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Nachklapp zur Berliner ParlamentswahlKrimi um 466 Briefwahlstimmen

In Lichtenberg wurden am Mittwoch bisher unberücksichtigte Stimmen ausgezählt. Das könnte einen wichtigen Einfluss auf die Regierungsbildung haben.

Bezirkswahlleiter Axel Hunger musste sich um die Auszählung zuvor übersehener Stimmzettel kümmern Foto: dpa

Berlin taz | Unklare Machtverhältnisse, die CDU bislang ohne Partner, nur 105 Stimmen mehr bei der SPD als bei den Grünen – der Wahlausgang vom Sonntag ist schon bislang alles andere als klar gewesen. Am Mittwoch aber hat sich die Sache weiter verkompliziert: Nach der Auszählung von tags zuvor erst entdeckten exakt 466 Briefwahlumschlägen im Bezirk Lichtenberg könnte der Sieg im dortigen Wahlkreis 3 von der CDU an die Linkspartei gehen – und das könnte weitere Folgen haben. Zunächst einmal: weil CDU und Linke nach bisherigem Stand dort genau gleich viele Erststimmen bekommen haben, gibt es wohl eine Pattsituation. Dadurch könnten die Grünen am Ende mit einem Parlamentssitz mehr als die SPD dastehen, wären die führende Kraft im linken Lager und könnten die Regierungschefin stellen. Ob das wirklich passiert – das ist bisher völlig unklar.

Der neue Dreh im Nachwahl-Krimi läuft in einem grauen dreistöckigen Flachdachbau in Hohenschönhausen ab, neun Kilometer nordöstlich vom größten Ziel aktueller politischer Wünsche, dem Roten Rathaus. Im dortigen Bürgeramt drängen sich vor Raum 2.22 Journalisten und sonstige Interessierte, während drinnen die Auszählung im Gange ist. An den Tischen in der Mitte des Raums sitzen 9 Wahlhelfer*innen, schlitzen rote Briefumschläge auf, prüfen sie, trennen sie von den darin liegenden Umschlagen mit den Wahlzetteln. Diese zählen sie dann nach Wahlkreis geordnet neu aus.

Hin und wieder hält eine oder einer der Wahl­hel­fe­r*in­nen einen ungültigen Wahlschein in die Höhe – auf einem etwa prangt statt Kreuzchen nur ein riesengroßes Fragezeichen. Die Adresse des Lichtenberger Bürgeramts lautet passenderweise Egon-Erwin-Kisch-Straße – der Namensgeber, als „rasender Reporter“ der 20er Jahre tituliert, hätte mutmaßlich seinen Spaß daran gehabt, diese Szenerie zu beschreiben.

Umso mehr, weil sich die Gemengelage im Laufe des Tages ändert. Es geht bald nicht mehr um die Frage, ob die Grünen unter den nun zusätzlich ausgezählten Stimmen genug bekommen, um den bisherigen landesweiten Vorsprung der SPD von 105 Stimmen wettzumachen. Der ist nur deshalb relevant, weil von den errungenen Parlamentssitzen beide gleichauf liegen und deshalb die Stimmen entscheiden müssen, wer Nummer 1 im links-grünen Lager ist.

Stimmenvorsprung der SPD bleibt

Dass die Grünen hier wirklich an der SPD vorbeiziehen würden, war schon vorher fraglich, weil die Sozialdemokraten am Sonntag bezirksweit deutlich besser abschnitten als die Grünen und es nahelag, dass das auch bei diesen Stimmen so sein würde. Und tatsächlich gehen von den 466 Stimmen 80 an die Grünen, aber 88 an die SPD, die damit ihren Vorsprung auf 113 Stimmen ausbaut.

Beim Auszählen aber ergibt sich: Die am Sonntag im Wahlkreis 3 von Lichtenberg nur um bloße 10 Stimmen hinter dem siegreichen CDU-Bewerber liegende Linkspartei-Kandidatin holt genauso viele Stimmen auf, wie sie am Sonntag hinten lag: Beide kommen nun exakt auf 4.243.

Was tun? Das Wahlgesetz sieht für diesen Fall einen Losentscheid vor. Der stünde an, wenn der Bezirkswahlausschuss am Montag tagt – ganz im Stil des klassischen Politthrillers „First among equals“ von Jeffrey Archer, wo nach einem Patt trotz mehrerer Nachzählungen ein Münzwurf über den Wahlkreissieg entscheidet. Die Linkspartei sieht jedoch noch Unklarheiten und drängt auf eine Neuauszählung aller rund 18.000 Stimmen im Wahlkreis 3 – „es fällt uns kein Zacken aus der Krone, wenn noch mal nachgezählt wird“, sagt ihr Rechts­politiker Sebastian Schlüsselburg am Nachmittag der taz.

Thomas Zeidler, stellvertretender Bezirks- und Kreiswahlleiter Lichtenbergs, steht nun auf einmal im Fokus des Interesses. Und er wiegelt erst mal ab. Seiner Ansicht nach ließe sich auch nach Auszählung der bisher nicht gezählten Briefwahlstimmen noch nicht ablesen, dass sich das Wahlergebnis ändern werde. „Dass gelost werden muss, ist noch nie vorgekommen“, sagte er am Mittwoch. Bei den Nachzählungen finde sich immer noch die ein oder andere Stimme.

Entscheidung am Montag

Erst am Montag, wenn der Bezirkswahlausschuss zusammen kommt, um das amtliche Endergebnis der Wahlen festzustellen, gäbe es dazu eine klare Aussage. Lichtenbergs Bezirkswahlleiter Axel Hunger nannte den Fehler „ärgerlich“, so etwas könne aber eben auch mal passieren. „Entscheidend ist, dass wir den Fehler korrigieren, wie wir auch andere Fehler korrigieren.“ Genau dafür gebe es die Ergebnisprüfung.

Ginge es bloß um Wahkreis 3, wäre es eine für die jeweiligen Kandidaten höchst bedeutsame, ansonsten aber nachrangige Nachwahl-Schmonzette, weil auch ein Verlust die Koalitionsmöglichkeiten der CDU nicht einschränken würde. Es könnte jedoch anders kommen. Und das liegt am komplizierten System der Verrechnung von Mandaten zwischen den zwölf Bezirken, direkt gewonnenen Parlamentssitzen und den Parteien.

Am Ende dieser Abrechnung, so eine am Mittwoch aufkommende Überschlagsrechnung, könnte stehen, dass die Grünen von den Sitzen her nicht mehr bloß gleichauf, sondern vor der SPD liegen. Ob es dazu kommt, hängt nicht allein von Lichtenberg ab, sondern auch von den Sitzungen der Wahlausschüsse in den anderen elf Bezirken – und der alles entscheidenden Sitzung des Landeswahlausschusses am 27. Februar.

Jener letzte Montag des Monats ist zugleich der Tag, an dem sich abschließend klären soll, ob sich Anhaltspunkte für Fehler im Wahlablauf ergeben haben, die sogar eine landesweite Neuauszählung rechtfertigen. Das wäre dann durchaus der nächste Termin im Geiste von Bürgeramts-Adressgeber Kisch. Der schrieb schließlich mal: „Der Reporter dient der Sensation.“

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10 Kommentare

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  • "Bei den Nachzählungen finde sich immer noch die ein oder andere Stimme."

    Ach ja? Gibt es da irgendwelche Quoten, einen Reservekasten mit Wahlzetteln für den Zweifelsfall, an dem sich die Wahlleitung nach der Wahl bedienen darf...? Vertrauenserweckend klingt das alles nicht.



    Former President und Kandidat in spe D. Trump wird sich das vermutlich genau anschauen und das (US-)amerikanische Wahlsystem auf ein Berliner System umstellen - dann hat er die Wahl spätestens durch eine Zweitauszählung in der Tasche.

  • Die Transparenz und der Umgang mit Fehlern zeigen, dass wir in einer funktionierenden Demokratie leben. Die nörgelnden Herrschaften hier, die nur Perfektion akzeptieren, sollten mal über Auswandern nachdenken.



    Kleiner Tipp: In Nordkorea wird seit 2014 auch gewählt. Fehler bei den Auszählungen sind nicht bekannt. Und das bei zuletzt 99,99 Prozent Wahlbeteiligung. Wäre das nichts für Sie?

    • @Christian Lange:

      Hey Berliner, macht euch nix draus, wenn demokratische Wahlen schief laufen, Leute nicht abstimmen können oder Stimmen vergessen werden. Kritik von internationalen Wahlbeobachtern ist nur Genörgel.



      Seid froh, dass es nicht so schlimm ist wie in Nordkorea (immerhin nur Drittletzter im globalen Demokratie Index).

      Hier kannste was lesen.....

  • Die Grünen als "führende Kraft im linken Lager", das klingt so falsch wie wenn man die Zentrumspartei als Opposition bezeichnet hätte.



    Mit Verlaub.

  • Soll man darüber lachen oder heulen?



    Was ist nur los in dieser Stadt!

    • @Herry Kane:

      Danke für den "produktiven" Beitrag. Das Berlin-Bashing wird langsam unerträglich.



      Wissen Sie, was der eigentliche Grund für die im Artikel benannte Thematik ist?



      Wir haben in Berlin keine dauerhaften Siegerparteien wie die CSU, wo Ergebnisse auch bei 1.000 Stimmen mehr oder weniger gleich bleiben.



      Wir haben eben eine Parteienlandschaft in Berlin, in der mehrere Parteien fast gleich stark sind.



      Das ist los in dieser Stadt. Und dafür braucht sich niemand zu schämen und auch niemand dafür Häme ausgießen..!

      • @Ringsle:

        Genau das sage ich seit Wochen. Wir haben hier in der Stadt leider keine guten Leute!!!



        Es geht überhaupt nicht darum wer gleichstark ist, jedenfalls nicht für mich.



        Momentan haben wir die Wahl zwischen Pest und Cholera!

      • @Ringsle:

        "Nach der Auszählung von tags zuvor erst entdeckten exakt 466 Briefwahlumschlägen"

        darum geht es. Solche Zustände hätte ich nie in Deutchland für möglich gehalten und hat mit Häme rein gar nichts zu tun. Eher mit der Forderung nach einem Mindestmass eines korrekten Ablaufes von Wahlen in einer Demokratie.

      • @Ringsle:

        Ach? Und weil man in Berlin eine "besonders knappe Parteienlandschaft" hat, vergisst man bei der unter besonderrer Beobachtung stehenden Wiederholung einer katastrophalen, von der OSZE beanstandeten Senatswahl ein paar hundert Briefwahlzettel auszuzählen?

        Und im übrigen gibts das sogenannte Berlin-Bashing nicht, weil mal Fehler passieren. Sondern weil sie ständig passieren und man auf Kritik immer wieder genauso reagiert, wie du es hier machst.

  • Wie es auch kommen mag: Wir könnten in Berlin, so wie in einigen anderen Parlamenten auch, eine "Rundungsfehlerregierung" bekommen.



    Mit Betonung auf "Fehler".