Netanjahu und die Zweistaatenlösung: Totaler Sieg über den Frieden
Netanjahu lehnt eine Zweistaatenlösung im Nahen Osten ab. Darin ist er sich mit der Hamas einig – und untergräbt jede Hoffnung auf ein Ende der Gewalt.
D as rechte und rechtsextreme Lager unter Premierminister Netanjahu hat sich entschieden, in der Frage nach einer politischen und regionalen Nachkriegsordnung auf Konfrontation mit dem Westen zu setzen. Netanjahu wird nicht müde, die Formel vom „totalen Sieg“ über die Hamas auszugeben, während die Militärführung längst klargemacht hat, dass es diesen nicht geben wird.
Die Strategie ist, die Regierungskoalition zusammenzuhalten und darauf zu setzen, dass die internationale Gemeinschaft bei der Durchsetzung von Kompromisslösungen scheitern wird. Die Chancen dafür stehen nicht schlecht. Letzte Woche gelang die Verabschiedung einer Regierungserklärung, die sich gegen jegliche „unilaterale Anerkennung“ eines palästinensischen Staates aussprach, wie sie von Großbritannien und den USA diskutiert wird. Netanjahu hat es dabei mit 99 von 120 Knesset-Stimmen geschafft, nahezu die gesamte Opposition ins Boot zu holen. Dem Meister der politischen Ränkespiele scheint es gelungen, das Blatt zu wenden.
ist Research Fellow am Minerva Institute für deutsche Geschichte der Universität Tel Aviv und arbeitet an einem Projekt zu „The State of Democracy in Israel and Palestine“.
Dabei ist allen Israelis bekannt, dass Netanjahu mit seinem Versuch der Spaltung der palästinensischen Nationalbewegung tatsächlich zu deren Stärkung beitrug, indem er etwa finanzielle Zuwendungen aus Katar an die Hamas gestattete. Anders als die Führungspersönlichkeiten aus den Sicherheitsapparaten und im Militär weist er jedoch jede politische Verantwortung zurück. Es lohnt sich, einen Blick auf den Etappensieg in der Knesset zu werfen, da dieser die Konfliktlinien zwischen der israelischen Mehrheit und der Wahrnehmung der internationalen Gemeinschaft offenbart.
Die Regierungserklärung stellt die Aussicht auf einen palästinensischen Staat als Belohnung für den Terror dar, welche jedwedes zukünftiges Friedensabkommen verhindere. So als ob es bei dem Massaker der Hamas um einen palästinensischen Staat neben dem israelischen gegangen wäre. Letzteres ist völliger Unsinn, was im Grunde auch alle Beteiligten wissen. Die Hamas will die Errichtung eines islamischen Gottesstaates und die Vernichtung Israels. Sie ist sich in der Ablehnung der Zweistaatenlösung mit dem rechten Lager israelischer Politik einig.
Zwei Geschichtserzählungen
Was sich in der unterschiedlichen Auslegung des Massakers vom 7. Oktober zeigt, ist die Etablierung einer vollkommen unterschiedlichen Geschichtserzählung in Israel und international. Während das Massaker in breiten Teilen der jüdisch-israelischen Bevölkerung als ein Vorbote dessen gesehen wird, was einen erwartet, wenn man die Kontrolle an eine palästinensische Verwaltung übergibt, herrscht international die Einschätzung vor, dass die Gewaltspirale ohne eine Aussicht auf nationale Selbstbestimmung der Palästinenser nicht zu beenden ist. Die Rückkehr der Zweistaatenlösung in die Diplomatie des Nahen Ostens ist der politische Ausdruck dieser unterschiedlichen Auffassungen.
Netanjahu versucht, das Trauma der israelischen Bevölkerung für sein politisches Überleben einzuspannen. Auch die parlamentarische Opposition vermag es nicht, sich dem zu entziehen. Einerseits teilen breite Teile davon die Einschätzung der Gefahren, die von einem palästinensischen Staat ausgehen, und andererseits befürchtet man, die Wählergunst zu verlieren. Die allwöchentlich in den Straßen von Tel Aviv und anderen Städten zu vernehmenden wütenden Rufe à la „Du bist der Kopf, du bist schuldig“ finden keine Übersetzung ins politische System.
Gaza als Westbank 2.0
Netanjahus Nachkriegsplan von vergangenem Wochenende ist sicherlich keine Ankündigung einer historischen Wende. Vielmehr wird mit dem Vorschlag einer zeitlich unbegrenzten militärischen Kontrolle, der Einrichtung von Pufferzonen, einer antiterroristischen „Reeducation“ und einer nicht näher spezifizierten Zivilverwaltung ein Szenario erkennbar, das als abgespeckte Besatzungspolitik aus dem Westjordanland bereits bekannt ist.
Wenn es der internationalen Koalition nicht gelingt, der Regierung einen verbindlicheren Fahrplan abzutrotzen, werden sich die Gegner der Zweistaatenlösung weiterhin die Bälle zuspielen. Netanjahu ist darin seit den Angriffen auf die Verträge von Oslo der versierteste Akteur.
Insbesondere wird jede palästinensische Zivilverwaltung für den Gazastreifen, wie sie gerade nach dem Rücktritt von Ministerpräsident Mohammed Schtajjeh vorbereitet wird, einen schwierigen Stand haben. Jahre von Korruption und Autoritarismus haben die Palästinensische Autonomiebehörde im Westjordanland und im Gazastreifen erheblich diskreditiert.
Zudem gestaltet sich die Suche nach politischen Repräsentanten, die sowohl die internen palästinensischen Fraktionen überbrücken können als auch den israelischen und internationalen Anforderungen genügen, als äußerst kompliziert. Als wäre das nicht genug, wurde mit der Verordnung zur Beschränkung der muslimischen Besucher zum Tempelberg/Haram al-Scharif zu Beginn des Ramadan am 10. März durch den nationalen Sicherheitsminister Itamar Ben-Gvir ein erster Fallstrick für kooperationswillige Partner ausgelegt.
Das eigene Überleben im Sinn
In der israelischen Opposition scheint vergessen, dass sich ein zionistischer Politiker wie Jitzhak Rabin für Verhandlungen mit der PLO entschied, als die Zustimmungsquote für einen Palästinenserstaat bei gerade mal 30 Prozent lag. Heute sind es knapp unter 50 Prozent. Der an Meinungsumfragen orientierte Populismus frisst seine Kinder. Netanjahus „totaler Sieg“ mündet in der endgültigen Liquidierung einer Zweistaatenlösung zugunsten seines eigenen politischen Überlebens.
In den Tunneln der Hamas dürfte man sich die Hände reiben. Das Einzige, was die fundamentalistische Terrororganisation langfristig gefährdet – die Bildung einer internationalen Koalition, die ihr die Finanzmittel abstellt und dabei eine politische Perspektive jenseits von Gewalt eröffnet –, wird gerade hintertrieben.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Juso-Chef über Bundestagswahlkampf
„Das ist unsere Bedingung“
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Eine ganz normale Woche in Deutschland
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Weil sie weiblich sind