Naher Osten und Deutschland: Krampf und Kampf
Am Druck, Israel möge sich mäßigen, ist Deutschland wenig beteiligt. Nach 90 grauenvollen Tagen bleibt ein Gefühl der Mitschuld.
E ine dreiköpfige palästinensische Familie, zur Kundgebung angereist mit sorgfältig gebastelten Schildern, die Parolen brav („Auch ein Krieg hat Regeln“) und in Klarsichthüllen drapiert. Vater, Mutter, Sohn. Darf ich sie fotografieren? Ja, sagt der Vater, nein, sagt die Mutter. Sie sorgt sich um die Sicherheit der Familie, ihre Sorge setzt sich durch. Ich mache ein Bild ohne Gesichter. Die Szene begleitet mich seitdem, und eine leichte Beschämung.
In meiner Nachbarschaft, jeden Tag gehe ich daran vorbei, ein Wandgemälde in düsteren Grautönen, es bedeckt die ganze Höhe einer seitlichen Hauswand. Ein Kind im Tunnel, hohläugig vor Angst, mit einem Luftballon als Signal an die Außenwelt. Nur selten halten Passanten inne, das jüdische Geiselkind scheint unsichtbar in seiner grauen Einsamkeit. Weil das Symbol des Luftballons bekannt ist aus Darstellungen palästinensischer Kinder, ihrer anderen Art von Eingeschlossensein, verschwimmen meine Assoziationen. Jeden Tag verlieren in Gaza zehn Kinder ihre Beine. Alles sträubt sich, diesen Gedanken zuzulassen. Gefühle sind nicht gerecht, und Solidarität ist schon vom Wesen her nicht ausgeglichen.
Was aber festzuhalten ist nach 90 grauenvollen Tagen des Krieges: Wir sind auf erschütternde Weise unter unseren Möglichkeiten geblieben. Als Land, dem der Schutz jüdischen Lebens wichtig und Verpflichtung ist und das zugleich die Heimat der größten palästinensischen Gemeinschaft Europas ist, wären wir prädestiniert, eine konstruktive Rolle zu spielen – als Staat wie als Gesellschaft, mit unseren vielen und bestens ausgestatteten Institutionen, die international tätig sind.
Stattdessen: Krampf und Kampf nach innen, Feinderklärungen und Repression auf der einen Seite, hohle Radikalität auf der anderen. Und drumherum – Gleichgültigkeit. Nach 15 Jahren Staatsräsondoktrin ist das Wissen über Israel, Zionismus und jüdische Religiosität paradoxerweise gespenstisch gering, kritisches Wissen inklusive. Als wäre das alles nur ein Ding von denen da oben, der politischen Klasse. Und die Deutsch-Israelische Gesellschaft (Verein, der die Förderung der Beziehungen zu Israel auf zivilgesellschaftlicher Ebene zum Ziel hat; d. Red.) sieht ihre vornehmste Aufgabe darin, diese Klasse auf Israelkurs zu halten und gelegentlich Preisverleihungen zu zensieren.
Viel Papier wurde bedruckt in diesen 90 Tagen, mit Besinnungsaufsätzen, Anschuldigungen, Selbstversicherungen. Aber gab es eine einzige Tat, bei der die Welt für eine Sekunde aufgemerkt hätte: Aha, das kommt aus Deutschland, dem Land, das aus seiner Gewaltgeschichte gelernt hat? Aufgemerkt wurde, als sich Deutschland enthielt bei der UN-Abstimmung über einen Waffenstillstand; eine taktische Enthaltung, so die nachgereichte Erklärung, denn man wollte ja eigentlich dagegenstimmen. Welches Wort für eine solche Diplomatie?
Ab März wird Deutschland keinen RichterInnenposten mehr am Internationalen Strafgerichtshof besetzen. Dass die deutsche Kandidatin durchfiel, hat mehrere Gründe, aber die deutsche Position im Nahostkrieg ist einer. Ursula von der Leyen, mit ihrer offenkundigen Doppelmoral im Hinblick auf die Kriegsschauplätze Ukraine und Gaza, belastet ja gleichfalls das deutsche Konto, wirkt wie das personifizierte Unvermögen, Europa mit neuen Weltverhältnissen zu verflechten.
Parolenhafte Solidarität
Anders als auf Putin hätte Deutschland, hätte die Europäische Union Einfluss auf Netanjahu. Doch am internationalen Druck, Israel möge sich mäßigen in seiner Kriegsführung, sind wir wenig beteiligt. Und mit „wir“ meine ich das offizielle Deutschland ebenso wie die Bewegung auf der Straße. Was sich Palästinasolidarität nennt, erschöpft sich zu oft im Rufen von Parolen, deren Wert vor allem darin besteht, dass sie vom deutschen Staat verboten werden.
Wenn das oberste Gericht der Vereinten Nationen eine Genozid-Klage zulässt, während das Aussprechen des Begriffs in Deutschland als Volksverhetzung geahndet wird, leben wir offensichtlich in einem seltsam verengten Gehäuse. Doch darf sich deshalb das Denken und Empfinden nicht verengen. Die Antwort auf die autoritäre Staatsräson kann nicht sein, jüdischen Schmerz zu missachten.
Es wäre ratsam, dazu Edward Said zu lesen, und zwar sein Plädoyer, „die jüdische Erfahrung mit allem, was sie an Schrecken und Angst zur Folge hat, (zu) akzeptieren“. Auch wenn es eine Zumutung sei, unter den Bedingungen fortdauernden palästinensischen Leids die historische Komplexität des Konflikts anzuerkennen.
Große Verlassenheit
Keine Stimme von derartigem Rang definiert heute, was „Palestine will be free“ bedeuten soll. Deshalb blüht, wie jüngst jemand formulierte, „Resistance-Porn“ und „Twitter-Mudschahidin“: eine Salonradikalität weit ab vom Ort des Geschehens – und dort ist die Lage verzweifelter denn je. Im Westjordanland setzt eine Mehrheit gegen die zunehmende Siedlergewalt auf bewaffnete Milizen. Daraus spricht eine große Verlassenheit. Und wir, Europa, gerade Deutschland, haben dazu beigetragen. So bleibt, nach 90 grauenvollen Tagen, ein Gefühl der Mitschuld. Wir tragen, ob wir wollen oder nicht, zur Verrohung bei, indem wir zusehen, wie täglich der Wert palästinensischen Lebens weiter sinkt.
Welcher Widerstand gegen die Besatzung wäre legitim? Aus Sicht der deutschen politischen Klasse: keiner. Wer bewaffnet kämpft, ist – getreu der Definition Israels – Terrorist, und der gewaltlose Boykottaufruf antisemitisch. Gibt es eine deutsche Ethik, die im Westjordanland lebbar wäre?
Weil steinewerfende Jugendliche oft verhaftet werden, schlagen manche Eltern ihre Söhne, damit sie sich nicht in diese gefährliche Situation begeben. Sie schlagen sie unter Tränen zu ihrem Schutz. Und die Kinder wachsen mit der Machtlosigkeit der Eltern auf. Was sagen wir da mit unserer Ethik der warmen Stube? Dass man Kinder nicht schlagen darf?
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Erfolg gegen Eigenbedarfskündigungen
Gericht ebnet neue Wege für Mieter, sich zu wehren
Stockender Absatz von E-Autos
Woran liegt es?
Grünes Wahlprogramm 2025
Wirtschaft vor Klima
Tod des Fahrradaktivisten Natenom
Öffentliche Verhandlung vor Gericht entfällt
Foltergefängnisse in Syrien
Den Kerker im Kopf
Parteiprogramme für die Bundestagswahl
Die Groko ist noch nicht gesetzt