnungen etwa



    durch Abriss oder Umwandlung. Die steigenden Mieten verknappen in nie



    dagewesenem Ausmaß das Mietwohnungsangebot für einkommensschwache



    Haushalte. Obwohl Hamburg also erhebliche personelle und finanzielle Ressourcen für die



    Wohnungspolitik und zur Bekämpfung der Wohnungslosigkeit mobilisiert hat, ist die



    Zahl der wohnungslosen Menschen und der Wohnungsnotfälle in den vergangenen Jahren sehr stark angestiegen und steigt weiter an.

    Die AWO forderte wie die Linke einen Aktionsplan für Obdachlose bis zum Jahr 2030, den Grüne und SPD ablehnten.



    Scholz könnte in seiner Weihnachtsansprache auf die Probleme an seinem Wohnsitz Hamburg eingehen.



    Denn es braucht nicht nur einen großen Wumms bei der Bundeswehr, sondern auch beim Thema bundesweite Wohnungslosigkeit, Obachlosigkeit und hierbleibende Ukrainer und andere Flüchtlinge.

    www.agfw-hamburg.d...ohnungsloskeit.pdf

  • Hamburg hat also Angst, dass ein gutes Notprogramm Obdachlose anlockt? Dann lieber ein Notprogramm, dass den Winter die Probleme lösen lässt, oder wie?



    Und wieso wird in einer Notunterkunft nach dem Ausweis gefragt? Glauben die, dass jemand sich dort einfindet, der nur keine Lust auf seine eigene Wohnung hat?

  • "Die SPD-geführte Sozialbehörde hält eisern daran fest."

    Wie sozial ist es denn, Menschen vorsätzlich einer Gefahr für Leib und Leben auszusetzen, und wie menschenwürdig (Art. 1 GG) ist es, einen solchen Zustand vorsätzlich zu erhalten? Und was ist mit dem S in SPD wirklich gemeint?

    Da gibt es recht viele offene Fragen. Doch die sofortige Anwort, wenn auch nur als Notbehelf sollte lauten: Jeder ist jetzt gefordert, und auch diejenigen, die die SPD gewählt haben, und sogar solche, die sonst am liebsten wegschauen, es sei denn, es betrifft ihre eigene Menschenwürde.

    • @wxyz:

      Die hamburgische Linie lautet: Die im GG geforderte Menschenwürde darf nur so attraktiv sein, dass sie nicht zu viele in Anspruch nehmen wollen.