Neuauflage von R2G in Bremen: Weiter so!
Die Bremer SPD will mit Grünen und Linken Koalitionsverhandlungen führen. Das ist besser als Kommentator:innen und Opposition behaupten.
Es kann kein ‚Weiter so‘ geben“, singen in Bremen im Chor die Leitartikler:innen sowie CDU- und FDP-Politiker:innen, nachdem sich am Mittwoch die Wahlgewinnerin SPD für eine Fortsetzung der rot-grün-roten Koalition entschieden hat. Ab Dienstag sollen nach Befassung der jeweiligen Parteigremien Koalitionsverhandlungen aufgenommen werden.
Bürgermeister Andreas Bovenschulte (SPD) besänftigt vorsichtshalber jetzt in seinen Statements alle, die angesichts der Fortsetzung dieser Koalition Stresspickel bekommen, weil sich die Welt in den letzten vier Jahren nicht genau so verändert hat, wie sie es je nach persönlichen Vorlieben, Abneigungen und Geschäftsinteressen für richtig halten.
Für viele in Bremen – so klingt es aus Leserbriefen, Wahlkampf-Slogans der Opposition und Kommentaren – bedeutet das, dass sie eine hübsche Innenstadt mit schicken Geschäften bekommen, die sie sowohl mit Bus, Auto, Rad, zu Fuß und vielleicht auch Fähre gleichermaßen gut erreichen, ohne dass sich irgendwer in die Quere kommt. Die Armut soll bitteschön auch verschwinden, Kriminalität sowieso und ach ja, Bildung gibt es ja auch noch.
Es wäre doch fein, wenn nicht nur die Mittelschichtskinder in ihren Gymnasial- und Privatschulgettos lesen und rechnen lernen, sondern auch die anderen am Stadtrand, die mit den schwierig auszusprechenden Nachnamen, die aus Sicht der Privilegierten zum Glück nicht dieselben Schulen besuchen wie ihre Kinder, die aber den Schnitt bei den Länder-Schulvergleichen immer so übel nach unten drücken. Wie sieht denn das aus!
Genau das braucht Bremen
Allen, die so denken, spricht Bovenschulte am Mittwoch aus der Seele, als er nach der Entscheidung des SPD-Vorstands für Rot-Grün-Rot vor die Kameras tritt. Die neue alte Koalition müsse „besser“ werden, das hätten ihr die Wähler:innen ins Stammbuch geschrieben. „Es kann ja nicht einfach ein ‚Weiter so‘ geben.“
An dieser Stelle sei entgegnet: Doch, unbedingt, genau das braucht Bremen und profitieren werden davon auch andere: Wenn das klitzekleine Bundesland, in dem sich Bürger:innen und Entscheider:innen täglich drei Mal über den Weg laufen, als Labor dient, in dem an der Zukunft experimentiert wird. Denn die Frage hat Bovenschulte in demselben Statement auch aufgeworfen: „Mit wem können die Zukunftsherausforderungen am besten gelöst werden?“
Nun gibt es immer eine Reihe von Herausforderungen, die gelöst werden müssen, hier eine Krise, dort eine Krise, ein Haushaltsloch mehr oder weniger. Aber dabei geht es doch immer irgendwie um die unmittelbare Gegenwart, während es eine relativ neue Erfahrung für Wähler:innen ist, dass auf diese die Zukunft angesichts der Klimakrise nicht mehr zwangsläufig folgt, sondern nur dann, wenn wir unseren – pardon – Arsch aus dem Fernsehsessel hochkriegen.
Und um im Laborbild zu bleiben: Glaubt denn irgendjemand ernsthaft, das ginge ohne Krachen und Scheppern? Dass sich zum Beispiel Autoliebhaber:innen und grüne Umweltsenator:innen nicht in die Quere kommen? Oder Umweltschützer:innen und Bremerhavener Hafenpolitiker:innen, die die Weser zur Not auch persönlich ausbuddeln würden? Linke Sozialpolitiker:innen und grüne Wärmepumpenfans, Warmduscher und Verzichtsrhetorikerinnen?
Nächste Frage: Wer traut der CDU – außer einigen ihrer Anhänger:innen – zu, dass sie in einer Koalition mit der SPD harte Klimaschutzmaßnahmen auf den Weg bringt? Wie gut sich mit einseitig auf Wirtschaftsförderung ausgerichteten Parteien in dieser Hinsicht zusammenarbeiten lässt, erleben SPD und Grüne derzeit im Bund, wo die FDP in der Ampel-Koalition das Heizungsgesetz blockiert.
Die Bremer SPD weiß das alles ganz genau. Und sie weiß auch, dass sie die Grünen braucht, um sie vorzuschicken. Wenn die zehn Schritte in Richtung postfossiler Energie rennen, kann die SPD sie um die Hälfte zurückpfeifen und steht super da.
Würde Bovenschulte finden, dass „Jetzt mal alles ganz anders“ auch für seine eigene Partei gilt, dann bestünde die Aufgabe der SPD darin, den Bremer:innen zu erklären, warum es auch für sie kein „Weiter so“ geben kann. Warum es in ihrem Interesse sein könnte, sich von lieb gewonnenen Wohlstandsgewohnheiten zu verabschieden, zum Beispiel dem Parken im eigenen Auto vor der eigenen Haustür.
Aber gut, es gibt ja neben dem Klimawandel und der Frage, wie breit Radwege sein dürfen, noch andere Probleme, allen voran die hohe Armutsquote und deren Folgen wie Bildungsferne und Drogenkriminalität. Dass Rot-Grün-Rot an deren Bekämpfung genau so scheitern wird wie die Regierungen der letzten 30 Jahre, muss sie allerdings erst noch unter Beweis stellen.
Pandemie gut bewältigt
Weil es schnell in Vergessenheit geraten ist: Wir hatten gerade eine Pandemie und keinerlei Ahnung, wie damit umzugehen ist. Alle Gesellschaftsbereiche, auch die Politik, waren im Dauerkrisenmodus.
Das begann etwa ein halbes Jahr, nachdem SPD, Linke und Grüne ihre Arbeit aufgenommen hatten, und sie hat die Politik bis zum Frühjahr 2022 beschäftigt, also die Hälfte der Legislaturperiode. Langeweile kam auch danach nicht auf, dafür hat ein Herr Putin gesorgt, denn tatsächlich kamen auch in Bremen ukrainische Kriegsgeflüchtete an und die Energiekrise.
Was wäre also so verkehrt an einem „Weiter so“? Schließlich hat diese vermeintlich linksgrünversiffte Koalition die Krisen gerade auch im Vergleich mit anderen Bundesländern ziemlich gut bewältigt.
Dabei hat es offensichtlich überhaupt nicht geschadet, mit der Linken ein paar echte Sozialpolitiker:innen in Schlüsselfunktionen sitzen zu haben. All das scheint einigen weniger wichtig als Nickeligkeiten um missglückte Verkehrsexperimente und Brötchentasten sowie um Law-and-Order-Politik gegen Drogenkriminalität am Hauptbahnhof oder Warteschlangen vor Bürgerservicecentern.
Bildung geht besser
Wenn es in irgendeinem Politikbereich wirklich kein „Weiter so“ geben darf, dann in dem, an dem die SPD so klebt wie in Berlin die jungen Leute auf der Straße: dem Bildungsressort.
Hamburg macht vor, dass Schulen einen kleinen Teil von dem wett machen können, was manche Eltern ihren Kindern als Babys und Kleinkinder nicht mitgeben konnten – in den Ländervergleichen zu Schulleistungen liegt Hamburg nach vielen Jahren am Tabellenende mittlerweile im Mittelfeld. Vielleicht gelingt das in Bremen, ohne Lehrkräfte und Sozialarbeiter:innen zu verprellen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Umgang mit der AfD
Sollen wir AfD-Stimmen im Blatt wiedergeben?
Pistorius lässt Scholz den Vortritt
Der beschädigte Kandidat
Böllerverbot für Mensch und Tier
Verbände gegen KrachZischBumm
Haftbefehl gegen Netanjahu
Begründeter Verdacht für Kriegsverbrechen
Utøya-Attentäter vor Gericht
Breivik beantragt Entlassung
Social-Media-Verbot für Jugendliche
Generation Gammelhirn