Nach dem Attentat in Wien: Die Suche nach Schuldigen
Im Vorfeld des Attentats lief in Österreichs Behörden einiges schief. Die Politiker schieben sich gegenseitig die Verantwortung zu.
Der Attentäter hatte mit einem Kumpan Ende Juli versucht, in Bratislava Munition zu kaufen. Das misslang, weil er keinen Waffenschein vorweisen konnte. Der slowakische Geheimdienst informierte das Innenministerium in Wien. Und dann passierte – nichts.
Obwohl er regelmäßig Deradikalisierungskurse besuchen musste und, anders als anfangs kolportiert, nicht als deradikalisiert galt, blieb er unbehelligt. Die Justiz, die die Einhaltung seiner Bewährungsauflagen nach vorzeitiger Haftentlassung überwachte, wurde nicht informiert. Das Versagen lag also offenkundig beim Innenministerium.
Innenminister Nehammer hatte am Mittwoch in einer Pressekonferenz eingeräumt, dass beim zuständigen Bundesamt für Verfassungsschutz und Terrorismusbekämpfung (BVT) nicht alles reibungslos funktioniert habe. Er kündigte die Einsetzung einer unabhängigen Untersuchungskommission an, suchte den Schuldigen aber bei seinem Vorvorgänger Herbert Kickl (FPÖ).
Der Fraktionschef der Rechtspartei, der offenbar noch über Informanten im Innenministerium verfügt, hatte vorher Nehammer verantwortlich gemacht. Darauf angesprochen, verlor dieser die Contenance: „Dass ausgerechnet der, der den Verfassungsschutz zerstört hat“, solche Vorwürfe erhebe, mache ihn fassungslos.
Attentat wurde vorverlegt
Moussa Al-Hassan Diaw, Forscher
Kickl hatte im Februar 2018 eine Hausdurchsuchung im BVT angeordnet, bei der zahlreiche Dokumente beschlagnahmt wurden. Es sei um das Aufspüren und Zerschlagen von ÖVP-Seilschaften gegangen. Der Vorwurf: Die Kanzlerpartei, die seit Beginn des Jahrhunderts das Innenministerium geleitet hatte, behindere gezielt die Polizeiarbeit.
Informanten hat allem Anschein nach nicht nur Kickl, sondern auch die Terrorszene. „Gibt es vielleicht wieder einmal eine undichte Stelle im Bereich des Verfassungsschutzes?“, fragte Kickl. Für Dienstag in den frühen Morgenstunden, also einen Tag nach dem Attentat, sei eine Großrazzia mit zahlreichen Hausdurchsuchungen in der Islamistenszene geplant gewesen: „Operation Ramses“. Davon muss der Attentäter Wind bekommen und seinen Anschlag kurzerhand vorverlegt haben.
Nehammer wollte eine solche Operation nicht bestätigen. Sie würde aber sowohl das relativ chaotische und ziellose Vorgehen des Attentäters als auch die starke Polizeipräsenz in der Innenstadt erklären.
Weder Bundeskanzler Sebastian Kurz noch Innenminister Nehammer (beide ÖVP), wiederholten nach Platzen des Skandals um die unterlassene Informationsweitergabe ihre anfangs geäußerten Vorwürfe an die Justiz. Nehammer suchte jetzt Schuldige beim Deradikalisierungsprogramm und warf den Betreuern vor, sie hätten sich vom Dschihadisten täuschen lassen und ihm Harmlosigkeit attestiert.
Der junge Österreicher albanisch-nordmazedonischer Herkunft war 2019 nach einem Versuch, sich dem IS in Syrien anzuschließen, zu einer Haftstrafe verurteilt worden. „Es stand immer fest, dass diese Person keinesfalls deradikalisiert ist“, entgegnete Moussa Al-Hassan Diaw, Islamismusforscher und Mitbegründer des Deradikalisierungsvereins Derad, am Mittwochabend. Andernfalls wäre die Betreuung eingestellt worden. Der spätere Attentäter hatte aber noch in der Vorwoche einen ihm vom Gericht auferlegten Betreuungstermin wahrgenommen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Weil sie weiblich sind
Verein „Hand in Hand für unser Land“
Wenig Menschen und Traktoren bei Rechtspopulisten-Demo
Scholz und Pistorius
Journalismus oder Pferdewette?
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen