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Nachts in der U-BahnWas ist schon ein bisschen Lack?

Die Bedeutung von Oberflächlichem ist nicht zu unterschätzen. Etwa in der U-Bahn, wo schon etwas Kosmetik für ein Gefühl der Sicherheit sorgen kann.

Nachts im Nahverkehr fühlen sich 60 Prozent der Männer sicher, bei den Frauen sind es viel weniger Foto: Christoph Soeder/dpa/picture alliance

Darf ich dich kurz ansprechen?“, sagt die Person mir gegenüber in der U-Bahn. Ich schaue von meinem Handy hoch, auf das ich gar nicht so wirklich geguckt habe. Es ist zwei Uhr morgens und ich bin verfeiert auf dem Weg nach Hause, in einem fast leeren Waggon. Meine Mit­fah­re­r*in sitzt mir schon eine Weile gegenüber. Wir haben uns mehrere Male an- und dann schnell wieder weggeguckt. Der Blickaustausch war ein bisschen komisch, deswegen starre ich aufs Handy. Jetzt lüpft sie kurz die FFP2-Maske, das ist ja so etwas wie das neue Hut-Ziehen.

„Ich hab gesehen, dass du ein Mann bist“, sagt sie, „also wollte ich mich eigentlich von dir wegsetzen. Aber dann hab ich deine Nägel gesehen, also alles gut.“ Ich habe Nagellack drauf, der ist schon weitgehend abgepittelt. „Wie bitte?“, sage ich. Kein Entrüstet-Wie-bitte, mehr so ein Verpeilt-Wie-bitte. Die Mit­fah­re­r*in lächelt. „Sorry, ich hab Drogen genommen, sonst hätte ich das jetzt wahrscheinlich gar nicht gesagt.“

Oft vergesse ich, dass meine Default-Optik als großer, männlich aussehender Typ für viele Menschen ein Warnsignal ist, vor allem spät am Abend. Schön finde ich das nicht, verstehen kann ich es. Im öffentlichen Nahverkehr bei Nacht fühlen sich 60 Prozent der Männer ohne Begleitung sicher, aber nur etwa jede dritte Frau. Das hat erst vorige Woche eine Umfrage des Bundeskriminalamts ergeben. Sexistische Übergriffe seitens Fremder und Unbekannter erleben Frauen deutlich häufiger als Männer, sagt eine Studie im Auftrag des Familienministeriums von 2019. Weitere Geschlechter neben Frau und Mann wurden in diesen Studien nicht abgefragt, aber ich bezweifle, dass nonbinäre Menschen zum Entspannen nachts U-Bahn fahren gehen.

Verzicht aufs Schubladisieren kann ein Luxus sein

Die taz hatte mal einen Blog mit dem Titel „Heimweg“, auf dem Kol­le­g*in­nen und Le­se­r*in­nen über Belästigung und sexuelle Übergriffe in der Öffentlichkeit berichtet haben. Ein Gruselkabinett. Dass viele auf den optischen Reiz „Mann + leere U-Bahn bei Nacht“ spontan reagieren mit „lieber mal Abstand suchen“, ist also kein Wunder.

Was mich hingegen bei der Aussage der Mit­fah­re­r*in wundert, ist, wie wenig offenbar nötig war, um meine optische Bedrohlichkeit abzumildern. Ein bisschen Farbe. Ich fühle mich weißgöttin nicht heldenhaft oder edgy, wenn ich mir die Nägel lackiere. Ich finde es einfach hübsch, dachte aber, dass davon in Berlin nun wirklich niemand groß Notiz nimmt. Nun ja, falsch gedacht.

Weil unsere mediale Gesellschaft voll ist von Image und Inszenierung, wird gerne angemahnt, dass man sich doch bitte nicht so sehr mit Äußerlichkeiten aufhalten soll. Was ist schon ein bisschen Lack? Mensch, echte Werte liegen innen! Und gerade aus queerer Perspektive wird das schnelle Schubladisieren von Menschen nach dem ersten Eindruck gerne kritisiert. Finde ich alles richtig. Richtig ist aber auch, dass für manche Menschen zu manchen Tageszeiten der Verzicht aufs Schubladisieren ein Luxus ist, den sie sich nicht leisten können.

Da fällt mir ein, dass ich ja auch von mir aus anbieten könnte, mich wegzusetzen. „Nönö“, sagt die Mitfahrer*in. „Ich fühl mich ganz safe jetzt.“ Schön, dass es offensichtlich so einfach sein kann, mit dem bisschen Nagellack. Klar, empfundene relative Sicherheit ist nicht dasselbe wie echte Sicherheit. Aber eine entspanntere Heimfahrt für eine Person mehr im Berliner Untergrund ist ja nun auch nicht nichts. Es lohnt sich – bei aller Suche nach Authentizität – also durchaus, die profunde Bedeutung von Oberflächlichkeiten nicht aus dem Blick zu verlieren.

Und während ich das noch so vor mich hindenke, habe ich meine Haltestelle verpasst.

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Peter Weissenburger
Freier Autor
Schreibt über Kultur, Gesellschaft, queeres Leben, Wissenschaft.
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6 Kommentare

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  • Die Kolumnen sind das, was ich wirklich jeden Tag lese. Wo war diese in meiner Abonnementausgabe? Herr Weissenburger ist sonst nicht mein Lieblingskolumnist, aber diese war hervorragend -- und hätte ich sie nicht vermißt und gezielt hier gesucht, sie wäre mir entgangen. Bezahle ich deshalb voll, um Inhalte nur in der kostenfreien Ausgabe zu finden?

  • Wolfgang Müller , Autor*in ,

    Der Killer Jeffrey Dahmer sah auch ziemlich nett aus, jedenfalls nicht so abstoßend wie der Elefantenmann. Also, mit solchen Suggestionen bringt der Autor schlimme Typenwomöglich auf die Idee, sich die Nägel zu lackieren, um sich über diese Camouflage an das Opfer zu pirschen. Um seine Mitfahrerin wirklich zu schützen, hätte er ihr sagen müssen: "Seien Sie nicht so naiv. Nur weil ein Mann seine Nägel anmalt, muss er noch längst nicht vertrauenswürdig sein. Oder haben Sie den Film "Das Schweigen der Lämmer" nie gesehen?

  • Ist es nicht auch eine Art von Vorurteil, wenn man sagt "Menschen mit lackierten Fingernägel sind friedlicher"?



    Ich habe keine lackierten Fingernägel und würde trotzdem niemals eine Frau in einer U-Bahn dumm anmachen.

    In jedem Fall war es ein sehr lesenswerter Bericht mit echt traurigem Hintergrund.

  • Hier hat der Nagellack gute Dienste geleistet.



    Das kann allerdings auch anders laufen.

    Der Sohn von Freunden trägt auch manchmal Nagellack. Einmal wurde er deswegen nachts in der U-Bahn übelst homophob angegangen und konnte sich gerade noch so in Sicherheit bringen.

    • @Jim Hawkins:

      Wahrscheinlich sind es solche Geschichten, die dazu führen, dass gefährdete Personen sich in Gegenwart von Männern mit lackeriten Nägeln sicherer fühlen: Wenn die andere Person selbst gefährdet ist, können wir der Gefahr gemeinsam entgegentreten.

    • @Jim Hawkins:

      Lack hilft der Einen, schadet dem Anderen - oder umgekehrt...