Neue Belege für Insektensterben: Ciao, kleiner Krabbler!
Eine Studie auf besonders guter Datengrundlage zeigt, dass Zahl und Artenvielfalt sinken. Die Bundesregierung streitet über Ökoauflagen für Pestizide.
Das Team um den Wissenschaftler hatte von 2008 bis 2017 regelmäßig Insekten und andere Gliederfüßer wie Spinnentiere und Tausendfüßer an insgesamt 290 Standorten in drei Regionen Deutschlands gesammelt: auf der Schwäbischen Alb in Süddeutschland, im Hainich – einem bewaldeten Höhenrücken in Thüringen – sowie in der brandenburgischen Schorfheide. Insgesamt analysierten die Wissenschaftler Daten von mehr als einer Million Gliederfüßern, die zu mehr als 2.700 Arten gehörten. Auf den Wiesen sammelten die Forscher die Insekten und die anderen Krabbler mit Netzen von der Grasfläche, in den Wäldern stellten sie Fallen auf.
Sowohl auf Wiesen als auch in Wäldern ging die Artenzahl im Untersuchungszeitraum um etwa ein Drittel zurück. Auch deren Gesamtmasse nahm ab, besonders ausgeprägt in den Graslandschaften – dort schrumpfte sie um 67 Prozent. In den Wäldern verringerte sie sich um etwa 40 Prozent. Den Einfluss schwankender Wetterbedingungen berücksichtigten die Forscher bei der Auswertung.
„Unsere Ergebnisse sind weitestgehend repräsentativ für einen Großteil Deutschlands“, erklärte Seibold. Andere Studien wie die ehrenamtlicher Insektenkundler des Entomologischen Vereins Krefeld zeigten ähnliche Trends in anderen Regionen. Zudem gebe es zum Beispiel Studien aus Baden-Württemberg für einzelne Arten. Damit setze sich das Bild zusammen, „dass das kein lokaler Effekt, sondern eine wirklich großskalige Veränderung in Mitteleuropa ist“.
Umweltministerin macht Bauern verantwortlich
Die Krefelder hatten 2017 in der Fachzeitschrift Plos One berichtet, dass die Gesamtmasse an Fluginsekten zwischen 1989 und 2016 in 63 Naturschutzgebieten um 76 Prozent abgenommen habe. Für die neue Studie wurden auch stark bewirtschaftete Flächen sowie unterschiedlich intensiv genutzte Wälder untersucht. Anders als die Krefelder waren die Forscher um Seibold jedes Jahr auf jeder Fläche und untersuchten auch die Artenvielfalt. „Wir haben eine bessere Datengrundlage“, so der Münchener Forscher.
Bundesumweltministerin Svenja Schulze erklärte, die Regierung arbeite an einer zügigen Umsetzung ihres Aktionsprogramms Insektenschutz, das den Pestizideinsatz reduzieren soll. „Eines belegt die Studie aber auch: Die Art und Weise der landwirtschaftlichen Nutzung entscheidet maßgeblich mit, ob Insekten in der Umgebung überleben können“, sagte die SPD-Politikerin.
Eine Verantwortung der Landwirtschaft sieht auch der Deutsche Bauernverband: „Die Studie zeigt uns, dass die Landwirtschaft Teil der Lösung sein muss. Kaum eine Branche ist so essenziell auf die Bestäubungsleistung von Bienen und Insekten angewiesen wie wir“, sagte Verbandspräsident Joachim Rukwied. Dabei setze man auf kooperativen Naturschutz. In diesem Jahr habe der Verband freiwillig bundesweit Blühstreifen als Lebensraum für Insekten in einer Länge von über 230.000 Kilometern angelegt.
Agrarministerium gegen Pflicht zu Ökoflächen auf Ackerland
Doch die Projekte der jüngsten Vergangenheit haben bisher offenbar nicht viel gebracht. Es „gibt keine Hinweise, dass die negativen Trends umgekehrt worden wären durch Maßnahmen, die in den vergangenen Jahren umgesetzt worden sind“, stellt die Studie fest.
Derweil ist in der Bundesregierung ein neuer Streit über den Insektenschutz ausgebrochen. Anlass ist eine Entscheidung des Agrarministeriums, keine Berufung gegen Urteile einlegen zu lassen, die Naturschutzauflagen für die Zulassung von Pestiziden einkassierten. Das Umweltministerium warnte davor, „Schäden an der biologischen Vielfalt und insbesondere bei Insekten“ in Kauf zu nehmen, wie es in einem Schreiben von Staatssekretär Jochen Flasbarth heißt. Das Agrarministerium erklärte, es entspreche auch seiner Rechtsauffassung, dass der Staat die Landwirte nicht dazu verpflichte könne, 10 Prozent „Biodiversitätsflächen“ wie Brachen oder Blühflächen auf ihrem Ackerland nachzuweisen. Ressortchefin Julia Klöckner (CDU) habe daher entschieden, keinen Widerspruch einzulegen. (mit dpa)
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