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Nach russischen Angriffen auf StromnetzAngst vor dem ukrainischen Winter

Bernhard Clasen
Kommentar von Bernhard Clasen

Viele Ukrai­ne­r*in­nen wissen nicht, wie sie die kalten Monate überleben sollen. Sie brauchen Solarzellen, Windräder – und offene Arme.

Fällt für die Stromproduktion erst mal aus: Zerstörter Transformator in einem Umspannwerk in der Ukraine Foto: Christoph Soeder/dpa

N astja ist verzweifelt. Die 26-jährige Zahnarzthelferin hat Angst. Angst vor dem Winter, Angst vor dem Alleinsein, Angst vor den Luftangriffen, Angst vor schlechten Nachrichten, Angst vor einer kalten Wohnung. Vor fünf Wochen wurde ihr Freund auf der Straße in einen Bus gezerrt. Er muss zum Militär, genauer gesagt, in den Krieg, oder wie man in der Ukraine sagt, an „die Null“, wie die Front genannt wird.

„Er ist praktisch mit den Sachen, die er am Leib hatte, zum Militär“, sagt sie. Nicht einmal verabschieden habe sie sich noch von ihm können. Und nun ist auch ein Verdiener weniger in der Wohnung. Sein Zimmer wird sie wohl untervermieten müssen, alleine kann sie die Miete nicht stemmen.

Oles will umziehen. Er wohnt mit seiner Familie in einem Vorort von Kyjiw. „Meine Wohnung liegt genau in der Flugschneise der Drohnen, die von Russland Richtung Schitomir fliegen. Ich will das meinen Kindern nicht mehr zumuten“, sagt er. Nun werde er sich eine andere Wohnung suchen: In Kyjiw hat sich inzwischen herumgesprochen, wo es ruhiger ist und wo die Gefahr am höchsten ist.

In den früher so beliebten Penthouse-Wohnungen will niemand mehr leben. Am beliebtesten sind Wohnungen im Erdgeschoss. Denn dort fliegen seltener Raketen oder Drohnen rein. Noch besser sind Häuser mit eigener Tiefgarage. Das sind gute Schutzbunker. Manch einer zieht aufs Land, wo er einen Garten für Gemüse hat und eine Fläche für eine Solaranlage.

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Strominfrastruktur im Visier

Jeder versucht, auf seine Weise zu überleben. Oder zumindest gut über den Winter zu kommen. Und weil ­Russland viele Kraftwerke durch Luftangriffe bereits zerstört und auch ­weitere Teile der Strominfrastruktur im Visier hat, wird das nicht einfach sein.

Die Ukraine braucht deshalb jetzt Hilfe bei ihrer Energieversorgung. Und die kann nur mit dezentraler und umweltfreundlicher Energie, mit Solaranlagen und Windkrafträdern produziert werden. Es ist deshalb nicht verständlich, warum die ukrainische Regierung, aber auch die der westlichen Bündnispartner nicht darauf setzen, in der Ukraine verstärkt Wind- und Solarenergie zu fördern und einzusetzen. Ansonsten drohen weitere und längere Stromausfälle, die auch andere Gefahren mit sich bringen.

Dieses Thema treibt zurzeit viele im Land um: „Wenn wir nur vier Tage in Kyjiw gar keinen Strom haben, also einen vollkommenen Blackout, kommt es zu Plünderungen“, ist sich Sergiy sicher. „Ich verstehe unsere Regierung nicht. Warum müssen die ausgerechnet jetzt neue AKWs bauen“, sagt er weiter.

Abgesehen von den Gefahren, die jeder Ukrainer noch von Tschernobyl her kennt, sind AKWs zentrale Ziele, die die russischen Drohnen und Raketen ohne Schwierigkeiten zerstören könnten. „Und außerdem dauert der Bau eines AKWs mindestens fünf Jahre“, kritisiert Sergiy. „Wir brauchen die Energie aber jetzt. Und ich hoffe sehr, dass dieser Krieg in fünf Jahren Vergangenheit ist.“

Atomkraftwerke als Ziel

„Wir werden alle ein richtiges Problem haben, wenn die Russen unsere Atomkraftwerke angreifen“, sagt Iryna. Letztendlich braucht man gar nicht den Reaktor zu treffen. Es reicht, wenn die Russen die Leitungen, die ein AKW mit dem Stromnetz verbinden, zerstören. Denn dann muss das AKW eine Schnellabschaltung machen, und solche Schnellabschaltungen sind immer mit Risiken verbunden. Und wenn die Russen so etwas bei mehreren AKWs gleichzeitig machen, bricht das Stromnetz landesweit zusammen.

„An Drohnen und Raketen und Stromausfälle kann man sich gewöhnen“, sagt hingegen Nelia. „Doch woran ich mich nicht gewöhnen kann, das sind die ständigen Nachrichten von Männern, die wieder an der Front ums Leben gekommen sind.“ Jeden Tag höre sie solche Geschichten in ihrem Bekanntenkreis. „Und das zermürbt mich.“

Niemand weiß, wie die Menschen in der Ukraine den langen Winter überstehen werden. Doch einfach daneben stehen und abwarten geht nicht. Sie brauchen Solarzellen, Windräder, preisgünstigen Strom, und offene Arme, wenn sie bei uns in Deutschland überwintern wollen.

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Bernhard Clasen
Journalist
Jahrgang 1957 Ukraine-Korrespondent von taz und nd. 1980-1986 Russisch-Studium an der Universität Heidelberg. Gute Ukrainisch-Kenntnisse. Schreibt seit 1993 für die taz.
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