Norbert Röttgen über die Corona-Folgen: „Wir müssen Empathie aufbringen“
Europa dürfe nicht ein Kontinent tiefer Ungleichheiten werden, sagt Norbert Röttgen. Der CDU-Politiker fordert „Cash“ für die besonders pandemiegeplagten EU-Länder.
taz: Herr Röttgen, Krisenzeiten sind immer Zeiten der Exekutive. Deshalb sind Armin Laschet und Markus Söder medial gerade omnipräsent. Ärgern Sie sich da nicht, dass Sie kein Regierungsamt mehr haben?
Norbert Röttgen: Nein, so ist nun mal die Situation. Wir befinden uns in einer außergewöhnlichen und gefährlichen Lage. Da ist es einfach so, dass diejenigen, die jetzt in den zuständigen Ämtern sind, die Aufgabe haben, schnell, effektiv und überlegt zu handeln – und das auch zu kommunizieren. Damit habe ich überhaupt kein Problem.
In puncto CDU-Vorsitz läuft es aber für Sie und Ihren Mitkandidaten Friedrich Merz derzeit nicht so gut, oder?
In einer solchen Krise haben manche Dinge, die vorher ganz wichtig und dringlich erschienen sind, erst mal keine Bedeutung mehr. Das gilt zum Beispiel für die Neuwahl eines Parteivorsitzes. Dieser Wettbewerb hat momentan Pause, aber wir werden irgendwann auch wieder Zeiten haben, in denen andere Themen zurück in den Fokus kommen. An der Begründung für meine Kandidatur hat sich durch Corona nichts geändert. Im Gegenteil: Die Pandemie wirkt als enormer Beschleuniger bereits vorhandener Krisen, mit denen ich mich immer sehr beschäftigt habe. In der Frage des CDU-Vorsitzes ist deswegen noch nichts entschieden, sondern weiterhin alles offen.
Laschet und Söder erscheinen derzeit als Antipoden im Streit über die Dauer der Corona-Restriktionen. Sind Sie eher beim Lockerungsdrängler Laschet, dem kein Möbelhaus schnell genug geöffnet sein kann, oder beim Lockerungsbremser Söder, der es nur bei der Fußballbundesliga eilig hat?
Ich will nicht das persönliche Agieren des einen wie des anderen kommentieren und bewerten. In der Sache sehe ich das so: Entscheidend ist, die Pandemie unter Kontrolle zu kriegen. Manche tun so, als müsse man die Pandemie in ihren Folgen für die Gesundheit und den Lockdown in seinen Folgen für die Wirtschaft gegeneinander abwägen, als wären da zwei Gefahrenquellen. Das halte ich für falsch, denn dieser Auffassung liegt ein Denkfehler zugrunde. Nach meiner Einschätzung ist die Pandemie die Gefahrenquelle − und zwar für die Gesundheit, für die sozialen Friktionen und für die Wirtschaft. Und der Lockdown ist die Strategie, diese Gefahrenquelle unter Kontrolle zu bekommen, um die Schäden sowohl im Umfang als in der zeitlichen Dauer zu beschränken.
Und was folgt daraus?
Ich plädiere dafür, dass wir zur Begrenzung aller Schäden – der gesundheitlichen, der sozialen und der wirtschaftlichen – auf Nummer sicher gehen. Das Drängen, es müsse nun Lockerungen geben, macht es schwieriger. Also ich bin ein Mahner für Vorsicht und Sicherheit. Wenn wir zu früh lockern, dann laufen wir große Gefahr, dass das Geschehen außer Kontrolle gerät.
Womit Sie ganz auf der Linie der Kanzlerin sind. Angela Merkel hat Sie 2012 aus dem Kabinett geschmissen. Was halten Sie nun von ihrem Krisenmanagement?
Ich finde, Angela Merkel macht das wirklich gut. Das zeigt sich sowohl an den Ergebnissen in der Sache als auch in dem Vertrauenszuspruch der Bevölkerung. Ihr Handeln ist transparent, ihre Sprache klar. Sie kommuniziert direkt mit der Bevölkerung, und zwar ohne Dinge zu verschweigen oder zu beschönigen. Wie die deutsche Regierungschefin agiert, ist aus meiner Sicht absolut vertrauensbegründend. Es sollte zu einer der Lehren aus dieser Krise gehören, dass ein solcher Stil, der die Bürger ernst nimmt, stärker Einzug in die Politik erhält.
Die Coronakrise stellt auch den Zusammenhalt in der EU auf eine schwere Probe. Sie haben gefordert, dass wir in der Stunde großer Not „ein kategorisches Ja zur Solidarität innerhalb der EU“ bräuchten. Was heißt das konkret?
Auch wenn das Virus nicht nach Nationalität unterscheidet, sind die EU-Länder verschieden betroffen, auch weil sie in unterschiedlicher wirtschaftlicher Verfassung sind. Wirtschaftlich schwächere Länder wie Italien brauchen deshalb Unterstützung von stärkeren wie Deutschland. Aus Solidarität, aber auch aus Eigeninteresse müssen wir diesen Staaten helfen. Wir dürfen nicht zulassen, dass ein Europa tiefer Ungleichheiten entsteht − das wäre weder als Währungsunion noch als politische Union bestandsfähig.
Nach wochenlangem Streit über Coronabonds haben sich die Staats- und Regierungschefs nun immerhin auf einen sogenannten Wiederaufbaufonds geeinigt. Allerdings sind viele Details noch offen. Auch, ob das Geld entweder in Form von Krediten fließt − oder als Zuschüsse, die nicht zurückgezahlt werden müssen. Wofür plädieren Sie?
Die Einrichtung eines solchen Fonds halte ich für wegweisend. Er sollte so ausgestaltet werden, dass er eine Antwort auf die Probleme der schwächeren Staaten gibt. Ein zentrales Problem von Ländern wie Italien ist ihre enorme Staatsverschuldung. Das macht es für sie schwierig, am Finanzmarkt Kredite zu bekommen. Der Teufelskreis einer immer weiter steigenden Verschuldung muss durchbrochen werden, und das geht nicht mit Krediten. Diese Staaten brauchen Cash in Form von Zuschüssen.
Das Coronavirus macht auch vor der größten Regierungspartei Deutschlands keinen Halt: Eigentlich hatte die CDU am vergangenen Wochenende ihren neuen Vorsitzenden küren wollen, doch vereitelte diesen Plan die Pandemie. Nach derzeitigem Stand wird nun auf dem regulären Parteitag im Dezember in Stuttgart entschieden, wer die Nachfolge von Annegret Kramp-Karrenbauer antritt. Aber wer weiß schon, ob es wirklich dabei bleibt.
Offiziell als Kandidaten für den CDU-Vorsitz nominiert sind neben Norbert Röttgen noch der nordrhein-westfälische Ministerpräsident Armin Laschet und der frühere CDU/CSU-Bundestagsfraktionsvorsitzende Friedrich Merz. Daneben gibt es nach Angaben des Konrad-Adenauer-Hauses noch rund ein Dutzend weitere Bewerber:innen, die bislang allerdings weder mit ihren Ambitionen an die Öffentlichkeit gegangen sind, noch die satzungsrechtlich erforderliche Nominierung durch eine Parteigliederung vorweisen können.
Wer auch immer das Rennen um den CDU-Vorsitz macht: Es gibt keinen Automatismus, dass er auch Kanzlerkandidat der Union für die nächste Bundestagswahl wird. Denn da hat die CSU und deren Chef Markus Söder noch ein gewichtiges Wörtchen mitzureden. Auch wenn sich der bayrische Ministerpräsident immer noch so gibt, als würde er nicht einmal darüber nachdenken: Es ist nicht ausgeschlossen, dass Söder doch noch dem Beispiel seiner Vorgänger Franz Josef Strauß (1980) und Edmund Stoiber (2002) folgen und selbst als Kanzlerkandidat antreten will. Auch darauf könnte die Coronakrise einen nicht unbedeutenden Einfluss haben. (pab)
Friedrich Merz unterstellt Italien, nur deshalb Coronabonds zu fordern, um von eigenen Defiziten beim Sanieren des Staatshaushalts abzulenken. Der Süden als Schuldenmeister – was halten Sie von solchen Schuldzuweisungen angesichts der gegenwärtigen Not in Italien oder auch Spanien?
Für mich ist entscheidend, dass Länder wie Italien und Spanien von der Pandemie hart getroffen sind. Deshalb erleben wir dort eine akute Phase des Verletztseins. Daraus schließe ich: Wir müssen erstens Empathie aufbringen, zweitens diesen Ländern helfen und uns drittens vor Augen führen, wie sehr wir selbst von Europa profitieren. Das ist meine Position − die sich womöglich von der anderer in meiner Partei unterscheidet.
Bitter ist auch weiterhin die Situation der Geflüchteten auf den griechischen Inseln. Neben Luxemburg hat nur Deutschland bislang 47 Minderjährige aus Griechenland aufgenommen. Andere EU-Staaten wie Frankreich haben ihr Ja zur Aufnahme wegen Corona zurückgenommen. Ist das nicht ein Armutszeugnis?
Auch Frankreich ist härter von der Pandemie getroffen als wir. Deshalb will ich hier niemanden verurteilen. Gleichwohl sind alle EU-Länder in der Verantwortung. Einmal gegenüber den Menschen, die auf den Inseln in unzumutbaren Zuständen leben. Aber auch gegenüber dem EU-Mitglied Griechenland, das unsere innereuropäische Solidarität verdient. Deshalb ist es wichtig, nicht nur zu fordern, sondern auch praktisch voranzugehen. Das haben wir getan, indem wir die ersten Kinder aufgenommen haben. Bei der Zahl kann es aber nicht bleiben.
Bislang ist die deutsche Ansage, auch Ihrer Partei: Mehr als die vereinbarten 350 bis 500 Flüchtlingskinder sollen nicht nach Deutschland kommen. Wäre es angesichts der katastrophalen Situation in den griechischen Lagern nicht ein Akt christlicher Nächstenliebe, weitaus mehr Menschen aufnehmen?
Ich finde, Politik muss realistisch sein. Sie wird auch daran gemessen, was sie erreicht. Wenn wir von den aktuell 50 Menschen eine Verzehnfachung auf 500 schaffen, wäre das für die anderen EU-Staaten ein glaubwürdiges Zeichen, dieser Politik zu folgen. Die Aufnahme muss breiter getragen werden als nur von Deutschland.
ist Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses des Bundestags. Von 2009 bis 2012 war der 54-Jährige Bundesminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit. Mitte Februar kündigte der Rheinländer an, dass er für den CDU-Vorsitz kandidiert.
Der jüngst verstorbene Norbert Blüm hat noch als 80-Jähriger mit Geflüchteten in Griechenland gezeltet, um auf die Not der dort lebenden Menschen aufmerksam zu machen. Wird jemand seinen Platz in Ihrer Partei als Stimme des Gewissens einnehmen?
Ich habe für Norbert Blüm die höchste Wertschätzung und Sympathie. Er ist nicht zu ersetzen. Und er war es nie. Das war ja auch einer der Gründe, warum er trotz Meinungsverschiedenheiten sechzehn Jahre lang Minister bei Kohl war. Für mich ist er ein großes Vorbild.
Hätte die CDU öfter auf ihn hören sollen?
Ganz sicher, ja. Daraus ist nicht zwingend abzuleiten, dass er immer recht gehabt hätte. Aber wir hätten auf Norbert Blüm in unserem eigenen Interesse häufiger und besser hören sollen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nach dem Anschlag in Magdeburg
Rechtsextreme instrumentalisieren Gedenken
EU-Gipfel zur Ukraine-Frage
Am Horizont droht Trump – und die EU ist leider planlos
Bundestagswahl am 23. Februar
An der Wählerschaft vorbei
Anschlag in Magdeburg
„Eine Schockstarre, die bis jetzt anhält“
Exklusiv: RAF-Verdächtiger Garweg
Meldung aus dem Untergrund
Russische Männer auf TikTok
Bloß nicht zum Vorbild nehmen