Neuwahl in Großbritannien: Brexit könnte noch Jahre dauern

Derzeit sieht es nach einem Sieg der Tories aus. Aber es kann auch anders kommen – mit teils kuriosen Folgen für den Brexit. Drei Szenarien.

Anti-Brexit Demonstrant mit Gesichtsbemalung der britischen Flagge vor einer EU-Fahne

Geduld, Geduld. Mitte Dezember ist es ja soweit Foto: Kristy Wigglesworth/ap

BERLIN taz | In Großbritannien wird am 12. Dezember vorzeitig gewählt. So soll die Pattsituation im Parlament überwunden werden, die seit Monaten eine endgültige Entscheidung über den Ausstieg aus der Europäischen Union verhindert. Derzeit liegen die Tories von Boris Johnson in Umfragen vorn. Der Ausgang des Wahlkampfes ist aber ungewiss. Drei Szenarien sind denkbar – mit sehr unterschiedlichen Folgen für den Brexit.

1. Wenn die Tories eine absolute Mehrheit gewinnen

Ein klarer Sieg der Konservativen mit einer deutlichen absoluten Mehrheit im Parlament gilt als der wahrscheinlichste Wahlausgang.

In diesem Fall wäre der weitere Kurs Großbritanniens in Sachen Brexit vorgezeichnet: Das neue Austrittsabkommen, das Boris Johnson vor zwei Wochen mit der EU ausgehandelt hat, wird zügig vom Parlament ratifiziert. Am 31. Januar 2020 verlässt Großbritannien die EU mit diesem „Deal“.

Danach beginnt eine derzeit auf Ende 2020 befristete Übergangszeit, in der die EU-Regelwerke zunächst weiter in Großbritannien gelten und in der ein Handelsabkommen für die Zeit danach ausgehandelt wird. Eine erneute Verlängerung der Übergangszeit ist möglich, müsste aber bis Mitte 2020 auf den Weg gebracht werden.

Das Ziel eines „umfassenden Freihandelsabkommens“ mit der EU bekräftigte Johnson erneut im Parlament bei seiner letzten Fragestunde vor den Wahlen. Es sollten keinerlei Zölle oder Quoten zwischen der EU und Großbritannien eingeführt werden.

Anders als noch unter Theresa May vorgesehen soll aber Großbritannien die Möglichkeit haben, von EU-Regeln abzuweichen. Im Parlament nannte Johnson als Beispiele: höhere Standards im Tierschutz, mehr Steuererleichterungen für Unternehmen und Freihäfen und eine großzügigere Regulierung von Biotechnologie.

Eine Senkung geltender europäischer Umwelt- und Sozialstandards schließt Johnson aus. Labour wirft ihm aber genau dieses Ziel vor, weil er die automatische zukünftige Befolgung von EU-Regeln in diesen Bereichen aus dem Deal gestrichen und in die unverbindliche „politische Erklärung“ über die Rahmenbedingungen eines Handelsabkommens verschoben hat. Labour behauptet auch, nach dem Brexit wolle Johnson den staatlichen britischen Gesundheitsdienst NHS für US-Unternehmen öffnen – Johnson sagt dazu, der NHS bleibe unangetastet.

2. Wenn Labour eine absolute Mehrheit gewinnt

Mit einer absoluten Labour-Mehrheit rechnet in Großbritannien so gut wie niemand, aber der Labour-Wahlkampf ist auf eine Alleinregierung ausgerichtet. Sollte es Jeremy Corbyn gelingen, alleine eine Regierung bilden zu können, wäre die Zukunft des Brexit völlig offen.

Labour lehnt das Austrittsabkommen, das Boris Johnson mit der EU ausgehandelt hat, ab und würde es voraussichtlich nach einem Wahlsieg nicht weiterverfolgen. Stattdessen möchte die Partei mit der EU Neuverhandlungen führen, mit dem Ziel eines viel weicheren Brexit, in dem Großbritannien im Europäischen Wirtschaftsraum und in der EU-Zollunion bleibt.

Ein solches Abkommen würde den Briten in einer Volksabstimmung zur Annahme vorgelegt werden. Die Wähler könnten sich zwischen Labours Deal, den Corbyn als „vernünftig“ bezeichnet, und einem EU-Verbleib entscheiden.

Kurios ist, dass weite Teile Labours bis hinauf zu Vizeparteichef Tom Watson dafür sind, für den EU-Verbleib zu werben. Sie wollen Labour auch im Wahlkampf als „Remain-Partei“ positionieren, um vor allem Jungwähler nicht an Liberaldemokraten, Grüne oder schottische Nationalisten zu verlieren. Denn nur wenn die junge Generation Corbyn so massiv wählt wie 2017, hat Labour eine Siegchance.

Folglich wäre Labours Brexit-Kurs, erst mit der EU einen neuen Deal auszuhandeln und dann in Teilen der eigenen Partei bei einer Volksabstimmung gegen diesen Deal und für den EU-Verbleib zu trommeln. Corbyn selbst will bei einer Volksabstimmung neutral bleiben und „umsetzen, was das Volk entscheidet“.

3. Wenn keine Partei eine absolute Mehrheit bekommt

Keine Mehrheit für niemand und ein zersplittertes Parlament wie heute – das gilt zwar nicht als der wahrscheinlichste Wahlausgang, aber auszuschließen ist er nicht. Für den Brexit würde das bedeuten, dass die Beschlussunfähigkeit und Lähmung in Westminster, zu deren Beendigung die Neuwahlen angesetzt wurden, weitergeht.

Den neuverhandelten Brexit-Deal ins neugewählte Parlament einzubringen und auf eine Annahme bis Ende Januar zu hoffen, würde wahrscheinlich nur geschehen, wenn eine konservative Minderheitsregierung unter Boris Johnsons Führung im Amt bliebe.

Aber Johnsons Autorität wäre dahin, die Erfolgsaussichten wären ungewiss. Eine weitere Brexit-Verschiebung Ende Januar 2020 wäre wahrscheinlich, weil der Druck wachsen würde, das Volk per Referendum entscheiden zu lassen.

Ein unverzügliches zweites Brexit-Referendum wäre auch der Preis, den Liberaldemokraten und schottische Nationalisten für die Unterstützung einer Labour-Minderheitsregierung verlangen würden. Die Liberaldemokraten verlangen zudem einen anderen Premierminister als Jeremy Corbyn, die Schotten ein neues Unabhängigkeitsreferendum.

Letzteres würde vermutlich bedeuten, den Brexit auszusetzen, bis klar ist, wie groß Großbritannien hinterher noch ist. Sollte auf ein zweites britisches Brexit-Referendum ein Schottland-Referendum folgen, das zur schottischen Unabhängigkeit führt, wäre sicherlich ein drittes britisches Brexit-Referendum ohne Schottland nötig. In jedem Fall würde es Jahre dauern, bis ein Brexit vollzogen oder abgesagt werden kann.

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