Nach Diphtherie-Fall in Berlin: Das Problem der „Anthroposophischen Medizin“
Gesunde Kinder nicht nach Stiko-Empfehlung zu impfen, ist medizinische Vernachlässigung. Und an Waldorfschülern leider eine weit verbreitete Praxis.
V or wenigen Wochen ist ein ungeimpfter Waldorfschüler an Diphtherie erkrankt und in der Berliner Charité intensivmedizinisch behandelt worden. Ich habe dazu in den sozialen Medien viel Häme, Zynismus und Unverständnis gelesen, weil Diphtherie eine Erkrankung ist, die bei Kindern unter 5 Jahren in 20 – 40 Prozent der Fälle zum Tod führt und gegen die wir seit fast 100 Jahren eine Impfung haben.
Heute ist es für mich medizinische Vernachlässigung, seine gesunden Kinder nicht nach Stiko-Empfehlung zu impfen. Unsolidarisch ist es sowieso. Aber als ehemaliges Waldorfkind habe ich das nicht immer so gesehen – auch weil es so normal war, Kinder nicht zu impfen.
Noch in der Schwangerschaft habe ich die „Kindersprechstunde“ geschenkt bekommen. Und wie in jedem guten Waldorfhaushalt stand sie auch damals schon bei meinen Eltern im Bücherregal. Dieses Standardwerk der „anthroposophischen Medizin“ wurde von Ärzt*innen mit anerkannten Abschlüssen geschrieben und zuletzt 2015 komplett überarbeitet.
Beim Lesen entsteht zunächst durchaus der Eindruck von fachlicher Kompetenz und Erfahrung und als Laie ist es kaum möglich, die Inhalte kritisch einzuordnen. Die Diphtherie-Impfung wird in der „Kindersprechstunde“ nicht prinzipiell empfohlen. Wenn Eltern sie dennoch wollen, soll sie statt mit vier Monaten erst im zweiten Lebensjahr mit einem niedriger dosierten Impfstoff erfolgen. Laut Hersteller ist dieser allerdings nur für Boosterimpfungen ab dem sechsten Lebensjahr zugelassen und ausdrücklich nicht für die Grundimmunisierung.
So wie die Autor*innen sind viele anthroposophische Ärzt*innen impfkritisch. Der euphemistische Slogan dazu heißt „individuelle Impfentscheidung“.
Mit Anthroposophie gut verdienen
„Anthroposophische Medizin“ wird an Universitäten unterrichtet, in kassenärztlichen Praxen verordnet, in Apotheken verkauft und von der Kasse oft auch noch übernommen. In demselben Universitätsklinikum, das daran beteiligt ist, das Ansehen der „anthroposophischen Medizin“ zu mehren, wird ein Junge beatmet, dessen Leid vermutlich auf die Ideen der „anthroposophischen Medizin“ zurückzuführen ist.
Wir haben ein strukturelles Problem mit der Legitimation von „anthroposophischer Medizin“, das nicht durch die öffentliche Beschämung einzelner Eltern gelöst werden kann. Es macht mich wütend, wenn Eltern ihre Kinder nicht impfen lassen. Aber es macht mich noch viel wütender, wenn Kinderärzt*innen ohne medizinische Notwendigkeit von empfohlenen Impfungen oder Impfschemata abraten.
Eltern müssen ihren Kinderärzt*innen und Hebammen vertrauen können. Ich weiß nicht, wie man dahin kommt, aber wir sollten uns als Gesellschaft dringend überlegen, wie wir mit dieser Form weltanschaulich motivierter Kindeswohlgefährdung strukturell umgehen wollen.
Anmerkung der Redaktion: Der Text wurde nachträglich gekürzt.
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