Nachruf auf Bettina Wassmann: Die Hüterin der verlorenen Zeit
Bremens legendäre linke Buchhändlerin Bettina Wassmann ist gestorben. Sie suchte nach Weisheit auch jenseits der Trampelpfade der Vernunft.
Ihren „Buchladen“ – schon der Begriff war eine Provokation – hatte Wassmann 1969 eröffnet. Ihr Vermieter war der für die illegale KPD engagierte Bauunternehmer Klaus Hübotter. Wassmann war damals dem maoistischen Kommunistischen Bund Westdeutschlands (KBW) verbunden, aber nur für kurze Zeit. Dann wurde sie ausgeschlossen: Die Genossen verziehen ihr nicht, dass sie auch bürgerliche Literaten wie Marcel Proust im Regal stehen hatte.
Sie war die Tochter eines Baumwollhändlers und einer Künstlerin, 1942 in Plauen im Vogtland zur Welt gekommen. Schon bald hatte sie ihre Liebe für das Leben des Immateriellen und Schönen entdeckt. Gern erzählte sie, nicht ohne Stolz, dass bei ihr im Laden die Trainer-Legende Otto Rehhagel (Werder Bremen) anzutreffen war, aber auch Reinhild Hoffmann, die Regisseurin des Bremer Tanztheaters, und der kürzlich verstorbene Dietrich E. Sattler, der für das Werk Friedrich Hölderlin ein neues Editionsverfahren entwickelte und zu diesem Zweck, obschon Studienabbrecher, an der Bremer Uni als wissenschaftlicher Mitarbeiter eine eigene Forschungsstelle betrieb.
Eher nebenbei und nicht immer mit Enthusiasmus bediente Wassmann ihr Stammpublikum, die linken Studenten, die schlichtere Kost verlangten. Irgendwann 1985 antwortete sie auf die Frage, wann sie aufhören wolle zu arbeiten, leicht ironisch: „Ich mache weiter, bis mir ‚Das Kapital‘, Band eins, von Marx auf den Kopf fällt“.
Restexemplare des Klassikers verstaubten vermutlich damals schon im obersten Regal im hintersten Eck ihres Buchladens. Ihr wurde damals die Universitäts-Buchhandlung anvertraut, aber sie hatte einfach keine Lust, damit ein Geschäft zu machen. Die Liebhaber des Kapitals und ihr Stammpublikum wechselten dann 1977 zur neu gegründeten Konkurrenz – der „Linke Buchladen im Ostertor“ eröffnete, wenige Straßen weiter, und da gab es weder Rotwein noch irritierend esoterische Literatur im Schaufenster.
Wassmann suchte nach Weisheit auch jenseits der Trampelpfade der Vernunft. Walter Benjamin sei ihr Lieblingsautor, sagte sie, der Kulturkritiker, der kritische Theorie und jüdische Mystik verbinden wollte. Der Bezug auf Benjamin bedeutete ihr vor allem eines: „Überzeugung ist unfruchtbar“. Sie liebte den französischen Romancier Marcel Proust, so sehr, dass sie scherzhaft ihr linkes Knie nach ihm benannte. Dessen berühmtes Werk, die siebenbändige Romanserie „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“, hatte sie im Krankenhaus nach einer Knie-Operation gelesen.
Für Wolfram Siebeck hat sie den Nobelpreis gefordert. Wolfram Siebeck? Das war damals der Papst der deutschen Gastronomie-Kritik, der gegen den populären Toast Hawaii polemisierte, gegen „Mett-Igel“ und Tütensoßen anschrieb. Siebeck präsentierte sich gern als Weinkenner, und hatte für die, die das auch werden wollen, nur einen Tipp: Trinken, Trinken, Trinken!
In Wassmanns Schaufenster an der belebten Einkaufsstraße sah man selten nur die Bestseller des Zeitgeists. „Hier stehen nur Bücher, die mich interessieren“, sagte sie zu ihren Regalen. Wassmanns Buchladen lief also auf die Dauer eher schlecht als recht. Oben in dem Gründerzeit-Haus praktizierte Bremens berühmte „Wall-Commune“ die Revolution im Privatleben. Unten stellte Wassmann bibliophile Juwelen aus.
Irgendwann Ende der 1970er Jahre hat sie dann den Soziologen Alfred Sohn-Rethel kennengelernt, dem Oskar Negt noch im hohen Alter von 80 Jahre eine Stelle an der Bremer Uni besorgt hatte. Sohn-Rethel war seit den 1970er Jahren so etwas wie ein Geheimtipp unter der linken Intellektuellen, hatte er doch – Jahrzehnte früher – in einem Monumentalwerk „Geistige und körperliche Arbeit“ versucht, die abstrakten Kategorien des Denkens als Widerspiegelung der Abstraktionen der Warenform zu erklären.
„GKA“ war damals das Kürzel seines Buches, das den Anspruch hatte, das Denken von seiner materialistischen Basis geradezu „abzuleiten“. Davon träumten auch viele, die Mühe hatten, die verschlungen Gedankengänge Sohn-Rethels nachzuvollziehen.
Als Bettina Wassmann nicht mehr nur fremde Bücher auslegen wollte, sondern mit einem eigenen Klein-Verlag ausgefallenen Texten ein Forum bieten wollte, druckte sie auch Sohn-Rethel – einen Text mit dem vielsagenden Titel „Das Ideal des Kaputten“. Sie hatte den 1899 geborenen, 41 Jahre älteren Soziologen 1984 geheiratet. Im gemeinsamen Wohnzimmer im gutbürgerlichen Bremer Schwachhausen zeigte Sohn-Rethel gern die kleine Kommode, in der drei Stapel Papiere sorgfältig aufgeschichtet waren – „meine gesammelten Werke“, sagte er. Sechs Jahre lebte er mit Wassmann zusammen, dann starb er – 91jährig. Wahrscheinlich hoffte er, dass seine gesammelten Werke posthum einmal im „Verlag Bettina Wassmann“ gedruckt werden würden.
Aber Wassmann konnte nur kleine Schriften herausgeben. So erschien bei ihr zum Beispiel Jochen Hörischs Mannheimer Antrittsvorlesung „Das Abendmahl, das Geld und die neuen Medien – Poetische Korrelationen von Sein und Sinn.“ In einem gewagten Ritt durch die Jahrhunderte und die akademischen Fächer erklärt Hörisch da, dass sich „Sinn“ in der christlich abendländischen Welt über drei Leitmedien vermittelt – eben das Abendmahl, das Geld und die elektronischen Medien. Das war Wassmanns Welt.
Am 31. März 2023 hatte sie, 80-jährig, dann doch ihren Platz hinter der Kasse in ihrem Buchladen geräumt, der für sie das Leben bedeutet hatte. „Aus eigenen Stücken“, wie es im Nachruf der FAZ betont wird. Mit dem Buchladen ging ein Stück der „Welt von gestern“ unter.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Grundsatzpapier des Finanzministers
Lindner setzt die Säge an die Ampel und an die Klimapolitik
Höfliche Anrede
Siez mich nicht so an
Bundestag reagiert spät auf Hamas-Terror
Durchbruch bei Verhandlungen zu Antisemitismusresolution
US-Präsidentschaftswahl
50 Gründe, die USA zu lieben
Kritik an Antisemitismus-Resolution
So kann man Antisemitismus nicht bekämpfen
Klimaziele der EU in weiter Ferne
Neue Klimaklage gegen Bundesregierung