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Neue Realitäten im Ukraine-KriegGeorge Orwell neu lesen

Der russische Krieg gegen die Ukraine dauert schon über zwei Monate. Und die russischen Nachrichten über diesen Krieg werden immer absurder.

„Dieser Krieg dauert schon zwei Monate, die wie eine Ewigkeit erscheinen“ Foto: Emilio Morenatti/ap

A us Sankt Petersburg

Война и мир – дневник

Чтобы как можно больше людей смогли прочитать о последствиях войны в Украине, taz также опубликовал этот текст на русском языке: here.

Das Schlimmste, was mir hätte passieren können, wäre gewesen, mich an den Krieg zu gewöhnen. Aber ich habe mich daran gewöhnt. Der Schrecken und die Trauer der ersten Tage sind vorbei. Geblieben ist eine zähe, schleimige Niedergeschlagenheit. Um mich herum scheint alles wie mit Raureif überzogen, wie unter einer dicken Eisschicht. Seit zwei Monaten greifen alle psychischen Schutzmechanismen. Über alles, was wir konnten und nicht konnten, haben wir lange diskutiert, geschrieben, gestritten, gekämpft und uns wieder versöhnt. Und jetzt?

Bei uns im Büro haben wir aufgehört, die Nachrichten zu diskutieren. Nur alle paar Tage fragt jemand: „Was ist mit den Verhandlungen, haben sie sich geeinigt?“ Nein, sie haben sich nicht geeinigt. Vermutlich werden sie sich nie einigen. Vermutlich wird es lange dauern, vielleicht hört es nie auf. Dieser Krieg dauert schon zwei Monate, die wie eine Ewigkeit erscheinen.

Ich schreibe meiner Freundin eine Nachricht, und frage, wie es ihr geht. Sie antwortet: „Wie es allen geht. Kind, Haushalt, Job, Krieg.“ „Wie es allen geht“ – das ist die beliebteste Antwort gerade. Man sagt natürlich nicht „schlecht“. Denn „schlecht“ ist es nicht bei uns, sondern dort, wo geschossen wird. Und „normal“ antwortet man auch nicht mehr. Weil es „normal“ ist, wenn kein Krieg ist oder wenn man ihn vergessen hat. Aber wir haben ihn nicht vergessen. Wir haben uns daran gewöhnt. Der Krieg ist einfach da.

Olga Lizunkova

ist Journalistin und Videoproduzentin. Sie lebt und arbeitet in St. Petersburg.

War es vor einem Monat noch unmöglich, sich vom Strom der Nachrichten zu lösen, verbringt man damit jetzt noch etwa eine Stunde pro Abend: Analysen, eine Reportage aus der Ukraine, und natürlich die russischen Nachrichten – eine wilder als die andere. „Ein Kindertrainer wurde beschuldigt, die Streitkräfte zu diskreditieren. Er hat den Buchstaben Z von der Tür einer Sportschule entfernt.“

„Ein Lehrer wurde wegen eines Posts über den Krieg in den sozialen Medien entlassen.“ „Von September an wird am Anfang jeder Unterrichtswoche in den Schulen die Nationalhymne gesungen.“ „In Kurgan verkauft man jetzt Osterkuchen, die mit dem Buchstaben Z verziert sind.“

Und zwischen all dem in den Regionalnachrichten tauchen neue Bilder gefallener Soldaten auf. Wenn ich mit der Metro zur Arbeit fahre, achte ich manchmal aus Neugier darauf, welche Bücher die anderen Fahrgäste lesen. Schon mehrmals habe ich dabei „1984“ von George Orwell entdeckt. Das ist, so scheint mir, überhaupt das meisterwähnte Buch der letzten Monate.

Wenn man darüber spricht, fügt man jetzt noch einen traurigen Scherz an: „Zu spät, jetzt noch Orwell zu lesen. Wir leben schon längst in seiner Realität.“

Aus dem Russischen Gaby Coldewey

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21 Kommentare

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  • Deutschland und Europa bleiben auf Russland angewiesen. Und umgekehrt.

    Das schließt es aus, es sich gänzlich mit Russland zu versauen.

    Trotz des häßlichen Krieges werden wir Russland weiter brauchen als Energielieferanten und als Absatzmarkt. Wer nichts liefert, wie will der Gas , Kohle und Öl bezahlen ?

    Maximalen Druck können wir uns nicht leisten, ohne selbst zu zerbrö-seln.Und als Semmelbrösel wird die deutsche Industrie nicht gut überleben können.

    Die Forderung eines anderen Lesers, den Krieg auf russischem Boden auszutragen, erscheint als unverantwortlich.

    Die Ukraine soll alles bekommen, was zur guten Selbstverteidigung erforderlich ist.Auch von Deutschland.

    Wer aber das Gewaltverbot der UN ernst nimmt und auch das Recht zu Selbstverteidigung, der wird nicht den Krieg aus erzieherischen Gründen nach Russland tragen wollen.

    Napoleon hat es versucht. Ein österreichischer Gefreiter auch. Ist schiefgegangen. Also: Keine Experimente !

  • Dann fragen sie aber auch mal die Lindners dieses Landes, großspurig Solidarität bekunden dafür aber nicht mal für einen Cent Benzin sparen.

  • neu lesen? manchmal reicht es, wenn man sich seine Vorworte vornimmt, beugt Missverständnissen vor.



    „In einem wenig bekannten Vorwort zu seiner 1945 erschienenen Fabel »Farm der Tiere« schrieb George Orwell, sein Buch mache sich über die diktatorische Sowjetunion lustig. In seiner demokratisch verfassten Heimat England aber, so Orwell, gehe es gar nicht so viel anders zu: Menschen mit eigenen Vorstellungen und Gedanken, die jenseits der geltenden Herrschaftsmeinung liegen, würden verdrängt.“ (nd)

  • Von Friedensverhandlungen ist doch im Augenblick garkeine Rede mehr.



    Im Gegenteil. USA, die Nato und Europa schauen sich auf Ihren Satelittenbildern ganz genau an was da gerade passiert.



    Und da hat man nach den ersten Kriegstagen gesehen wie schlecht koordiniert die Russen vorgehen. Wie unmotiviert und schlecht versorgt das Russische Militär ist und damit verwundbar. Und dann hat man gemerkt, dass wenn man die Ukrainische Armee nur gut genug ausstattet, sie in der Lage sind, die Russen und vor allem das russische Militärgerät, so stark zu dezimieren, und sie so geschwächt aus diesem Krieg herausgehen, das erst einmal die nächsten Jahre Ruhe herrscht.



    Im Prinzip machen die Ukrainer die Drecksarbeit und wir im Westen bezahlen dafür die waffen.

    • @Udo Welter:

      Das dezimieren ist eine Konsequenz des russischen Handels und hat nichts mit USA/Nato/europa zu tun.



      Alle drei würden liebend gerne sehen, dass die russen einfach das Feuer einstellen, nach Hause fahren, wo sie hingehören und die Ukraine und die gesamte Welt um Verzeihung für die Verbrechen bitten, die sie angestellt haben.

  • Was für Verhandlungen? Bisher hat keine Seite einen Kompromissvorschlag gemacht, über den es sich lohnen würde zu reden. Im Gegenteil, die meisten Parteien sind stramm auf Kriegskurs.

    • @Kappert Joachim:

      Sie erwarten von der Ukraine ernsthaft einen Kompromissvorschlag?



      Was soll sie also anbieten, damit Putins Soldateska vielleicht ein bisschen weniger mordet, foltert, vergewaltigt und das Land in Grund und Boden bombt?

    • @Kappert Joachim:

      die meisten Parteien?



      Es gibt genau eine Partei die auf Kriegskurs ist, und das ist Putin-Russland. Was wäre denn für Sie ein ukrainisches Friedens- / Kompromiss-Signal? Die Waffen niederlegen und dann beten?

    • @Kappert Joachim:

      "Im Gegenteil, die meisten Parteien sind stramm auf Kriegskurs."



      Insbesondere die eine, die alles angefangen hat und die entscheidend dafür ist, dass das Ganze nicht aufhört...

  • Was immer noch fehlt in D: Tempolimits 100, 80, 70 für LKWs und autofreie Sonntage. Das wäre ein klares Solidaritätssignal, das mehrfach positive Wirkung hat und kaum Einschränkungen ergäbe oder Insolvenzen. Weitere Energieeinsparungen müssen energisch angegangen werden, wenn schon Merkel fast alles verschlafen, verschleppt oder ausgebremst hat.

    • @Sarg Kuss Möder:

      Ich und Sie und wir alle können uns doch auch ganz ohne Anweisung von oben an derartige Limits halten.



      Ist doch mal ein Anfang und kann ich gelegentlich bei anderen beobachten.

  • Hört, hört, hört!!!

  • Der Krieg dauert zu lange

    und die Ukraine zehrt auch aus. Nicht nur die Russen haben Verluste, auch die Ukraine hat riesige Verluste, vor allem an Menschen.

    Der Aggressor lässt nicht erkennen den Frieden zu wollen, im Gegenteil, er nimmt die Moldau ins Visier.

    Der Aggressor sollte mehr unter Druck gesetzt werden, vor allem auch durch Angriffe auf seinem eigenen Territorium.



    Diese sich abzeichnende Erschöpfung setzt auch den Westen mit seiner Hilfe unter Zeitdruck. Friedensverhandlungen dienen eher als Alibi, so kann man die sich getrost sparen. Der Fokus der Diplomatie sollte sich darauf ausrichten den Aggressor schneller und intensiver zu isolieren.

    Will der Westen nicht später selbst in den Konflikt direkt eingreifen müssen, sollte er jetzt sämtliche Register ziehen den Aggressor in die Knie zu zwingen.

    Vor allem sollte die Rüstung umfangreich anlaufen. Ich denke der Bürger versteht und unterstützt das.

    Politisch sollte mehr Geschlossenheit gezeigt werden. Krieg erfordert Geschlossenheit und Solidarität, leider zu Weilen zu Lasten der Demokratie bis zum Ende des Konflikts.

    Selbst wenn der Aggressor mit nuklearer Vergeltung droht, er sollte zur Grenze seiner Aggression schneller gebracht werden. Er muss mit dem eigenen Untergang konfrontiert werden, sonst wird der Aggressor nicht einlenken und den Krieg bis zur Erschöpfung führen, wie er es in Tschetschenien und Syrien und anderen Kriegsschauplätzen schon tat.



    Dem muss man Rechnung tragen.



    Alles andere kann man sich sparen.

    • @Thomas Rausch:

      "Der Aggressor sollte mehr unter Druck gesetzt werden, vor allem auch durch Angriffe auf seinem eigenen Territorium."



      Äh, durch wen bitte?

    • @Thomas Rausch:

      Was ich mich frage ist was wollen Sie eigentlich verteidigen? Bisher ging es doch immer darum Freiheit, Demokratie, Menschenrechte und Völkerrecht zu verteidigen.



      Aber was Sie da entwerfen ist ein totalitärer Staat, da können wir uns wirklich besser Putin ergeben, da haben wir das Gleiche ohne Tote und Zerstörung.

      Noch mal die Highlights Ihrer Utopie:

      "Krieg erfordert Geschlossenheit und Solidarität, leider zu Weilen zu Lasten der Demokratie"



      " (der Aggressor) muss mit dem eigenen Untergang konfrontiert werden"



      "Der Aggressor sollte mehr unter Druck gesetzt werden, vor allem auch durch Angriffe auf seinem eigenen Territorium."



      "Friedensverhandlungen dienen eher als Alibi, so kann man die sich getrost sparen"

      Haben Sie das eigentlich aus irgendwelchen Staatsmedien abgeschrieben und einfach Feind durch Aggressor ersetzt? Hört sich so an.

    • @Thomas Rausch:

      "Politisch sollte mehr Geschlossenheit gezeigt werden. Krieg erfordert Geschlossenheit und Solidarität, leider zu Weilen zu Lasten der Demokratie bis zum Ende des Konflikts."



      Wie sagte doch der letzte deutsche Kaiser zu Beginn des Ersten Weltkrieges:"Ich kenne keine Parteien mehr , ich kenne nur noch Deutsche."



      Mit Demokratie hatte der auch nie viel am Hut bzw. Krone.

    • @Thomas Rausch:

      Folgt man dieser Logik weitet man den Konflikt lediglich aus, ändert aber meiner Meinung nichts. Und, genau genommen, das es soweit gekommen ist, daran trägt unsere Regierung, einige andere und auch die der Ukraine, einiges an Mitschuld. Versuche mal einer im Vorgarten, oder Hinterhof, wie man will, der USA zu spielen und es würde ähnliches passieren.

      Man kann sich beklagen darüber, sicher, aber wo sind die Stimmen welche die völkerrechtswidrigen Angriffe der Türkei auf die Kurden, oder der arabischen Allianz auf den Jemen und so weiter, verurteilen? Sterben dort nicht Zivilisten? Da schweigt man lieber und bringt allenfalls ein paar Randnotizen.

      Im Grunde kommt es für mich herrüber wie Heuchelei und messen mit zweierlei Maß.

      Nein, nur mit Verhandlungen und Diplomatie kann man das lösen. Alles andere macht es doch noch um so schlimmer und es würde sich wie ein Flächenbrand ausweiten.

      • @Ingo Bork:

        "Versuche mal einer im Vorgarten, oder Hinterhof, wie man will, der USA zu spielen und es würde ähnliches passieren."



        Von welchen Hinterhofspielereien ist hier die Rede? In wessen Hinterhof hat vor dem 24.2. wer genau verbotenerweise was gespielt?

        "wo sind die Stimmen welche die völkerrechtswidrigen Angriffe der Türkei auf die Kurden, oder der arabischen Allianz auf den Jemen und so weiter, verurteilen?"



        In diversen Zeitungen z. B,, einfach lesen.



        Und so traurig es aus einem ideal-moralistischen Standpunkt auch sein mag, das ist schlicht weiter weg und ruft weniger Interesse hervor.

        "Nur mit Verhandlungen und Diplomatie kann man das lösen."



        Verhandlungen verlaufen je nach vorher geschaffenen Rahmenbedingungen mal so und mal so. Wie man gerade am Beispiel Russlands sehen kann, das genehme Verhandlungsbedingungen für eine Landeserweiterung schaffen wollte, und damit bislang gescheitert ist.



        Zudem: verhandeln kann man nur, wenn's beide tun. Da sehe ich den Ball doch deutlich im östlichen Spielfeld...

        • @Encantado:

          In den Zeitungen und anderen Medien kann man davon zwar lesen, aber wenn die Verfolgten (z.Bsp. die Kurden) an der Grenze stehen oder über das Meer kommen, dann werden sie (falls sie nicht vorher ertrunken oder verhungert oder erforen sind) nicht mit offenen Armen empfangen und bekommen sofort Schutz sondern durchlaufen eine langwierigesVerfahren bis zur ihrer Anerkennung, Arbeitserlaubnis usw. Sind weiter weg leidende Menschen tatsächlich nicht so wichtig, interessant, schutzbedürftig.....?

        • @Encantado:

          Erstaunlicherweise bringen sich die US-Bürger auf ‚ihren‘ Höfen vor allem gegenseitig um, die enteigneten Ureinwohner zählen allerdings nicht.



          de.statista.com/st...llene-us-soldaten/

    • @Thomas Rausch:

      ja, ich denke auch, dass es doch ziemlich blöd ist, wenn der Westen sich seine Waffenlieferungen durch Russland zerstören lässt - falls das wahr ist. Hier müssen doch dringend die zerstörenden Kräfte ausser Gefecht gesetzt werden, und zwar mit jeglicher Unterstützung des Westens, nach dem Motto: wir schützen unsere Investitionen, mit allen Mitteln.