Nachts in der U-Bahn: Was ist schon ein bisschen Lack?
Die Bedeutung von Oberflächlichem ist nicht zu unterschätzen. Etwa in der U-Bahn, wo schon etwas Kosmetik für ein Gefühl der Sicherheit sorgen kann.
Darf ich dich kurz ansprechen?“, sagt die Person mir gegenüber in der U-Bahn. Ich schaue von meinem Handy hoch, auf das ich gar nicht so wirklich geguckt habe. Es ist zwei Uhr morgens und ich bin verfeiert auf dem Weg nach Hause, in einem fast leeren Waggon. Meine Mitfahrer*in sitzt mir schon eine Weile gegenüber. Wir haben uns mehrere Male an- und dann schnell wieder weggeguckt. Der Blickaustausch war ein bisschen komisch, deswegen starre ich aufs Handy. Jetzt lüpft sie kurz die FFP2-Maske, das ist ja so etwas wie das neue Hut-Ziehen.
„Ich hab gesehen, dass du ein Mann bist“, sagt sie, „also wollte ich mich eigentlich von dir wegsetzen. Aber dann hab ich deine Nägel gesehen, also alles gut.“ Ich habe Nagellack drauf, der ist schon weitgehend abgepittelt. „Wie bitte?“, sage ich. Kein Entrüstet-Wie-bitte, mehr so ein Verpeilt-Wie-bitte. Die Mitfahrer*in lächelt. „Sorry, ich hab Drogen genommen, sonst hätte ich das jetzt wahrscheinlich gar nicht gesagt.“
Oft vergesse ich, dass meine Default-Optik als großer, männlich aussehender Typ für viele Menschen ein Warnsignal ist, vor allem spät am Abend. Schön finde ich das nicht, verstehen kann ich es. Im öffentlichen Nahverkehr bei Nacht fühlen sich 60 Prozent der Männer ohne Begleitung sicher, aber nur etwa jede dritte Frau. Das hat erst vorige Woche eine Umfrage des Bundeskriminalamts ergeben. Sexistische Übergriffe seitens Fremder und Unbekannter erleben Frauen deutlich häufiger als Männer, sagt eine Studie im Auftrag des Familienministeriums von 2019. Weitere Geschlechter neben Frau und Mann wurden in diesen Studien nicht abgefragt, aber ich bezweifle, dass nonbinäre Menschen zum Entspannen nachts U-Bahn fahren gehen.
Verzicht aufs Schubladisieren kann ein Luxus sein
Die taz hatte mal einen Blog mit dem Titel „Heimweg“, auf dem Kolleg*innen und Leser*innen über Belästigung und sexuelle Übergriffe in der Öffentlichkeit berichtet haben. Ein Gruselkabinett. Dass viele auf den optischen Reiz „Mann + leere U-Bahn bei Nacht“ spontan reagieren mit „lieber mal Abstand suchen“, ist also kein Wunder.
Was mich hingegen bei der Aussage der Mitfahrer*in wundert, ist, wie wenig offenbar nötig war, um meine optische Bedrohlichkeit abzumildern. Ein bisschen Farbe. Ich fühle mich weißgöttin nicht heldenhaft oder edgy, wenn ich mir die Nägel lackiere. Ich finde es einfach hübsch, dachte aber, dass davon in Berlin nun wirklich niemand groß Notiz nimmt. Nun ja, falsch gedacht.
Weil unsere mediale Gesellschaft voll ist von Image und Inszenierung, wird gerne angemahnt, dass man sich doch bitte nicht so sehr mit Äußerlichkeiten aufhalten soll. Was ist schon ein bisschen Lack? Mensch, echte Werte liegen innen! Und gerade aus queerer Perspektive wird das schnelle Schubladisieren von Menschen nach dem ersten Eindruck gerne kritisiert. Finde ich alles richtig. Richtig ist aber auch, dass für manche Menschen zu manchen Tageszeiten der Verzicht aufs Schubladisieren ein Luxus ist, den sie sich nicht leisten können.
Da fällt mir ein, dass ich ja auch von mir aus anbieten könnte, mich wegzusetzen. „Nönö“, sagt die Mitfahrer*in. „Ich fühl mich ganz safe jetzt.“ Schön, dass es offensichtlich so einfach sein kann, mit dem bisschen Nagellack. Klar, empfundene relative Sicherheit ist nicht dasselbe wie echte Sicherheit. Aber eine entspanntere Heimfahrt für eine Person mehr im Berliner Untergrund ist ja nun auch nicht nichts. Es lohnt sich – bei aller Suche nach Authentizität – also durchaus, die profunde Bedeutung von Oberflächlichkeiten nicht aus dem Blick zu verlieren.
Und während ich das noch so vor mich hindenke, habe ich meine Haltestelle verpasst.
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