Neue Ausbildung für Hebammen: Schwere Geburt
Hebammen sollen künftig studieren. Doch das ändert vorerst wenig an ihren schlechten Arbeitsbedingungen in den Krankenhäusern.
Niemand habe Zeit gehabt, sich um sie zu kümmern, „ich musste betteln, um überhaupt wahrgenommen zu werden“. Wenn alle ein, zwei Stunden eine neue Person in das Zimmer kam, sei nicht auf sie eingegangen worden – im Gegenteil sei es darum gegangen, möglichst schnell irgendetwas zu tun. Erst wurde die Fruchtblase geöffnet, um die Geburt voranzubringen. Ein Wehenhemmer folgte, um dem Baby doch noch etwas Zeit zu geben. Dann kam ein Wehenverstärker. Um Blut aus dem Kopf des Babys zu nehmen, damit der Sauerstoffgehalt und damit der Stresslevel des Kindes überprüft werden konnte, wurde Neuberts Muttermund gedehnt, eine extrem schmerzhafte Prozedur. Eine Betäubung von Rückenmarksnerven, die aber nicht wirkte, folgte, dazu genervte Kommentare: Es könne gar nicht sein, dass Neubert jetzt noch Schmerzen habe.
„Das war eine Kaskade medizinischer Maßnahmen, ein Abarbeiten von Problemen, die Stunde um Stunde neue Probleme produzierten“, sagt Neubert. Hebammen und ÄrztInnen seien selbst enorm gestresst gewesen, „die hatten einfach keine Zeit, auf mich zu reagieren“. Sie habe es als extrem erniedrigend empfunden, wie Menschen an und in ihr zugange waren, um die Geburt abzuwickeln und sie ruhigzustellen. „Das war das Schrecklichste, was ich je erlebt habe“, sagt Neubert. Und sie höre von Müttern und Hebammen, mit denen sie im Gespräch sei, immer wieder: Ihre Erfahrung sei keine Ausnahme.
Auch von vielen Hebammen wird eine Geburt, wie Josephine Neubert sie erleben musste, als große Belastung empfunden. Von den rund 24.000 Hebammen und den wenigen Entbindungspflegern in Deutschland arbeitet knapp die Hälfte in Kliniken. Fast alle Babys kommen dort zur Welt, nur etwa 2 Prozent in Geburtshäusern oder zu Hause. 2015 befragte der Deutsche Hebammenverband knapp 1.700 in Kliniken angestellte Hebammen über ihre Situation. Die Ergebnisse, vermutet Verbandspräsidentin Ulrike Geppert-Orthofer, hätten sich seitdem nicht wesentlich verändert – und wenn, dann eher verschlechtert.
Gute Betreuung als seltener Glücksfall
Fast die Hälfte der Befragten gibt an, häufig drei Frauen während der Geburt parallel betreuen zu müssen, oft seien es sogar vier oder mehr. Kommunikative und psychosoziale Aspekte würden deshalb vernachlässigt – obwohl gerade diese in der Geburtshilfe besonders wichtig sind, um auf Ängste und Unsicherheiten der Frauen eingehen zu können. Jede fünfte Hebamme kann ihre Abteilung nicht mehr als sicheren Ort, um ein Kind zu bekommen, empfehlen. „Eine persönlich zugewandte Betreuung durch eine Hebamme unter der Geburt“, heißt es in der Studie des Hebammenverbands, „scheint eher ein Glücksfall zu sein als die Regel.“
Über die Jahre sei für Hebammen eine Situation entstanden, sagt Geppert-Orthofer am Telefon, die zu chronischer Überlastung führe. Außer daran, dass Hebammen oft mehrere Frauen während der Geburt parallel betreuten, liege das auch daran, dass sie immer mehr fachfremde Arbeiten wie putzen, Telefondienst oder Verwaltung übernehmen müssten. Das führe dazu, dass sie auch während der Geburt immer wieder aus der Situation gerissen würden und die Frau allein lassen müssten. Das wiederum wollten viele nicht verantworten, weshalb sie sich aus der Geburtshilfe in den Kliniken in die Vor- und Nachsorge, in die Freiberuflichkeit oder ganz aus dem Beruf zurückgezogen hätten. Die Folge: Die Kliniken können offene Stellen nicht mehr besetzen. Im Durchschnitt fehlen in jedem deutschen Kreißsaal mehrere Hebammen.
„In Deutschland“, sagt Kirsten Kappert-Gonther, „sind Frauen im Fall der Geburt oft nicht gut versorgt“. Kappert-Gonther, helle Stimme, sanftes, aber bestimmtes Auftreten, ist Gesundheitspolitikerin der Grünen im Bundestag. Für ihre Partei begleitet sie derzeit die Umsetzung eines Gesetzes, das sie für einen „Meilenstein“ hält. Es werde, so hofft sie, die Situation der Hebammen und damit der Gebärenden zumindest langfristig verbessern: Noch in diesem Monat soll der Bundestag das Hebammenreformgesetz beschließen.
Hebammenausbildung: Uni statt Schule
Dieses Gesetz will, so heißt es auf der Seite des von Jens Spahn (CDU) geführten Bundesgesundheitsministeriums, die Hebammenausbildung „attraktiver und moderner“ machen. Ab Januar 2020 sollen Hebammen nicht mehr wie bisher in Schulen ausgebildet werden, die für die Praxisteile etwa mit Kliniken kooperieren. Stattdessen ist vorgesehen, die Ausbildung über ein duales Studium zu akademisieren.
Sechs bis acht Semester soll dieses Studium dauern, gelehrt werden etwa biowissenschaftliche Grundlagen und Frauenheilkunde. Die Praxisanteile, die voraussichtlich rund die Hälfte der Zeit einnehmen, können in Krankenhäusern, bei freiberuflichen Hebammen oder in Geburtshäusern absolviert werden, der Abschluss wird ein Bachelor sein. Spahn setzt mit diesem Gesetz eine EU-Richtlinie zur europaweiten Anerkennung von Berufsqualifikationen um, die schon 2005 erlassen wurde. „In allen anderen Ländern der EU werden Hebammen schon an Hochschulen ausgebildet“, sagt die Abgeordnete Kappert-Gonther. „Nur Deutschland hinkt hinterher.“
Um das zu ändern und um letzte Änderungen an dem Gesetz abzustimmen, kamen Ende Juni im Gesundheitsausschuss des Bundestags ExpertInnen zusammen. Neben dem Hebammenverband waren VertreterInnen von Verbänden wie der Caritas, der Deutschen Gesellschaft für Hebammenwissenschaft oder der Elternverein Mother Hood geladen. Und wie schon bei der Diskussion im Plenum zeigte sich, dass Koalition, Opposition und ExpertInnen den Gesetzentwurf selten einhellig befürworten.
Kirsten Kappert-Gonther sitzt auf einer Ledercouch in einer Gesprächsecke des Bundestags, auch sie ist zufrieden. Mit der Akademisierung, davon geht sie aus, werde sich der Beruf nach und nach verändern. Mit der universitären Ausbildung würden Hebammen künftig zusätzliche Kompetenzen erwerben. Anders als etwa in Großbritannien würden Hebammen in Deutschland zum Beispiel noch kaum universitär forschen. Dies aber werde langfristig ins System der Geburtshilfe zurückwirken: „Ein akademisierter Berufsstand ist viel eher in der Lage, an geeigneten Arbeitsbedingungen mitzuwirken.“ Nur an wenigen Stellen müsse noch nachgebessert werden, unbedingt etwa in der Frage, wie sich Hebammen, die derzeit noch nicht akademisch ausgebildet sind, nachqualifizieren können.
Ärzte befürchten noch mehr Versorgungsdefizite
Grundsätzliche Kritik an dem Entwurf allerdings kommt aus der ÄrztInnenschaft, die schwere Geschütze gegen das Gesetz auffährt. „Die Forderung nach einer ausschließlichen Vollakademisierung ist eine politische Forderung, die die Versorgung von Mutter und Kind nachhaltig gefährdet“, heißt es in einer gemeinsamen Stellungnahme des Berufsverbands der Frauenärzte und der Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe. Weder sei die Hochschulausbildung der Hebammen überhaupt notwendig noch lasse sich das Problem des Hebammenmangels in Kreißsälen so lösen. Im Gegenteil: Die Akademisierung werde zu noch mehr Versorgungsdefiziten führen.
Frank Louwen, Leiter der Geburtshilfe und Pränatalmedizin im Universitätsklinikum Frankfurt am Main und Vizepräsident der Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe, fühlt sich missverstanden. „Der Vorwurf, die Ärzte wollten die Akademisierung verhindern, ist grober Unsinn“, sagt er. „Wir begrüßen jede Erweiterung im Bildungssystem.“
Aber er bleibt dabei: „Wenn es so kommt, wie es sich Herr Spahn und die Hebammenfunktionärinnen vorstellen, rennen wir in die Katastrophe.“ Wenn die ersten Absolventinnen der Studiengänge 2024 fertig wären, würden nur noch etwa halb so viele Absolventinnen wie bisher für die Kliniken verfügbar sein. Wenn die Schulen nach und nach schließen, aber noch nicht genügend Studiengänge an den Universitäten angeboten werden, werde sich der jetzt schon akute Mangel an Hebammen in Kliniken noch weiter verschärfen. „Die Folgen für Frauen während der Geburt“, prophezeit Louwen, „sind so banal wie katastrophal.“
Auch die Arbeitsbedingungen müssen verbessert werden
Auch der Hebammenverband räumt ein, „dass die Zahl der Absolventinnen für ein bis zwei Jahre etwas sinken“ könnte. Doch die noch für dieses Jahr anvisierten 16 Studienstandorte sowie die Zahl der Studienplätze werde schnell „massiv“ zunehmen, erklärt der Verband. „Und Fakt ist“, sagt Präsidentin Geppert-Orthofer, „selbst wenn dreimal so viele Hebammen ausgebildet werden könnten – wenn die Arbeitsbedingungen so schlecht bleiben wie bisher, werden auch die nicht in die Kreißsäle gehen.“
Die Kritik der ÄrztInnenschaft, vermutet die Bundestagsabgeordnete Kappert-Gonther, habe ihren Grund darin, dass diese sich gegen einen drohenden Machtverlust zur Wehr setze. Sie selbst hat 25 Jahre als Ärztin gearbeitet. Es komme den PatientInnen zugute, sagt sie, wenn die verschiedenen Berufsgruppen ihre Kompetenzen gleichberechtigt einbringen würden. Doch in Deutschland sei die Geburtshilfe stark hierarchisiert. Zwar muss eine Hebamme bei einer Geburt anwesend sein, und sie kann eine natürlich verlaufende Geburt auch allein leiten. Erst bei Komplikationen muss ein Arzt oder eine Ärztin hinzugezogen werden. In den vergangenen Jahrzehnten allerdings habe sich der Bereich in eine Richtung entwickelt, in der Hebammen immer weniger Einfluss haben, die lange männlich dominierte Ärzteschaft dafür immer mehr.
Über die Jahre sei zudem ein „System von Fehlanreizen“ in den Kreißsälen geschaffen worden, sagt Kappert-Gonther. Nicht Mutter und Kind stünden im Mittelpunkt der Geburtshilfe, sondern der medizinische Aspekt der Risiken und die Abläufe in den Kliniken: Wie werden die Schichtpläne gemacht, wie funktioniert die Finanzierung? Dabei bringe jede Maßnahme, die die Geburt beschleunigt, Geld. Wenn geschnitten wird oder es zu einem Kaiserschnitt kommt, verdient die Klinik mehr. „Das bedeutet eine Missachtung zentraler Bedürfnisse vieler Frauen“, sagt Kappert-Gonther.
Um wieder mehr Frauen in den Beruf zu bekommen, müssten die Rahmenbedingungen geändert werden, sodass die Arbeit als Hebamme wieder attraktiv sei, fordert sie: „Wir brauchen einen Kulturwandel, von der Geburtsmedizin hin zur Geburtshilfe“.
Genau das sei auch ihre Kritik an dem Gesetz. Zwar sei es „wirklich gut“, was die Akademisierung angehe. Doch all das, was die Situation in der Geburtshilfe akut verbessern könnte, fehle. So sieht es auch der Hebammenverband. Schon im Februar hat er deshalb eigene Eckpunkte für ein Geburtshilfestärkungsgesetz vorgelegt. Hebammen, so der Verband, betreuten in Deutschland mehr als doppelt so viele Gebärende wie in anderen europäischen Ländern, etwa in England, Frankreich, Norwegen, der Türkei oder der Schweiz. Die wichtigste Forderung des Verbands, um wieder Vertrauen in das System zu schaffen: eine Verbesserung des Personalschlüssels, bis eine Eins-zu-eins-Betreuung von Frauen während der Geburt gewährleistet werden kann. „Sobald die Frau in der aktiven Phase der Geburt ist“, fordert Geppert-Orthofer, „geht die Hebamme nicht mehr raus.“
Zudem verlangen die Hebammen, dass die Krankenhäuser ihren jeweiligen Betreuungsschlüssel veröffentlichen müssen, damit schwangere Frauen auch auf dieser Basis entscheiden können, wo sie entbinden wollen. Hebammen müssten von nicht berufsspezifischen Tätigkeiten wie putzen oder Telefondienst entlastet werden. Und die Zusammenarbeit mit ÄrztInnen müsse sich ändern. „Wir möchten, dass bei natürlich verlaufenden Geburten klar ist, dass die Hebammen diejenigen sind, die den Ton angeben“, sagt Geppert-Orthofer.
Hebamme Annabelle Ahrens erzählt, wie es gehen kann
Im Sankt-Gertrauden-Krankenhaus in Berlin-Wilmersdorf werden einige dieser Forderungen bereits umgesetzt. Die leitende Hebamme der Geburtshilfe, Annabelle Ahrens, führt durch die Kreißsäle des Krankenhauses, drei Zimmer, die von einem schlichten Flur abgehen. Eine Salzkristalllampe verströmt warmes, gedämpftes Licht, neben flexibel verstellbaren Gebärbetten gibt es eine Gebärwanne, Gymnastikbälle und ein sogenanntes Gebärseil. An diesem Tuch, das an einem Haken an der Decke befestigt ist, kann sich die Frau während der Wehen festhalten.
Freundlich und zugewandt erklärt Ahrens, wie hier gearbeitet wird. „Einen typischen Tag gibt es nicht“, sagt die 44-Jährige. Sie hat an der Evangelischen Hochschule in Berlin Hebammenkunde studiert, seit 2016 arbeitet sie im Sankt-Gertrauden-Krankenhaus. „Wenn ich zur Arbeit komme, weiß ich nie, ob ich wie heute einen leeren Kreißsaal vorfinde, ob ich eine Erstgebärende mit Übungswehen habe oder ob ich in eine Akutsituation springe und gleich ein Baby auffange.“
Jahrelang sei auch in dieser Klinik in Unterbesetzung gearbeitet worden, sagt sie. „Aber es ist doch nicht hinnehmbar, dass eines der reichsten Länder der Welt es nicht schafft, Geburten so zu organisieren, dass Frauen und Kinder dabei flächendeckend gut behandelt werden.“ Es sei nicht egal, zitiert Ahrens den Arzt und Verfechter natürlicher Geburten, Michel Odent, wie man geboren werde: Eine Geburt, die als selbstbestimmt und bestenfalls sogar friedlich erlebt wurde, mache viel aus für das weitere Leben von Eltern und Kind.
Auch Ahrens befürwortet die Akademisierung ihres Berufsstands. Wissenschaftliches Arbeiten zu lernen, sich selbst Studien zu beschaffen oder auch selbst zu forschen sei wichtig – ebenso wie das Selbstverständnis, der studierten ÄrztInnenschaft in Kliniken auf Augenhöhe begegnen zu können. So suchte Ahrens etwa das Gespräch mit ihrer Klinikleitung. Und die sei bereit gewesen, sich auf das Experiment einzulassen. Mit Erfolg: „Es mag paradox klingen, noch mehr Stellen zu schaffen, wenn die vorhandenen nicht besetzt sind“, sagt Ahrens. „Aber in dem Moment, in dem wir den Schlüssel hochgeschraubt haben, konnten wir alle Stellen besetzen.“
14 Hebammen für rund 900 Geburten im Jahr
Bald arbeiten 14 Hebammen im Sankt-Gertrauden-Krankenhaus, zwei von ihnen haben studiert. Rund um die Uhr ist der mit bis zu 900 Geburten pro Jahr kleinste Kreißsaal der Stadt mit zwei Hebammen besetzt, nachts hat eine von ihnen Bereitschaftsdienst. In 95 Prozent der Fälle könne das Krankenhaus mittlerweile eine Eins-zu-Eins-Betreuung während der Geburt gewährleisten. „Voll besetzt zu sein und weitere Anfragen zu bekommen ist hierzulande eine Seltenheit“, sagt Ahrens. „Aber es zeigt: Sobald sich die Arbeit auf mehrere Schultern verteilt, sobald sich die Bedingungen verbessern, sind die Hebammen auch wieder bereit, in der Klinik zu arbeiten.“
Auch die vom Hebammenverband geforderte interprofessionelle Zusammenarbeit versucht das Team des Sankt-Gertrauden-Krankenhauses zu verbessern. Einmal im Monat bereitet entweder eine ÄrztIn oder eine Hebamme ein Thema vor, zum Beispiel den Stand der Forschung zu Wassergeburten. „Dann gehen wir ins Gespräch“, sagt Ahrens. „Oft stellt sich heraus, dass die Diskussionslinien nicht zwischen ÄrztInnen und Hebammen verlaufen, sondern quer zu den Berufsständen. Das ist doch schon mal ein guter Anfang.“
In einem anderen Berliner Krankenhaus kam Josephine Neuberts Sohn Lino nach zwölf Stunden schließlich per Kaiserschnitt zur Welt, er ist heute drei Jahre alt. „In der Zwischenzeit habe ich mich sehr viel mit dem Thema auseinandergesetzt“, sagt Neubert. Sie hat den Geburtsbericht angefordert und immer wieder Gespräche mit Hebammen geführt, um die Erfahrung aufzuarbeiten. Gerade ist sie wieder schwanger. Dieses Mal soll die Geburt anders laufen, sagt sie: Sie will ihr Kind zu Hause zur Welt bringen.
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