Nach dem Angriff auf Makijiwka: Eine Mauer des Schweigens als Abschied
Viele russische Soldaten aus Samara starben an der Front im ukrainischen Makijiwka. Angehörige machen sich selbst auf die Suche nach Informationen.
N ach einer kurzen Tauwetterphase zu Silvester hat sich Samara, eine Industriestadt mit über einer Million Einwohnern an der Wolga, Anfang Januar erneut in einen Eisblock verwandelt. Das Thermometer zeigt minus 30 Grad. Das Eis reflektiert spielerisch die Lichter der Girlanden, was die Stadt festlich erscheinen lässt. Musik erklingt und die Menschen haben es eilig, in den verbleibenden Ferientagen etwas Spaß zu haben. Beim Schein dieser Lichter, dem Klang von Musik und Festtagsstimmung werden in der Weihnachtsnacht Särge nach Samara gebracht. In der vereisten Erde müssen dringend Gräber für die Verstorbenen im ukrainischen Makijiwka ausgehoben werden. Wie viele Gräber? Und wie viele Soldaten sind im April im Zusammenhang mit dem Beschuss des Kreuzers „Moskwa“ gestorben? (Die „Moskwa“ sank am 14. April 2022 nach einem Raketenangriff vor Odessa; d. Red.) Genau weiß das niemand.
In der Nacht zum 1. Januar zerstörten ukrainische Luftangriffe mit dem Mehrfachraketenwerfersystem Himars in der Stadt Makijiwka bei Donezk die Berufsschule Nr. 19, die in eine Kaserne für russische Truppen umgewandelt worden war. Laut dem Webportal New Europe ist dort seit dem 17. Dezember 2022 eines der Bataillone des 44. Regiments der 2. russischen Gardearmee stationiert. Einberufene Soldaten aus der Region Samara wurden diesem Regiment zugeteilt. Niemand nennt die genaue Zahl der Toten.
Die Novaya Gazeta ist Russlands älteste unabhängige Publikation. Nach Beginn des Angriffskriegs gegen die Ukraine wurde sie verboten. Das Team der Novaya Gazeta Europe hat das Land verlassen, um ihre Arbeit fortsetzen zu können und denjenigen eine Stimme zu geben, die die Invasion niemals akzeptieren werden. In diesem Dossier veröffentlicht die taz Texte russischer Journalist:innen über das erste Kriegsjahr und seine Folgen für die Welt und für Russland, über die Veränderungen in der russischen Bevölkerung, wofür das Adjektiv „russisch“ heute und in Zukunft steht, und berichten über Menschen, die Widerstand leisten. Die Texte sind auf Initiative der taz Panter Stiftung entstanden und geben nicht unbedingt die Meinung der Redaktion wieder.
Es ist bereits das zweite Dossier mit Texten der Novaya Gazeta Europe in der taz. Das erste ist im Mai 2022 erschienen. Die Texte des ersten Dossiers finden sich hier.
Der Militärkommissar der Region Samara mit Namen Wdowin kündigte an, sie würden nicht namentlich genannt: Es würden keine Listen veröffentlicht, damit der ukrainische Geheimdienst diese Informationen nicht bekomme. Die Menschen in Samara versuchen, auf eigene Faust zumindest einige Informationen zu sammeln und ihre eigenen Berechnungen anzustellen.
„Drei Bataillone sind im Dezember dorthin aufgebrochen“, raunt eine Frau bei der Beerdigung eines Wehrpflichtigen in Nowokuibyschewsk. „Das erste und zweite Bataillon wurden am 28. Dezember an die Front geschickt, ich weiß es genau, beide Söhne eines Nachbarn wurden eingezogen. Das dritte Bataillon blieb in der Kaserne, offensichtlich warteten alle auf Ausrüstung. Doch zu einem Kampfeinsatz kam es gar nicht erst.“
Angehörige suchen selbst nach Informationen
Laut den Informationen, die die Samaraner untereinander austauschen, kam die Ausrüstung nach und nach in Makijiwka an, sie wurde neben dem Gebäude der Berufsschule abgestellt, um den Feind unmittelbar nach den Feiertagen anzugreifen. Munition wurde in der Kaserne gelagert. Diese detonierte durch Raketeneinschläge und die Ausrüstung fing Feuer. Von dem dreistöckigen Gebäude blieben nicht einmal Ruinen übrig.
Ein weiteres Regiment, das 43., das aus in der Region Samara mobilisierten Soldaten besteht, bleibt derweil in einer Ausbildungsbasis im Dorf Roschinsky, 20 Kilometer von Samara entfernt. Einem Bataillon gehören 580 Mann an. Anhand dieser Daten lässt sich abschätzen, dass sich zum Zeitpunkt des Einschlags ungefähr gleich viele Personen im Gebäude der Berufsschule aufgehalten haben.
Der ukrainische Geheimdienst behauptet, dass es auch eine Spezialeinheit aus Verbindungsoffizieren, Artilleristen und Einheiten der russischen Garde gegeben habe, aber dieses Militärpersonal habe Silvester woanders verbracht. Es gibt auch das Gerücht, wonach sich einige Mobilisierte unerlaubt vom Einsatzort entfernt hätten, was ihnen das Leben rettete.
In ukrainischen Quellen tauchten Daten über sechshundert Leichen auf, die in zwölf Lastwagen aus den Trümmern geholt worden waren. In Samara glaubt das niemand. Die Informationen, die in den ersten Tagen nach dem Angriff aufgetaucht sind, haben sich nicht geändert: 89 Leichen wurden identifiziert.
Wie schon bei dem Kreuzer „Moskwa“ gelten die übrigen Soldaten als vermisst, sofern sie sich nicht selbst bei ihren Angehörigen gemeldet haben. Für Vermisste wird den Angehörigen keine Entschädigung gezahlt.
Verteidigungsministerium macht Soldaten verantwörtlich
Das Verteidigungsministerium machte die Mobilisierten selbst für ihren Tod verantwortlich: Sie hätten telefoniert und so den feindlichen Beschuss verursacht. Später tauchte ein Video im Internet auf: Ein großer und offensichtlich nicht mehr junger Mann mit entstelltem Gesicht stellt sich als Anton Golowinski vor und sagt, dass ein gewisser Oberst Enikejew, der ein Bataillon in einem Saal versammelt hatte, um Präsident Wladimir Putin zuzuhören, alle getötet habe. Zu dem Video gibt es einen Nachtrag: Anton Golowinski ist kurz nach der Aufnahme des Videos an Verbrennungen gestorben.
Wenn man an der Wohnung klingelt, in der Anton Golowinski gelebt hat, meldet die Gegensprechanlage einen Fehler. Seit September war dort niemand mehr. Ljuba, eine Nachbarin, die Anton seit seiner Kindheit kannte, sagt selbstbewusst: Das sei nicht er auf dem Video. Der echte Golowinski ist ihrer Meinung nach ein junger, dünner und kranker Mann. Er wurde tatsächlich im September einberufen, obwohl die Nachbarin immer noch nicht verstehen kann, wie es dazu kam.
„Er scheint in der Psychiatrie gewesen zu sein, er war drogenabhängig“, sagt sie. „Dann war offensichtlich alles normal, er heiratete, zwei Kinder wurden geboren. Aber 2019 ist etwas mit ihm passiert, niemand weiß es. Er ist aus dem Haus gesprungen, nackt die Straße entlanggerannt, hat sich überall geschnitten … Ich weiß nicht, wie sie ihn jetzt mitgenommen haben.“
Besagter Oberst Enikejew wurde bei dem Angriff auf die Kaserne offenbar nicht verletzt. Bis September arbeitete Roman Enikejew im regionalen Verkehrsministerium, von dort wurde er mobilisiert, erhielt das Kommando über das 44. Regiment und erklärte den Rekruten, dass „jeder Mann in Russland ein Krieger ist“. Verwandte der Einberufenen, die Enikejew unterstanden, sagen, dass er in der Nacht des 1. Januar nicht in der Kaserne gewesen sei.
Keine Abschiedszeremonie für die Helden organisiert
Niemand in Samara wusste, wann und wohin die Leichen gebracht werden würden. Ein Polizeiauto mit Blaulicht war beim Leichenschauhaus in der Tuchatschewskistraße im Einsatz, dann stellte sich heraus, dass in der Dserschinskistraße ein Sarg erwartet wurde. Später wurde klar, dass einige Leichen nach Samara gebracht worden waren, andere nach Nowokuibyschewsk, Mirny, Toljatti, Sysran sowie in andere Städte und Dörfer, wo Soldaten rekrutiert worden waren. Das ist logisch: Einerseits müssen die Helden zu Hause begraben werden, andererseits werden sich nicht zu viele Trauernde auf einmal versammeln. Niemand würde eine allgemeine Abschiedszeremonie für die Helden arrangieren.
Alexander (Name geändert) ging zum Militärregistrierungs- und Rekrutierungsbüro, um herauszufinden, wo sein Freund war. Der war im September einberufen worden, und seit Dezember hatte man nichts mehr von ihm gehört. Aber in dem Büro können nur Verwandte Auskunft erhalten. „Der Freund ist 42 Jahre alt“, erzählt Alexander. „Sagen wir so: Sein Arbeitgeber hat ihn hereingelegt und ihm zweieinhalb Millionen Rubel Schulden angehängt. Diese Schulden hat er seit fünf Jahren am Hals. Ich habe ihm gesagt: Melde Insolvenz an. Und dann kann die Mobilmachung. Er ist in den Krieg gezogen, um Geld zu verdienen. Er sagte, dass sie so und so viel für eine Verletzung versprechen. Nach dem Motto: Er verliert sein Bein und bekommt dafür drei Ljam“ (umgangssprachlicher Begriff für 1 Million Rubel; d. Red.).
Im Dorf Mirny wird das Weihnachtskonzert am 7. Januar im Neftjanik-Club abgesagt. Aber niemand traut sich, die festliche Dekoration von der Straße zu entfernen. Unter dem Lichtschein der Neujahrsgirlanden stehen im Foyer zwei Särge. Frauen in Schwarz und mit geschwärzten Gesichtern sitzen nebeneinander auf Stühlen. Die Dorfbewohner sind gekommen, um ihr Beileid zu bekunden, beugen sich über die Fenster in den Deckeln der Särge, betrachten die Wachsmasken, legen Nelken nieder und gehen wieder. Der Geruch von Melissengeist hängt in der Luft. Auf einem der Kränze auf dem ersten Sarg ist zu lesen, dass der Verstorbene Dmitri Alexandrowitsch hieß. Auf dem zweiten Sarg liegen mehrere Kränze, sodass der Name nicht sichtbar ist.
In der Nähe der Trauerhalle läuft ein stämmiger betrunkener Mann in ausgelatschten Turnschuhen herum. Er weint, aber nicht um die Toten. Sein Name ist Andrei, er wurde wie die anderen auch einberufen, nur ist er noch nicht in den Krieg gezogen. Am Tag nach der Beerdigung muss Andrei ins Ausbildungslager nach Roschinskoje zurückkehren, die Neujahrspause ist vorbei. Eine Angestellte des Neftjanik-Clubs, eine hübsche blonde Frau, versucht, ihn zum Weinen nach draußen zu bringen. Aber ihr Bedürfnis, dabei ein trauriges Gesicht zu machen, hindert sie daran, entschlossen zu handeln.
Als der Mann hört, dass die Presse da ist, platzt es aus ihm heraus. „Ich bin genau wie sie“, sagt er und beginnt schnell zu erzählen, „Ich bin 50 Jahre alt, und sie haben mich illegal weggebracht. Ich ging auf den Wehrbeauftragten zu, sah ihm in die Augen und er sah mich so an – ohne jegliche Scham, ohne schlechtes Gewissen …“ Ohne ihre Lippen zu spitzen, wiederholt die Frau: „Mobilisierung bis zum Alter von 50 Jahren …“ Dann zieht sie den armen Mann an seinem anderen Arm in Richtung Ausgang.
„Ich habe früher als Fahrer gearbeitet“, fährt Andrei fort. „Mir wurde gesagt, ich solle Maschinengewehrschütze werden. Aber ich bin in einem Alter, in dem ich nicht mehr so gut sehen kann. Und morgen fahre ich schon dorthin. Wir wurden am 27. Oktober einberufen. Ich war der Letzte, der zum Einberufungsamt ging. Ich habe einen Nabelbruch! Dann haben sie uns an Silvester beurlaubt, und morgen geht es los. Was soll ich denn jetzt tun?!“
Er macht sich erneut von der blonden Frau los und lässt sich auf einen Stuhl im Eingangsbereich fallen, krempelt seine Jogginghose hoch und zeigt seine dünnen Schienbeine voller Geschwüre. Dann springt er auf, zieht seinen Pullover hoch und deutet auf seinen Nabelbruch.
„Du wirst trotzdem dienen …“
„Genau so waren sie, ich kannte die beiden“, sagt er und zeigt mit dem Finger auf die Särge. „Eine medizinische Kommission hat uns untersucht, aber sie hat nichts gesehen. Ich habe eine Eisennadel in meinem Bein und es heißt, dass die Minen darauf sofort reagieren. Deswegen haben sie keinen mit Implantaten mitgenommen – nur mich. Ich kann nicht dahin! Aber ich meine, ich kann nirgendwo anders hin. Und sagen Sie mir: Warum?! Der Militärkommissar fragte mich: Willst du dienen? Ich sagte nein, ich kann das aus gesundheitlichen Gründen nicht. Und er antwortete mir: „Du wirst trotzdem dienen …“
Bestattungen gibt es am 8. Januar in vielen Städten und Dörfern in der Region. In Samara melden Unbekannte eine Kundgebung auf dem Platz des Ruhmes an. Von den Behörden wird eine Trauerfeier gefordert, und denjenigen, die es wagen, an der Kundgebung teilzunehmen, wird kostenloser Wodka versprochen. Etwa 40 Minuten nach Beginn der Kundgebung ertönt auf dem Platz laute Musik, die die Polizisten in Neujahrsstimmung versetzt. Es sind etwa ein halbes Dutzend, und neben ihnen kommt ein Schawarmaverkäufer hinter seinem Stand hervor. Die Autorin des Textes zieht ihre Kamera aus der Tasche. Sie wird umgehend festgenommen, weil sie an einer illegalen Massenveranstaltung teilgenommen hat.
Die nächsten zwei Stunden verbringt sie auf der Polizeiwache und kann deshalb nicht herausfinden, wie viele Einwohner von Samara zu der Trauerfeier gekommen sind.
Währenddessen wird in Marjewka, ebenfalls in der Region Samara, der einberufene Alexander Androsow beerdigt. Er war 38 Jahre alt. Seine Mutter blieb allein im Dorf zurück, während er mit seiner Frau und Tochter in Samara wohnte. Dort arbeitete er als Fahrer für einen Lebensmittelladen. Eines Tages wurde er betrunken am Steuer erwischt. Dann tauchte sein Name in Polizeiberichten im Zusammenhang mit einem Diebstahl auf: Einem Dorfbewohner waren eine Autobatterie, ein Ersatzrad und Benzin entwendet worden.
Sein Klassenkamerad Wjatscheslaw erklärt sich bereit, mehr über ihn zu erzählen: „Sascha war ein ruhiger, gelassener, aktiver, geselliger, positiver Mensch. Fast jede Woche kam er, um seiner Mutter zu helfen. Ansonsten: Arbeit, Familie, Hobbys. Er liebte es zu angeln. Er verdiente gutes Geld, führte ein gesundes Leben, trank und rauchte nicht.“
Alle fünf Jahre sahen sich die beiden Schulfreunde beim Klassentreffen wieder – das letzte Mal im Juni 2022. Seit vier Monaten war Krieg, aber auf der Party wurde nicht darüber gesprochen. „Das Thema Krieg tauchte nicht einmal auf“, sagte Wjatscheslaw. „Das sind eben Militäreinheiten und sie kämpfen.“
Teilmobilmachung am 21. September
Als im September die Teilmobilmachung begann, erhielt auch Androsow die Einberufung. Er wurde von der militärischen Melde- und Einberufungsstelle zu seiner Mutter nach Marjewka gebracht. Er ging zum Einberufungsamt, und ein paar Tage später verabschiedete er sich von seiner Familie. Er ging „zum Einsatzort“, als ob er angeln gegangen wäre.
Im Krieg wollte Androsow das tun, was er in friedlichen Zeiten immer tat: Auto fahren und kaputte Technik reparieren. „Saschas größte Sorge war, ob er nach seiner Rückkehr seine alte Stelle wiederbekommen würde. Ihm wurde versprochen, dass sein Auto bei ihm bleibt und er nach dem Einsatz getrost wieder zurückkehren könne“, erinnert sich Wjatscheslaw.
Am selben Tag findet in der Trauerhalle in Nowokuibyschewsk die Beerdigung für den Fähnrich Georgi Loschkin statt. Rechts neben dem Sarg steht eine weinende Frau. Hinter ihr, wie ein gepanzerter Block, sind eine Reihe älterer Männer mit regungslosen Gesichtern zu sehen, die wie Veteranen des Zweiten Weltkriegs gekleidet sind – mit Uniformen voller Orden und Medaillen. Als einer von ihnen zum Rauchen hinausgeht, antwortet er auf die Frage, ob er den Verstorbenen gekannt habe, lächelnd: „Nein, natürlich nicht. Wir sind vom Bund der Reserveoffiziere. Wir werden immer gerufen, wenn Soldaten die letzte Ehre erwiesen wird.“
Die Frau, die am Sarg weint, schreit plötzlich laut. „Weg damit!“ ist zu verstehen. Der Schrei wird von unterdrücktem Schluchzen abgelöst, und für einen Moment herrscht Stille im Saal. Ein Priester kommt. Zwei Frauen mit Kopftüchern, die sich durch den engen Raum quetschen, verteilen an jeden Anwesenden eine Kerze. Einer nach dem anderen zündet die Kerzen an, der Priester hält eine Trauerrede. Es ist ein wahres Wunder, dass die Leichenhalle nicht in Brand gerät.
Georgi Loschkin war 46 Jahre alt. Sein ältester Sohn arbeitet als Arzt in Nowokuibyschewsk. Der jüngste ist neunzehn Jahre alt. Loschkin selbst arbeitete als Wachmann in einer Ölraffinerie und bekam einen geringen Lohn. Als die Mobilmachung begann, meldete er sich als Freiwilliger. „Er war ein kluger Mann“, erinnert sich Loschkins Nachbarin Marina. „Ich habe erst neulich erfahren, dass er seine Frau belogen hat: Ihr hatte er gesagt, dass ein Einberufungsbescheid gekommen sei. Unsere Söhne sind Klassenkameraden und so erfuhren wir, dass er sich freiwillig gemeldet hatte. Das macht nicht jeder. Es war also ein Ruf der Seele, um für unser Land zu kämpfen. Es geht doch um unsere Rus, die immer irgendwie …“, fügt sie hinzu und lässt den Satz über das historische Gebiet in Osteuropa, das mehrheitlich von Ostslawen bewohnt war, unvollendet. Marina hat einen Mann und einen Sohn. Auf die Frage, ob sie sich wünsche, dass ihre Männer für das Vaterland kämpfen, antwortet sie deutlich: „Nein, natürlich möchte ich das nicht.“
Einen Tag später werden in Nowokuibyschewsk drei weitere der in Makijiwka Getöteten beigesetzt. Am Abend findet im Kulturzentrum ein Weihnachtskonzert statt. „Warum sollten wir das Konzert absagen?“, fragen ein Mitarbeiter des Kulturzentrums und ein Sicherheitsmann.
Bekannt ist bis jetzt, dass zehn Männer aus diesem kleinen Dorf im Krieg gestorben sind. „Aber wir wissen nicht genau, wie viele unserer Leute eingezogen worden sind. Und niemand sagt etwas. Unter den Trümmern befinden sich noch viele Leichen“, sagt der Mitarbeiter.
Strafe wegen „illegaler Befragung der Einwohner“
Als die Autorin dieses Textes das Gebäude verlässt, stellt sich heraus, dass sie ihren Mietwagen auf dem Parkplatz des Kulturzentrums nicht ordnungsgemäß abgestellt hat. Ein Polizeikommissar sorgt für die Einhaltung der Straßenverkehrsordnung in der Stadt. Allerdings fordert er statt des Führerscheins den Reisepass und den Presseausweis. Statt um ein Verkehrsdelikt geht es jetzt plötzlich um eine Strafe wegen „illegaler Befragung der Einwohner“. Dem Gespräch folgt ein zweistündiger Aufenthalt auf der Polizeiwache.
Am Morgen des 9. Januar wird Oberstleutnant Aleksej Bachurin, stellvertretender Kommandeur des 44. Regiments, vom Offiziersverein aus Samara in einer feierlichen Zeremonie verabschiedet. Der Gedenkgottesdienst findet in derselben Halle statt, in der die Kinder am Tag davor um den Weihnachtsbaum herumgetanzt sind. In dem Saal sind die Spuren des gestrigen Festes beseitigt, sodass an den Wänden wieder Porträts von Stalin und anderen „großen Marschällen“ hängen. Die Schautafel „Streitkräfte der Russischen Föderation“ mit dem Porträt von Sergej Schoigu wird mit dem Zitat des Verteidigungsministers eröffnet: „Wir brauchen eine starke, professionelle und gut bewaffnete Armee für ein sicheres und friedliches Wachstum unseres Landes.“
Als der Sarg Richtung Friedhof getragen wird, dient dem Umzug die Neujahrsdekoration des Platzes vor dem Opern- und Balletttheater als Kulisse. Der Leichenwagen fährt durch die Stadt, die immer noch in Feierstimmung ist, trotz des ersten Arbeitstags im neuen Jahr.
„Aleksej und ich haben gemeinsam gedient, ich war sein Kommandeur“, sagt Wjatscheslaw, ebenfalls ein Freund von Oberstleutnant Bachurin. „Dann trennten sich zum Teil unsere Wege. Ich ging in den Ruhestand, er setzte seinen Dienst fort und schrieb sich an der Militärakademie ein. Aber er musste bald wieder gehen. Er hatte dort seine Schwierigkeiten … Keine guten Umstände. Es war ein Schwindel, viel zu viel … Jedenfalls wurde er von seinen Polizeikollegen ausgetrickst und musste gehen. Im zivilen Leben konnte er sich nicht richtig zurechtfinden. Er versuchte, hier und dort zu arbeiten – auch bei mir, in meinem Unternehmen. Ich weiß nicht, wo er danach hinging. Aber seine Mutter brachte er aus Blagoweschtschensk nach Samara. Dort verkaufte sie alles und er kaufte ihr hier ein Haus, das er fertig bauen wollte.“
Zu Beginn der Mobilisierung hatte Oberstleutnant Bachurin nach Informationen der Novaya Gazeta Europe bereits zwei überfällige Kredite mit einer Laufzeit von fünf Jahren aufgenommen. Sein Freund ist überzeugt davon, dass Bachurin nicht wegen des Geldes in den Krieg zog.
„Ljoscha war sehr glücklich, als er einberufen wurde“, ist sich Wjatscheslaw sicher. „Die Armee war sein Leben, sie war alles für ihn. Der Lohn war ihm egal, für ihn zählte nur der Dienst. Ich kündigte – die Gehälter in der Armee waren mickrig –, aber er blieb, um zu dienen. Die Mobilisierung war für ihn eine Gelegenheit, in dieses Soldatenleben zurückzukehren. Er war sich sicher, dass er nach dem Krieg bei der Armee bleiben würde. Wir alle wussten, dass fünf Divisionen der Luftlandetruppen dort eingesetzt werden würden, dass jetzt noch eine halbe Million Menschen mobilisiert werden. Doch Ljoscha wurde klar, dass er danach auf jeden Fall bei der Armee bleiben würde.“
Das 44. Regiment traf am 17. Dezember in der Ukraine ein. Der stellvertretende Kommandant Bachurin war für die Kampfausbildung der Einberufenen zuständig. Vielleicht schaffte er es sogar, sie auszubilden, allerdings lässt sich das nicht mehr überprüfen.
„Als sie dort ankamen, hatten sie nur Maschinenpistolen, was nicht ausreicht, um auf Panzer zu zielen“, so Wjatscheslaw weiter. „Ich habe ihn gefragt: „Ljoscha, hast du etwas Schweres?“ Er sagte: „Nichts. Keine Panzer, keine Schützenpanzer, keine Panzerabwehrlenkwaffe (ATGM).“
Der Sarg mit dem Leichnam Bachurins wird unter Ehrensalut und Klängen der Nationalhymne in das Grab abgesenkt. In der Nähe warten noch zwei Gruben auf zwei weitere Tote aus Makijiwka. Sie bekommen keinen solchen Abschied. Nur auf einem einzigen Friedhof, an einem Tag und zeitlich versetzt, damit es nicht auffällt, und nur in Samara werden gleich drei Menschen beerdigt. Auf einem am Zaun angelehnten Kreuz in der Nähe der zweiten frischen Grube ist der zweite Name zu entziffern: Anatoly Potschinjajew, 48.
Ein Spaziergang über den Rubischnifriedhof zeigt den Ablauf dieses Kriegs anhand der jüngsten Kreuze. Ende Juni und im Juli eroberten russische Truppen Sjewjerodonezk und Lyssitschansk. Im September starteten die ukrainischen Streitkräfte eine Gegenoffensive bei Charkiw und befreiten Balaklija und Isjum. In Russland begann nach einem entsprechenden Dekret von Putin die „Teilmobilmachung“. Die russischen Truppen mussten sich aus Cherson zurückziehen …
Jede dieser Phasen ist an neuen Kreuzen ablesbar, deren Datum sich um ein oder zwei Tage unterscheidet. Und das ist nur ein Friedhof in Samara, von dem wir bis jetzt nichts wussten. Wie viele Friedhöfe gibt es im ganzen Land, auf denen niemand bis jetzt die frischen Gräber zählen konnte?
Aus dem Russischen Barbara Oertel und Gemma Terés Arilla
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Selbstzerstörung der FDP
Die Luft wird jetzt auch für Lindner dünn
Stellungnahme im Bundestag vorgelegt
Rechtsexperten stützen AfD-Verbotsantrag
Greenpeace-Mitarbeiter über Aufrüstung
„Das 2-Prozent-Ziel ist willkürlich gesetzt“
Stellenabbau bei Thyssenkrupp
Kommen jetzt die stahlharten Zeiten?
Iran als Bedrohung Israels
„Iran könnte ein Arsenal an Atomwaffen bauen“
Verfassungsrechtler für AfD-Verbot
„Den Staat vor Unterminierung schützen“