Neue Popmusik aus Meck-Pomm: Von Euphorie bis Melancholie
„Punk oder Nazi“, das war in ihrer Jugend die Frage für die Band „Die Kerzen“. Ihr Debütalbum zeigt einen anderen Weg: „True Love“.
Beginnen wir den Tag zur Abwechslung einmal mit einem „Oh yeah“, das wie „Mohair“ klingt, legen darunter einen trockenen Drumbeat, darüber eine funky Gitarre, pluckernden Bass und Keyboardflächen. Der Gesang muss so unaufgeregt wie deutlich sein: „Blue Jeans / Ein Duft aus Paris / Alles an dir strahlt / So startest du / Gut gekleidet in den Tag / Was sonst niemand anders wagt Oh yeah.“ „Blue Jeans“, der Song findet sich auf dem Debütalbum „True Love“ der jungen Band Die Kerzen aus Ludwigslust, Mecklenburg-Vorpommern.
Die Kerzen tragen Pseudonyme: Jelly Del Monaco spielt Keyboards und Querflöte, sie steuert die Backingvocals bei. Dann die drei Jungs: Fizzy Blizz am Bass und Schlagzeuger Super Luci; Sänger und Gitarrist Die Katze erklärt den Bandnamen. Die vier eint nämlich ein Faible für Duftkerzen: „Ja, wir haben es gern gemütlich.“ Das und der gut gekämmt wirkende Sound ihres Albums könnte zu einem Trugschluss führen.
In der Tat ist „True Love“ ein mustergültiges Popalbum, doch Pop war und ist immer noch mehr als der schöne Schein, den er zu spiegeln vorgibt. Katze spricht nicht einfach von Pop, sondern sagt „Sophisticated Pop“, verweist auf Achtziger-Jahre-Bands wie die von Jazz und New Wave beeinflussten Prefab Sprout oder die Synthie Popper Tears for Fears.
Eins ist Katze, wie alle Die-Kerzen-Mitglieder ein Mensch in den Zwanzigern, wichtig: „Wir wollen diesen Sounds, diesen Stilen nicht nachrennen.“ Als wichtige aktuelle Einflüsse nennt er Cloud Rap, eine sphärisch-flächige Spielart von Hip-Hop und New Disco. Klassische Musiknerds seien sie gewesen, als sie angefangen haben.
Die Kerzen: „True Love“ (Staatsakt/Caroline International/Universal). 22. 8. „Popkultur Festival“ Berlin, 18. 9. „Reeperbahn Festival“ Hamburg
So intuitiv, wie Die Kerzen vorgehen, haben sie ein Album mit einer erstaunlichen Dramaturgie vorgelegt. Die großen Platten ziehen ja zumeist einen großen Bogen, der auf „True Love“ spannt sich zwischen den klassischen Polen des Pop: Da ist zu Anbeginn die Erwartung, die Euphorie, am Ende die Melancholie. Im zweiten Song „Saigon“ wird aus einer Nacht im Berghain ein Sehnsuchtsort aufgemacht, im darauffolgenden Titelstück ein romantisches Szenario entworfen, das mit einem Schuss Realismus eher bittersweet als einfach nur süß gerät. Bei allem Überschwang des Songs heißt es hier bereits: „Die Melancholie / Honey c’est la vie / Wir brechen hier aus.“
Auf die Frage, wie das Popleben in Ludwigslust aussieht, antwortet Katze dezidiert: „Es gibt da kein Popleben, es gibt Leben.“ Er fügt an: „„Wenn es nichts anderes gibt, dann entsteht etwas.“ Dabei ist das nicht in einem friedvollen Nirgendwo im ehemaligen Zonenrandgebiet passiert. Katze erinnert sich, dass die Bandmitglieder in ihrer Jugend vor der Frage standen: „Punk oder Nazi? Wir mussten uns entscheiden.“ Und: „Wir alle haben Grund dazu, uns zu äußern. Du wirst konfrontiert, musst dich abgrenzen. Das haben wir auch getan. Nur müssen wir das nicht in der Musik tun, es wird über die Musik gehen.“
Zu ihrem Label Staatsakt sind Die Kerzen durch einen Akt der Prokrastination gekommen. Schlagzeuger Super Luci tat das Richtige, drückte sich vor seiner Bachelorarbeit und schrieb stattdessen eine E-Mail an Staatsakt-Betreiber Maurice Summen, der umgehend fragte: „Aus welcher Hölle seid ihr entflohen?“ Summen besuchte Die Kerzen in ihrem Probenraum; die Band hat kein anderes Label weiter fragen müssen.
Mittlerweile leben bis auf Super Luci alle Kerzen in Berlin. Und die Hauptstadt, von der es am Anfang der Platte nach Saigon, Japan und Indonesien ging, entpuppt sich in „Solarium“, dem letzten Song des Albums, als kalter Ort: „Wir haben uns schon lange nicht gesehen / Zu viele dunkle Stunden in der Sonnenallee.“ Das Studio der Kerzen steht immer noch in Ludwigslust.
Übrigens, für das Cover ihres Albums hat sie der Staatsakt-Maler Helmut Kraus auf einer Fernsehcouch platziert. Welchen Film sie da sehen, das möchte Die Katze offen lassen. Vorschlag: Die Verfilmung von Ulrich Plenzdorfs „Die neuen Leiden des jungen W.“, 1976. In ihr singt der jugendliche DDR-Antiheld Edgar Wibeau seinen „Bluejeans-Song“: „Oh, Bluejeans / White Jeans? – No / Black Jeans – No / Blue Jeans, oh / Oh, Bluejeans, yeah //Oh, Bluejeans / Old Jeans? – No / New Jeans? – No / Blue Jeans, oh / Oh, Bluejeans, yeah.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Greenpeace-Mitarbeiter über Aufrüstung
„Das 2-Prozent-Ziel ist willkürlich gesetzt“
Selbstzerstörung der FDP
Die Luft wird jetzt auch für Lindner dünn
Rücktritte an der FDP-Spitze
Generalsekretär in offener Feldschlacht gefallen
Stellungnahme im Bundestag vorgelegt
Rechtsexperten stützen AfD-Verbotsantrag
Iran als Bedrohung Israels
„Iran könnte ein Arsenal an Atomwaffen bauen“
Keith Kelloggs Wege aus dem Krieg
Immer für eine Überraschung gut