Buch über George Orwell als Gärtner: Die Blumen des Dystopikers

Die US-Schriftstellerin Rebecca Solnit hat für ihr neues Buch über George Orwells Leben als Gärtner recherchiert – eine anregende Lektüre.

Ein einsamer Drei-Seiten-Hof in den Hügeln der Hebriden, dahinter das Meer

Hier schrieb Orwell „1984“ und pflegte seinen Rosengarten: Barnhill, Insel Jura, Innere Hebriden Foto: Eric Martin/Le Figaro Magazine/laif

Der Titel dieses Buches ist überraschend, bringt er doch zwei Assoziationsbereiche zusammen, die wir normalerweise nicht zusammendenken. George Orwell ist den meisten von uns vor allem als Autor von „1984“ und „Die Farm der Tiere“, mithin als großer Dystopiker, linker Skeptiker und bitterer Satiriker ein Begriff. Ja, und dieser Mann hatte also Rosen? Und warum sollte uns das interessieren?

Diese leichte Irritation, die mit der mentalen Verarbeitung der unerwarteten Begriffszusammenstellung „Orwells Rosen“ einhergeht, ist der kleine Haken, den die versierte Essayistin Rebecca Solnit in unser Hirn schlägt, der Teaser, mit dem sie unsere Neugierde und unsere Aufmerksamkeit triggert und der uns einlädt, ihr auf ungewohnten Wegen zu folgen.

Wir erfahren sehr viel über George Orwell in diesem Buch; unter anderem auch (Orwell-KennerInnen wissen das natürlich sowieso), dass er eigentlich ganz anders hieß, nämlich Eric Blair. Warum er seinen Namen nicht beruflich verwenden wollte, wird nicht wirklich klar, Solnit umkleidet auch dieses Thema, wie viele andere, sorgsam mit einer Menge Hintergrundinformation und überlässt es uns selbst, Schlüsse aus den Fakten zu ziehen oder auch nicht.

Blair ist ein schottischer Nachname. George Orwell war in jungen Jahren dezidiert antischottisch eingestellt. Der Orwell ist ein Fluss in der Grafschaft Suffolk, eigentlich sogar nur ein Teilstück, der Unterlauf eines Flusses, der in die Nordsee mündet. Und „George“ bedeutet „Bauer“; außerdem ist der heilige Georg der Schutzpatron Englands.

Orwells Leben und Schreiben

Ausschnitthaft werden Aspekte von Orwells Leben und Schreiben beleuchtet. Seine politischen Ansichten, seine prekäre Gesundheit (er starb mit 46 Jahren an Tuberkulose), die Essays und Kolumnen, die er für Zeitungen und Radio schrieb; denn er lebte größtenteils vom Journalismus. Ein vollständiges Bild des Menschen George Orwell/Eric Blair entsteht in Solnits Buch nicht, aber das dürfte auch nicht in der Absicht der Autorin gelegen haben.

Es geht ihr darum, die Perspektive zu ändern, von einer ungewohnten Seite auf den berühmten politischen Autor zu blicken. Orwell war ein passionierter Gärtner, und noch mehr als das. Er legte nicht nur als junger Mann einen Garten mit Obstbäumen und Blumen an, sondern betrieb in späteren Jahren, sozusagen nebenbei, während er in der Nachkriegszeit an „1984“ schrieb, eine regelrechte Farm auf einer einsam gelegenen Hebrideninsel.

Viele seiner Essays handeln von der Natur; und er führte ein Alltagstagebuch, in das er detailliert eintrug, welche Gartenarbeiten er erledigt hatte, wie die Obstbäume trugen, welche Pflanzen blühten und welche schlecht gediehen.

Orwells Rosen und Obstbäume

Mit den Rosen hat es dabei eine besondere, eigentlich fast zufällige, Bewandtnis. Denn als Rebecca Solnit das Häuschen aufsucht, in dem der berühmte Autor in den dreißiger Jahren wohnte, steht dahinter ihr Anliegen, die Obstbäume zu besichtigen, die George Orwell einst gepflanzt hat. Doch während von den längst gefällten Bäumen nur noch vermooste Stümpfe übrig sind, finden sich überraschenderweise ein paar große, uralte Rosenbüsche im Garten, von denen die aktuelle Eigentümerin behauptet, sie seien dieselben, die Orwell einst gepflanzt habe.

Blumen bedienen eine zweckfreie Freude am Dasein, wie sie Linken verdächtig war

Diese Rosen geben Solnits Recherche, und damit dem Buch, das sie schreiben will und hiermit geschrieben hat, eine völlig neue Richtung. Denn während ein Obstbaum unter dem Nützlichkeitsaspekt betrachtet werden kann, da er Nahrung bedeutet, bedienen Blumen allein das ästhetische Empfinden und damit eine womöglich zweckfreie, dekadente Freude am Dasein, wie sie unter aufrechten Linken, zu denen Orwell schließlich gehörte, lange Zeit verpönt beziehungsweise geradezu ideologisch verdächtig war.

Diesem Gefühl der Freude, das durch die Rosen verkörpert wird, und der Verbundenheit mit der Natur, die sich in Orwells gärtnerischer Tätigkeit ausdrückt, spürt Solnit in Werk und Leben des Autors nach, betrachtet ihr Sujet aber auch von der anderen Seite aus: von der Seite der Rosen.

Sie schreibt über die Entstehung und die revolutionäre Bedeutung des Slogans „Brot und Rosen“ und seine philosophischen Implikationen, über die italienisch-mexikanische Fotografin Tina Modotti, die das wohl berühmteste Rosenbild der Fotografiegeschichte aufnahm, bevor sie zur beinharten Stalinistin wurde, und über die gigantischen Gewächshäuser in Kolumbien, in denen in fabrikmäßig organisierter Fließbandarbeit Abermillionen von Rosen für den nordamerikanischen Markt produziert werden.

Die Welt mit Worten erfassen

„Orwells Rosen“: Rebecca Solnit wird mit dem, was sie hier tut, dem Begriff „Essay“ insofern wortwörtlich gerecht, als sie immer wieder neu ansetzt, sich ihrem Doppelthema zu nähern. Jedes Schreiben kann immer nur ein Versuch sein, die Welt mit Worten zu erfassen. So folgt hier denn Versuch auf Versuch; in jedem Kapitel wechselt die Autorin die Perspektive, umkreist mit Worten und Fakten einen neuen Ausschnitt der Welt, eine neue Schnittmenge der gewählten Themenkreise.

Über beide erfahren wir hier viel, zum Beispiel auch, dass Orwell seine Rosen für Sixpence bei Woolworth zu kaufen pflegte und darüber in einer Zeitungskolumne schrieb.

Das ist sicher nicht das Wichtigste, was es über ihn zu wissen gibt; aber allein die Tatsache, dass sich aus einem scheinbar abseitigen Thema eine wahre Fülle an ästhetischen, gesellschaftlichen, politischen und alltagsphilosophischen Aspekten ergeben kann, macht Solnits scheinbar anstrengungsloses und dabei so achtsames gedankliches Wandern von einem Stück Wissen zum nächsten zu einer anregenden Lektüre.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.