Nachrufe auf Michail Gorbatschow: Der Mann fürs Große
In Westeuropa sind viele Menschen dankbar für die Politik des gerade verstorbenen Michail Gorbatschow. Im Osten sieht man ihn deutlich kritischer.
„Danke für den Frieden und unsere Freiheit, Gorbi!“ – solche Aussagen sind am häufigsten im Westen, in Deutschland, zu hören, wenn es um Michail Gorbatschow geht. Im Osten Europas hingegen sind andere Worte zu vernehmen. Die Palette reicht vom „Buckligen (Gorbatij), der die Union ruiniert hat“ über „Verräter!“ bis hin zu: „An seinen Händen klebt Blut!“ Diejenigen, die den Zusammenbruch der Sowjetunion für eine geopolitische Katastrophe halten, ein weit verbreitetes Narrativ in Russland, machen Gorbatschow dafür verantwortlich. Es sei seine Politik gewesen, die zum Untergang der größten Macht geführt habe. Andere sind sich sicher, es sei dem ersten und letzten Präsidenten der UdSSR zu verdanken, dass nicht nur friedliche Proteste in Vilnius, Tiflis, Alma-Ata und Baku brutal niedergeschlagen wurden, sondern auch Kriege in Bergkarabach, Transnistrien, Abchasien und Südossetien ausbrachen. Unsere vier Autor:innen zeichnen ein differenziertes Bild.
Ukraine: Er war Putins Mann
Für die osteuropäischen Länder, die nach dem Ende der Sowjetunion einen demokratischen Weg eingeschlagen haben, ist es schwierig, die Begeisterung für Gorbatschow zu teilen. Die Generation, die bereits in den unabhängigen postsowjetischen Ländern aufgewachsen ist, sieht Gorbatschows einzige gute Tat vielmehr darin, dass ein Pakt zur Auflösung der Sowjetunion unterzeichnet wurde.
Doch dies wird nicht als sein guter Wille wahrgenommen, sondern als erzwungener Schritt. Denn zu diesem Zeitpunkt konnte die Union in ihren Grenzen und ihrer Verfasstheit nicht mehr existieren, weil das Projekt nicht mehr lebensfähig war. Auch die Berliner Mauer fiel nicht durch den Willen Gorbatschows, sondern weil Menschen unter Selbstaufopferung nach Freiheit und Vereinigung strebten.
Für die Ukrainer*innen ist die Atomkatastrophe von Tschernobyl 1986 und ihre Vertuschung mit Gorbatschows Herrschaft verbunden. Besonders kritisch wurde ihre Wahrnehmung jedoch 2014. Als Gorbatschow Russlands Annexion der Krim unterstützte, war das, als ob den Menschen beim Anblick des „Demokraten“ Gorbatschow ein Schleier vor den Augen weggezogen wurde:“Welche Legitimität braucht es in Bezug auf die Krim? Mag das Referendum auch durch Mängel gekennzeichnet gewesen sein, so haben die Menschen dort zweifellos klar und unmissverständlich gesagt, dass sie Teil Russlands sein wollen“, sagte er dem Spiegel im Januar 2015. Gorbatschow weigerte sich, die Anwesenheit russischer Truppen im Donbass zur Kenntnis zu nehmen. In allen seinen Kommentaren unterstützte er Wladimir Putins Vorgehen in der Ukraine und forderte den Westen auf, alle Sanktionen gegen Russland aufzuheben.
„Ich vertrete entschieden die Position, Russland zu verteidigen und damit auch seinen Präsidenten Wladimir Putin. Ich bin absolut davon überzeugt, dass Putin derzeit der beste ist, um für Russlands Interessen einzutreten.“ Natürlich gebe es an Putins Politik genug zu kritisieren, doch daran werde er sich nicht beteiligen, sagte Gorbatschow 2014 bei einer Gedenkfeier zum Fall der Berliner Mauer. Zu diesem Zeitpunkt war die russische Invasion in der Ukraine bereits neun Monate im Gange.
2022 äußerte sich Gorbatschow nicht öffentlich zu Russlands Angriffskrieg in der Ukraine. Dennoch wird er den Ukrainer*innen nicht als Demokrat in Erinnerung bleiben, sondern als jemand, der Putins Aggression unterstützt hat. Anastasia Magasowa – Aus dem Russischen Barbara Oertel
Polen: Kein Demokrat, verdient aber Dankbarkeit
„Glasnost“ und „Perestroika“ – die Reformvorschläge des ehemaligen Generalsekretärs der KPdSU und späteren Staatspräsidenten der Sowjetunion Michail Gorbatschow, die im Westen mit großer Faszination und Hoffnung aufgenommen wurden, verfingen in Polen nicht übermäßig.
Mitte der 80er Jahre kämpfte Polen noch immer mit den Folgen des Kriegsrechts, das General Wojciech Jaruzelski im Dezember 1981 über das Land verhängt hatte. Jaruzelski behauptete, dass die Sowjets kurz vor dem Einmarsch und schon an der Grenze stünden, da die Friedens- und Gewerkschaftsbewegung Solidarnosc das Land unregierbar mache und die Versorgungslage der Bevölkerung gefährde.
Das Misstrauen gegenüber „den Russen“ saß tief. Während die eigenen polnischen Reformversuche des Sozialismus „von unten“ damit endeten, dass tausende Solidarnosc-Anhänger für Jahre in Gefängnissen und Internierungslagern landeten, wollte Gorbatschow den Sozialismus „von oben“ reformieren.
„Er hatte vielleicht einen demokratischen Instinkt, aber er war kein Demokrat, kannte die Demokratie nicht und verstand sie auch nicht“, kommentiert Polens Ex-Präsident Aleksander Kwasniewski den Tod Gorbatschows. „Aber er hatte einen guten Willen, glaubte an die Mitwirkung der „sowjetischen Bürger“ am politischen System und brachte mit seiner Perestroika einen Prozess ins Rollen, der bald nicht mehr aufzuhalten war.“
Es gebe Länder, die ihm ganz besonders dankbar sein sollten, so Kwasniewski. „Das ist in erster Linie Deutschland. Ohne Gorbatschow hätte es keine Wiedervereinigung gegeben, insbesondere wenn man bedenkt, dass Thatcher und Mitterand dieser Idee äußerst skeptisch gegenüberstanden.“
Doch auch die mittelosteuropäischen Länder sollten Gorbatschow dankbar sein, dann er habe in seiner berühmten Rede vor der UNO ganz bewusst mit der Doktrin Breschnews gebrochen, der zufolge die Sowjetarmee in alle Satellitenstaaten einmarschieren konnte, wenn Moskau etwas nicht gefiel.
Anne Applebaum, Pulitzerpreisträgerin und Autorin etlicher Bücher zur Geschichte Osteuropas, traf Gorbatschow zum letzten Mal am 9. November 2014, dem 25. Jahrestag des Mauerfalls in Berlin. Die Amerikanerin, die privat die Ehefrau des polnischen Ex-Verteidigungs- und Außenministers Radoslaw Sikorski ist, hält Gorbatschow für „eine Person, die wie kaum eine andere die Epoche seiner Zeit prägte, sie zugleich aber kaum verstand.“
Die Misswirtschaft und den immer sichtbareren Verfall des Sowjetsystems habe Gorbatschow zunächst auf den hohen Alkoholkonsum der Sowjetbürger zurückgeführt, dann aber als tatsächliche Ursache die obsessive Geheimhaltung und Intransparenz in Partei und Staat erkannt.
„Aber als Partei-Apparatschik hat er nie die Wut in den okkupierten Satelliten-Staaten Moskaus begriffen, die auch einen ‚Sozialismus mit menschlichem Antlitz‘ strikt ablehnten. Am Ende ist er der Geschichte hinterhergelaufen, die er doch eigentlich gestalten wollte“, so Anne Applebaum. Gabriele Lesser
Belarus: Die Gulags geöffnet, von den Gefangenen verflucht
Nie hätte ich gedacht, einmal damit zu prahlen, drei Leben gelebt zu haben: ein sowjetisches, ein unabhängiges und eins unter Lukaschenko.
Meiner Kindheit in der UdSSR folgte eine revolutionäre Perestroika-Jugend. Wir hatten das Glück, Unerlaubtes zu entdecken, keine Angst mehr zu haben, Dinge laut zu sagen, selbständig zu denken, unabhängig von der „generellen Parteilinie“.
Plötzlich erfuhren wir: wir müssen nicht mehr im Namen eines großen (und unverständlichen) Zieles lebendig sterben. Wir können einfach leben, ohne Angst vor Konsequenzen. Auf der Straße konnte man den echten „Wind of Change“ einatmen: berauschend und voller Hoffnungen. Und ich glaubte, das sei jetzt für immer so. So viel Freiheit gab es danach leider nie mehr. Und wird es nie mehr geben. Es war eine Weltrevolution, die Verschiebung tektonischer Platten, in dessen Spalten ein Reich, das sich für ewigwährend hielt, hineingefallen war. Den unvergesslichen Wind von damals spüre ich bis heute auf meinen Wangen.
Ich idealisiere Gorbatschow nicht. An seinen Händen klebte Blut, aus Vilnius und Tiflis, Krebs aus Tschernobyl und die Armut der Menschen. Aber dank ihm gab es eben auch den Fall der Berliner Mauer, den Abzug der sowjetischen Truppen aus Osteuropa und Afghanistan, die Rückkehr des Physikers Andrei Sacharow, die Zeitschrift Ogonjok mit hochkarätigen Texten, die man las, bis die Hefte fast auseinanderfielen. Und die freche Fernsehsendung „Wsgljad“ (dt. Ansicht, Meinung).
Andersdenkende wurden nicht mehr mit Gefängnis- oder Psychiatrieaufenthalten bestraft. Die Freiheit des Wortes gab es nicht nur in der eigenen Küche, sondern überall. Diejenigen, die Gorbatschow heute „Mörder“ nennen, sollten begreifen, dass er auch (vielleicht unbewusst) unsere Angst getötet hat, ihn so zu nennen.
Übrigens, für den Vorsitzenden einer kommunistischen Partei war er ein echter Rock `n` Roller. Zum ersten Mal wussten alle von der Existenz einer sowjetischen First Lady, die zuerst bewundert, später verflucht wurde.
Der erste Sowjetkongress wurde live im Fernsehen übertragen und die Leute rannten nach Hause, um ihn sich anzusehen. Zum ersten Mal sahen sie, dass nicht alles so klar und eindeutig war. Solche Einschaltquoten hatte nicht mal „Game of Thrones“. Ein Freund von mir hat treffend gesagt: „Michail Gorbatschow hat die die Tore des sowjetischen Gulags geöffnete und wurde dafür von den Gefangenen verflucht.“
Gorbatschow war ein „Herrscher“, der keine Superideen verkündete und selbst keine Supermacht wollte. Seine Nachfahren machen heute alles genau umgekehrt: Millionen Menschen für die Supermacht ermorden, einen Atomkrieg entfesseln und einen neuen „Eisernen Vorhang“ fallen lassen. Janka Belarus – Aus dem Russischen Gaby Coldewey
Georgien: Er drückte sich vor der Verantwortung
Wer sagt, ihm oder ihr gefalle Michail Gorbatschow, macht sich in Georgien nicht unbedingt Freunde. In der Südkaukasusrepublik hat der erste und letzte Präsident der Sowjetunion Bewunder*innen, doch viele hassen ihn auch. Auf die Frage, ob es nicht sein liberaler Ansatz gewesen sei, der den Kampf um die Unabhängigkeit in Georgien habe aufflammen lassen, lautet die Antwort: Er hat uns für diese Flamme bestraft und dabei ist Blut geflossen.
Im April 1989 forderten Zehntausende in der Hauptstadt Tiflis Georgiens Austritt aus der UdSSR. Am 9. April, im Morgengrauen, lösten interne Truppen und Fallschirmjäger der sowjetischen Armee die Kundgebung auf. Gegen die friedliche Menge wurden Giftgas, Gummiknüppel, aber auch „Pionierschaufeln“ eingesetzt – ein Werkzeug, mit dem Soldaten Schützengräben ausheben. Während der Niederschlagung der Protestaktion wurden mehr als 2000 Menschen verletzt, 21 starben. Das jüngste Opfer war 15 Jahre alt.
Bis heute ist nicht klar, welche Rolle Gorbatschow bei diesen Ereignissen gespielt hat. Eine Ermittlungskommission befragte hunderte Personen – von einfachen Soldaten bis hin zu einem Innenminister – nicht aber Gorbatschow.
1989 hatte er die Vorfälle in Tiflis als „Angriff auf die Perestroika“ bezeichnet. In den folgenden Jahren sagte Gorbatschow immer wieder, sein „Gewissen sei rein“, die Entscheidung zur Anwendung von Gewalt sei „hinter seinem Rücken“ getroffen worden „Damals und auch später habe ich an meinem Credo festgehalten: Die schwierigsten Probleme müssen mit politischen Mitteln gelöst werden, ohne Gewaltanwendung, ohne Blutvergießen“, schrieb er 2021.
Wer jedoch ist dann verantwortlich? Gorbatschow schob die Schuld der Führung der Sowjetrepublik Georgien in die Schuhe, die nicht verstanden habe, wie unter demokratischen Bedingungen gearbeitet werde“. Der damalige erste KP-Sekretär, Dschumber Patiaschwili, versichert, dass der Präsident den Befehl gegeben habe. In einem Interview sagte Patiaschwili, dass der Generalsekretär ihm am Tag vor der Tragödie gesagt habe: „Wir müssen den Platz sofort räumen lassen, die Armee wird sich darum kümmern!“
Die Kommission kam zu dem Ergebnis, dass die Soldaten ihre Befugnisse überschritten hätten und der Einsatz von Gewalt unverhältnismäßig gewesen sei. Bestraft wurde jedoch niemand. Dies war der letzte Tropfen, der die überwältigende Mehrheit der Bevölkerung Georgiens angesichts von Gorbatschows Reformen desillusionierte. Zwei Jahre später, 1991, fand in Georgien ein Referendum statt, bei dem 98,9 Prozent für die Unabhängigkeit stimmten.
Viele erinnern sich heute daran, dass die Volksabstimmung, die Kundgebungen, ja überhaupt Kritik an der Sowjetmacht erst dank der Liberalisierung unter Gorbatschow möglich wurden. Deshalb sind ihm viele Georgier*innen – trotz aller Widersprüche – immer noch dankbar. Unter ihnen ist auch Vano Merabischwili, der frühere Innenminister Georgiens. „Er hat unserer Generation die Chance gegeben, in einer normalen europäischen Gesellschaft zu leben und vollwertige Weltbürger zu werden, sagte er am Mittwoch. Sandro Gvindadze – Aus dem Russischen Barbara Oertel
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Juso-Chef über Bundestagswahlkampf
„Das ist unsere Bedingung“
Verein „Hand in Hand für unser Land“
Wenig Menschen und Traktoren bei Rechtspopulisten-Demo
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Weil sie weiblich sind