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Nach dem Schulmassaker von TexasEine ganze Stunde

Neue Erkenntnisse legen nahe, dass das Massaker in der Grundschule von Uvalde viel früher hätte beendet werden können. Angehörige sind fassungslos.

Trauer im texanischen Uvalde um die beim Schulmassaker getöteten Kinder Foto: dpa

New York taz | Eine volle Stunde. So viel Zeit verging nach Behördenangaben im Fall des Amoklaufs in einer texanischen Grundschule zwischen der Ankunft des Täters und den Schüssen der Polizei, die den 18-Jährigen töteten und das Massaker beendeten. Eine Stunde am Dienstag, in der ein als Salvador R. identifizierter Mann 19 Schulkinder und 2 Lehrerinnen tötete – und deren bisher bekannter Verlauf nun heftige Kritik am Verhalten der Polizei nach sich zieht. Entsetzte Eltern beklagen, dass die Polizei den Täter zu lange habe gewähren lassen.

Nach dem Attentat hatte es am Mittwoch zunächst einige widersprüchliche Aussagen von Behörden gegeben. Auf einer Pressekonferenz mit Texas’ Gouverneur Greg Abbott am Mittwoch hatte es noch geheißen, ein Schulpolizist habe den Todesschützen in der Kleinstadt Uvalde schon am Betreten der Schule zu hindern versucht. „Es hätte schlimmer kommen können“, sagte Abbott und lobte den „unglaublichen Mut“ der beteiligten Sicherheitskräfte.

Bei einer erneuten Pressekonferenz am Donnerstag stellte Victor Escalon, Regionaldirektor bei der Behörde für öffentliche Sicherheit in Texas, nun klar: Einen solchen Vorfall mit einem Schulpolizisten hatte es gar nicht gegeben – zu dem betreffenden Zeitpunkt war dort keiner gewesen.

Escalon erklärte, was man bisher über den Tatverlauf wisse: R. war demnach gegen 11:28 Uhr bewaffnet aus seinem Auto gesprungen, mit dem er in unmittelbarer Nähe der Grundschule in der Kleinstadt Uvalde einen Unfall gehabt hatte. Zwei Zeu­g*in­nen hätten den Bewaffneten von dem nahegelegenen Beerdigungsinstitut aus gesehen, der Mann habe auf sie gefeuert. Der erste Notruf sei um 11:30 Uhr abgegeben worden.

Eltern forderten die Polizisten auf, endlich reinzugehen

Der Täter sei schließlich über einen Zaun auf den Parkplatz der Schule gestiegen, wo er bereits Schüsse auf das Gebäude abfeuerte. Etwa um 11:40 Uhr sei R. dann an der Westseite der Schule durch eine offenbar unverschlossene Tür in die Schule gelangt, so Escalon. Dort sei er dann über den Flur zu einem offenen Klassenzimmer gegangen.

Sicherheitskräfte seien um 11:45 Uhr vor Ort eingetroffen. Allerdings gingen sie nicht in das Klassenzimmer, „wegen der Schüsse, die auf sie abgefeuert wurden“, erklärte Escalon weiter. Sie hätten keine Spezialausrüstung gehabt, daher Verstärkung angefordert und in der Zwischenzeit Schulkinder und Lehrkräfte evakuiert. Etwa eine Stunde nach Ankunft des Todesschützen seien Spezialkräfte der US-Grenzschutzpolizei eingetroffen und hätten R. getötet.

Die von Gouverneur Abbott noch am Mittwoch so gelobte Polizeireaktion auf den Vorfall dürfte wohl eher für Wut unter den Betroffenen gesorgt haben. Ein Handyvideo vom Tatort in der Kleinstadt Uvalde hatte in sozialen Netzwerken die Runde gemacht. Es zeigt verzweifelte Eltern und andere Bewohner*innen, die bewaffnete Beamte lautstark dazu auffordern, in das Gebäude zu gehen und wegen deren Untätigkeit auch selbst die Grundschule stürmen wollen. Davon hält die Polizei sie jedoch ab.

„Da waren mindestens 40 bis an die Zähne bewaffnete Polizist*innen, aber sie haben verdammt nochmal nichts getan, bis es viel zu spät war“, sagte Jacinto Cazares dem Sender ABC. Seine Tochter Jacklyn Jaylen Cazares starb bei dem Blutbad. „Die Situation hätte schnell vorbei sein können, wenn sie eine bessere taktische Ausbildung gehabt hätten – und wir als Gemeinschaft haben das aus erster Hand miterlebt.“

Er bezeichnete sich selbst als Waffenbesitzer. Die Waffen seien nicht schuld an der Tragödie, so Cazares, der aber gegenüber ABC kritisierte, wie einfach der Kauf von Waffen sei: „Ich bin wütend darüber, wie leicht es ist, eine zu bekommen, und wie jung man sein kann, um eine zu erwerben“, sagte der Vater.

„Die Eltern waren verzweifelt“

Der Pastor Daniel Myers, der sich am Dienstag am Tatort befand, sagte der Nachrichtenagentur AFP, es sei „Zeit verloren“ worden. Offenbar hätten die eingetroffenen Po­li­zis­t*in­nen auf Verstärkung gewartet. „Die Eltern waren verzweifelt“, sagte Myers laut AFP. „Ein Verwandter hat gesagt: 'Ich war in der Armee, gebt mir einfach nur eine Waffe, ich gehe rein. Ich werde nicht zögern, ich gehe rein.’“

Behördenvertreter Escalon ließ am Donnerstag viele Fragen offen. Er bat um mehr Zeit und verwies darauf, dass man das gesamte Material sammeln und auswerten sowie die Po­li­zis­t*in­nen interviewen müsse, um alles zu beantworten. Viele Details, auch ein Motiv des Täters, sind noch unbekannt.

Derweil forderte der texanische Abgeordnete Joaquin Castro aus dem nahegelegenen San Antonio bereits das FBI dazu auf, den Ablauf des Massakers und das Verhalten der Sicherheitskräfte zu untersuchen. „Die staatlichen Behörden haben die Öffentlichkeit mit widersprüchlichen Darstellungen darüber informiert, wie die Tragödie in Uvalde verlief“, schrieb Castro auf Twitter. (mit afp)

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7 Kommentare

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  • Polizisten ohne Krankenversicherung, die gefeuert werden, wenn sie im Dienst verletzt werden.

    Das sind nicht wirklich gute Vorraussetzungen für Heldenmut. Mehr Waffen helfen offensichtlich nicht.

  • Da sind die amerikanischen Illusionen und Heldenmythen: Ein bewaffneter Schulpolizist, der in Uvalde nicht anwesend war, könne furchtlos einen hochgerüsteten Ammokschützen aufhalten. Die Polizisten würden todesmutig, obwohl der Ammokschütze verschanzt ist und auf sie schiesst, das Gebäude stürmen, dabei ihr eigenes Leben riskieren und trotz mangelhafter Ausrüstung und Erfahrung, aber mit amerikanischem Heldenmut den Sieg gegen das Böse erringen.

    Da die Wirklichkeit: Der Schulpolizist, wenn er nicht ein erfahrener Scharfschütze ist (wohl eher selten) und den Amokschützen mit dem ersten Schuss kampfunfähig machen kann, kann nur in Deckung gehen und Alarm auslösen oder sich erschiessen lassen. Die Polizei wird nie ein Gebäude stürmen lassen, wenn ein grosses Risiko besteht, dass Polizisten dabei reihenweise erschossen werden, weil sie zu wenige, zu schlecht ausgerüstet oder zu unerfahren in dieser schwierigen Lage sind. Nur Verstärkung von Spezialisten anfordern ist in einer solchen Situation zu verantworten.



    Es ist natürlich verständlich, dass Eltern verzweifeln, wenn sie mit anhören müssen, wie auf ihre Kinder geschossen wird. Die Polizei zu beschuldigen, den Amoklauf nicht schnell genug beendet zu haben, lässt jedoch das wirkliche Problem in den Hintergrund treten. Schuld an dem Massaker ist nicht die Polizei.



    Solange sich in den USA jeder mit jeder Art von Schusswaffen und Munition ausrüsten kann, weil die Waffenlobby die Politik im Griff hat, solange werden Amokschützen Massaker an Kindern verüben, der Schulpolizist nutzlos und gewöhnliche Polizisten der Extremsituation nicht gewachsen sein.

    • @ecox lucius:

      Die US-Polizei übernimmt meines Wissens nach jede Menge Material von der US-Armee, da sind dann durchaus auch schonmal kommunale Polizeien von Sturmgewehren bis Panzerfahrzeugen auf paramilitärisches Niveau hochgerüstet.



      Auch die Verfügbarkeit von Waffen dürfte nur ein Teil des Problems sein. Zwar ist in den USA pro Kopf etwa eine Waffe im Umlauf, was sicher extrem ist, allerdings kommen auch hierzulande auf drei Personen je eine Waffe. Demnach müsste man ja erwarten hier etwa 1/3 der Schießereien zu sehen wie in den USA. Dass das nicht der Fall ist dürfte wohl auch etwas mit dem Gesellschaftsmodell und der Existenz von Sozial- und Wohlfahrtssystemen zu tun haben.

      • @Ingo Bernable:

        "Zwar ist in den USA pro Kopf etwa eine Waffe im Umlauf, was sicher extrem ist, allerdings kommen auch hierzulande auf drei Personen je eine Waffe."

        Allerdings ist die Art der Bewaffnung kaum zu vergleichen. Was hier im Umlauf ist, sind Jagd-, Sportwaffen und Pistolen zum Selbstschutz gefährdeter Personen.

        Die Magazine der Gewehre (manuell ist wie anno dazumal jeder Einzelschuss durch zu repetieren) sind auf fünf Schuss begrenzt, Selbstlader (halbautomatische Gewehre) auf drei Schuss. Die Pistolen sind i.d.R. deutlich kleinkalibriger als die amerikanischen Colts etc.. Zudem ist ein großer Teil der Waffen registriert und waffenscheinpflichtig.

        Klar kann man sich für einen Raubüberfall oder Amoklauf auch potente Kriegswaffen und Armeepistolen auf dem Russenmarkt oder dem Darknet besorgen... mit genug krimineller Energie sogar relativ problemlos, für Otto-Normal aber schon eine ziemliche Hürde.

        Die passende Munition braucht man auch, und die zu besorgen ist ein genauso großer Aufwand wie der Waffenkauf selber. Munition, vor allem auch zum Üben, ist daher fast immer knapp.

        In USA kann sich dagegen fast jeder/jede 18 Jährige im Laden ein Sturmgewehr oder großkalibrigen Revolver inclusive reichlichst Munition (nicht nur für die Tat sondern auch zum ausgiebigen Probeballern auf Flaschen, Pappkameraden und in Bäumen aufgehängte Bratpfannen etc.) kaufen, das ist schon ein riesiger Unterschied.

        Ich denke, auch mit einem vorbildlich ausgebauten Sozialsystem gäbe es daher in den USA ein riesiges Problem mit Schusswaffen.

  • Gut geschrieben, denn im Spiegel wird getitelt: Polizei tötet Attentäter erst nach einer Stunde!



    Man fragt sich langsam ob denn jetzt alle durchdrehen... Wir dürfen nicht kriegsmüde werden.. Auch so ein Satz, diesmal von Frau Baerbock.



    Wenn Töten und Krieg zum Normalität, zumindest in der Sprache werden sollten man langsam mal rebooten.... oder Kompass mal wieder checken, usw.

    • @Tom Farmer:

      rebooten - längst überfällig, und nimmt nun endlich auch durch den Krieg in der Ukraine Fahrt auf. Denn nun spüren immer mehr das ihr Verhalten einen direkten (auch negativen) Zusammenhang mit der Globalisierung hat, und die von uns verursachte Ausbeutung mit Ihren negativen Folgen schneller auf unserem Tisch landet als bislang vorgestellt.



      Und doch versuchen Menschen wie z.B. ein Hr. Diess in Davos oder der Industrieverbandsvorsitzende im Deutschlandfunk in diesem Zusammenhang immer noch hinsichtlich China zu beschwichtigen. Na ja, geht es doch um ihre Millionen die sie und ihre Aktionäre noch mitnehmen können, getragen auf den Schultern der Lagerinsassen in China.



      Habe heute eine negative mit Unverständnis fomulierte Rückmeldung eines Herstellers in China erhalten, auf meine Anfrage zu production supply chain and compliance requirements.



      Und unsere wirtschaftliche Abhängigkeit zu China ist selbst kleinen Firmen in China bewusst und wird entsprechend selbstbewusst mit den Werten der Führung gelebt. Wandel mit Handel - grundsätzlich ja, aber schon immer ein steiniger langer Weg bis zum Ziel und ohne schnelle Gewinne wie bei den großen Industriekonzernen, aufgrund fehlender gelebter Werte.

  • Das Verhalten von Mr. Abbot zeigt wiederholt mit welchen Fakenews us-republikanische Politiker das Leben Ihrer Mitbürger gefährden und die Gemeinschaft Ihres Landes zerstören. Und alles nur wegen eigenen Machtgelüsten und Geld.