Nachruf Walter Schilling: Pfarrer der Außenseiter
Auf die Frage nach seinem theologischen Konzept sagte Walter Schilling: „Es gibt keins.“ Andersdenkenden bot der Thüringer Zuflucht vor dem Zugriff der Stasi.
BERLIN taz | Nach Braunsdorf zu „Walter“, dem Pfarrer Walter Schilling, konnte jeder kommen, egal mit welchem Outfit. Zuerst kamen Rudolstädter und Saalfelder Jugendliche, die einen Raum zum Hören ihrer Musik suchten, ohne dass gleich die Polizei einschreiten konnte.
Brutale Übergriffe auf Langhaarige und deren gesellschaftliche Stigmatisierung gehörten damals zum realsozialistischen Alltag, was aber auch zunehmend Widerstandsgeist weckte. Auf dieser „Insel im roten Meer“ war freie Meinungsäußerung möglich. Dieser Raum war im Gegensatz zur SED-normierten Allgegenwart ein Freiraum für Selbstentfaltung.
Walter Schilling, ein Jazz- und Bluesliebhaber mit langen Haaren und Hang zu starkem Kaffee und starken Zigaretten der Sorte Karo, lehnte Bekenntniszwang und Messianismus ab. Zunehmend besuchten auch atheistisch geprägte Jugendliche seine Gottesdienste in der alten Dorfkirche, bei denen er praktische Erfahrungen aus dem Lebensumfeld der Jugendlichen mit Bibelworten zu verknüpfen wusste. In den Nächten am Kamin wurden bei Watzdorfer Bier Beziehungskisten und Zukunftsvisionen debattiert.
Das Wichtigste für das Entstehen einer sich immer breiter locker vernetzenden Gemeinschaft waren Authentizität, Selbstgestaltung und die gemeinsam durchlebten Konflikte. Der Braunsdorfer Pfarrer Walter Schilling vermochte es, eine große Gemeinde um sich zu versammeln, über Kirchenstrukturen hinweg. Immer wieder ermutigte er, Rechte in der geschlossenen Gesellschaft DDR einzufordern.
Die jungen Menschen, die bei Schilling einen Ort fanden, nannten sich selbstironisch „Kunden“ – Ost-Hippies eben. Studierende waren selten unter ihnen, da nonkonforme Jugendliche von der SED als bildungsunwert ausgesondert wurden. Der Kreis der „Jünger der Offenen Arbeit“ entstand – ganz biblisch – aus den Ausgegrenzten.
Miteinander Kirche sein, nicht für andere
Geschah irgendwo im Osten ein Unrecht, so erfuhren es bei den Braunsdorfer Kamingesprächen bald auch Erfurter und Karl-Marx-Städter. Dies war in einer Gesellschaft ohne freie Medien von unschätzbarem Wert. Statt paternalistisch Kirche „für“ andere zu sein, sollte ein „miteinander“ entstehen. Nach seinem theologischen Konzept gefragt, antwortete Schilling gern: „Es gibt keins.“
Die neue Jugendarbeit wurde ab 1970 als „Offene Arbeit“ (OA) bezeichnet. Der Freiraum für Muße als menschlichem Grundbedürfnis und Entfaltungsbedingung von Personalität war eine ihrer Stärken. In einer auf Kollektivierung und Nivellierung von Individualität ausgerichteten kommunistischen Welt war dies ein geradezu revolutionärer Ansatz. Letztlich erwuchs aus dem Schillingschen Theologieverständnis der „Nachfolge Jesu“ die Befähigung zum gemeinsamen politischen Handeln.
Schilling war ein Kommunikationstalent. Er konnte Geschichten und Begebenheiten erzählen, die zu modernen Gleichnissen gerieten. Allen Widrigkeiten einer Diktatur zum Trotz beharrte er darauf: „Ich muss es nur versuchen. Es gibt immer einen Ausweg.“
Die Stasi-Akten
Der Staatssicherheitsdienst überwachte Schilling schon seit den fünfziger Jahren als Nichtwähler. Als er sich 1963 in die Jugendpolitik einzumischen begann und ein neues Gesetz kritisierte, tauchten Stasi-Offiziere bei ihm auf. Nachdem sie seine kritische Distanz zur SED-Politik bemerkt hatten, wurde er in verschiedenen operativen Vorgängen „bearbeitet“. In den Akten wurde Walter Schilling mit den Bezeichnungen „Reaktionär“, „Plakat“ und „Spinne“ bedacht. In der Wendezeit wurde ein Teil eilig vernichtet.
Beargwöhnt wurden vor allem seine vielfältigen Kontakte. Am meisten wurmte die grauen Genossen, dass Schilling ihre Konspiration vereitelte. Schon 1959 hatte er begonnen, Jugendliche vor Anwerbungen durch die Stasi zu warnen. Immer wieder sprach er offen über das tabuisierte und angstbesetzte Thema Stasi und hielt darüber ab 1986 angekündigte Vorträge in Thüringer Jungen Gemeinden.
Schilling gelang das Kunststück, Jugendliche, die die Stasi als Inoffizielle Mitarbeiter zu werben trachtete, aus deren Fängen zu befreien. Sollte ein junger Mann, der sich Schilling offenbarte, in einem Café als IM geworben werden, dann kam auch der Pfarrer zu dem Termin und wartete an einem Ecktisch.
Scheiternde Spitzel-Anwerbung
Kaum war der Stasi-Mann eingetroffen, gesellte sich Schilling zu den beiden und sagte: „Stell’ mir doch mal Deinen Bekannten vor.“ Aus Konspiration wurde Dekonspiration. Die versuchte Spitzel-Anwerbung war aufgeflogen und damit gescheitert. Voraussetzung war, dass es Schilling immer wieder gelang, das Vertrauen Jugendlicher zu erwerben.
1973 versteckte Schilling einen Deserteur auf dem kirchlichen Gelände, obwohl das NVA-Militärlager Dittrichshütte nur ein paar Steinwürfe entfernt lag. Im Gespräch mit Offizieren erreichte er, dass kein Gerichtsprozess angestrengt wurde. Immer wieder stand er Wehrpflichtverweigerern bei und verschaffte sich Zugang zu Prozessen.
1976 war er mit Rat und Tat dabei, als Oppositionelle in Jena gegen die Ausbürgerung Wolf Biermanns protestierten. Unterschreiben sollten nur die, die keinen Ausreiseantrag gestellt hatten. Glaubwürdig zu sein, war ihm wichtig. Hernach kümmerte er sich um die Inhaftierten und ihre Angehörigen.
Walter Schilling wurde am 28. Februar 1930 in Sonneberg/Thüringen als Sohn eines Pfarrers geboren und wuchs in Oberlind auf. Seine Eltern gehörten der Bekennenden Kirche an. Mit Siebzehn entschloss er sich, Pfarrer zu werden. In der Sowjetischen Besatzungszone durfte er nicht studieren.
Studium in Ost und West
Aber die innerdeutsche Grenze war noch überwindbar, und so ging er nach Schwerte zum Evangelischen Studienwerk Villigst als Werkstudent. Hier genoss er eine universale Bildung mit engem Bezug zur Arbeitswelt, arbeitete als Landwirtschaftsgehilfe in Westfalen und Bergarbeiter im Ruhrgebiet, was für seinen Ansatz einer pragmatischen und sozial ausgerichteten Theologie prägend wurde. 1955 schloss er sein in Münster und Heidelberg begonnenes Theologiestudium in Jena ab.
Bis zur Pensionierung 1995 wirkte er als Gemeindepfarrer in Braunsdorf-Dittrichshütte bei Saalfeld.
Seine Gemeinde wuchs bald über seinen Seelsorgebereich der 100-Seelen-Dörfer hinaus. Dies hatte mit dem offenen Jugendrüstzeitheim zu tun, das Walter Schilling als Kreisjugendpfarrer ab 1959 mit seiner Frau Eva und der Jungen Gemeinde Rudolstadt ausbaute. Die vormaligen Stallgebäude wurden so zu dem Pilgerort unangepasster Jugendlicher. Ab 1968 fanden hier die in der DDR proletarischer geprägten Hippies offene Pforten.
Die Räume in Braunsdorf erwiesen sich bald als zu eng. So gestaltete Schilling mit seinen Mitstreitern 1969 in Rudolstadt eine Beat-Messe: „Gottesdienst – einmal anders“. 500 jugendliche Besucher strömten in das Gotteshaus. Beliebte Bands mit staatlichem Auftrittsverbot – wie die Gruppe Medianas – konnten in der Kirche wieder ein breites Publikum erreichen. Das blieb nicht ohne Konsequenz. Schon der zweite Versuch in Saalfeld wurde staatlicherseits untersagt.
Vorbild der Ost-Berliner Bluesmessen
Erst Ende der Siebziger gelang es Schilling und seinem Amtskollegen Uwe Koch, solche Großveranstaltungen in Rudolstadt wieder zu organisieren und dabei kaum noch verklausuliert politische Partizipation einzufordern. Nun kamen 1.000 bis 2.000 Besucher aus allen Regionen. Besucher aus Berlin waren so begeistert, dass sie in der Samariterkirche die Bluesmessen ins Leben riefen.
1980 musste das Rüstzeitheim auf staatlichen Druck hin schließen. Schilling verstärkte fortan seine überregionalen Aktivitäten. So stellte er 1981 mit anderen aus der Offenen Arbeit eine 60-seitige Dokumentation von Menschenrechtsverletzungen zusammen, die die Kirchenleitung mit der bitteren Realität des Umgangs mit kritischen Jugendlichen konfrontierte. Er half dabei, Licht in den Fall von Matthias Domaschk zu bringen, der im Geraer Stasi-Gewahrsam ums Leben gekommen war.
1987 beteiligte sich Schilling federführend und als Verfasser diverser Grundsatzpapiere am Kirchentag von Unten (KvU). Von Juni 1989 bis Juni 1990 begleitete er die Kirche von Unten als Pfarrer ihres Vertrauens. Landesweit konnte kein anderer Pfarrer gefunden werden, der dem basisdemokratischen, staats- und autoritätsfeindlichen Selbstverständnis der KvU entsprach.
Um den 7. Oktober 1989 nahm er an der Mahnwache an der Gethsemanekirche teil und informierte vom dortigen Kontakttelefon über die Polizeiübergriffe. Am 8. Oktober wurde er selbst festgenommen und in die U-Haft-Anstalt Rummelsburg gebracht.
Die Wende-Zeit
Im Dezember 1989 konnte er mit Bürgerkomitee-Vertretern aus verschiedenen Städten erstmals in die Stasi-Zentrale in der Berliner Ruschestraße eindringen. Von Bürgerrechtlern besetzt wurde diese dann am 15. Januar 1990.
Nach 1990 widmete er sich der Vergangenheitsklärung vor allem in Bezug auf die Verstrickung der evangelisch-lutherischen Kirche in Thüringen.
Während seines letzten Lebensjahrzehnts litt er an Osteoporose und nahm nur noch äußerst selten an Aufarbeitungs-Veranstaltungen teil. Seinen 80. Geburtstag feierte er noch mit über einhundert Weggefährten in Dittrichshütte. Sein Haus am Rabenhügel blieb für Freunde ein offenes Haus voller herzlicher Gastlichkeit. Am 29. Januar 2013 starb er im Krankenhaus in Saalfeld, nur wenige Wochen vor Vollendung seines 83. Lebensjahrs.
Der Autor engagierte sich vor 1989 in der Jungen Gemeinde Jena und der Umwelt-Bibliothek Berlin. Er ist Projektmitarbeiter der Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen und ehrenamtlicher Redakteur der Aufarbeitungszeitschrift Horch und Guck.
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