NS-Gedenken in Hamburg: Kirchenbild tiefergelegt

Nach über 80 Jahren wurde das deutschlandweit größte bekannte Nazi-„Kunstwerk“ umgedreht. Es steht nun auf der Rückseite einer Hamburger Kirche.

Illustration: Messer trennt Kirchenwand heraus

Herausgeschnitten, gewendet: die Rückwand der Hamburger St.-Nicolaus-Kirche Illustration: Sebastian König

Da hängt er, der Gekreuzigte, mitten in einer Grube, mit güldenem Heiligenschein und bei Sonne hell beleuchtet. Seine Gesichtszüge sind markig und kantig, die Arme muskulös: Dieser Jesus ist kein Geschundener, sondern ein Siegertyp, ganz gemäß dem NS-Ideal. Die Grube befindet sich auf dem Gelände von Hamburgs Evangelischer Stiftung Alsterdorf, wo Menschen mit und ohne Behinderung leben und arbeiten, den einstigen Alsterdorfer Anstalten. In der NS-Zeit wurden 511 der BewohnerInnen deportiert und im Zuge der Euthanasie-Aktion „T4“ ermordet.

In besagter Grube steht seit Kurzem ein besonderes, am 9. Mai eröffnendes Mahnmal: die komplette Altarrückwand der benachbarten St.-Nicolaus-Backsteinkirche von 1889 mit besagter Kreuzigungsszene. Und wenn man an die Reling der Grube tritt, sieht man noch mehr davon: Zwölf „heilige“ Personen, darunter Martin Luther, Gottesmutter Maria, Johannes den Täufer, Anstaltsgründer Heinrich Matthias Sengelmann sowie Pastor Friedrich Lensch, den Schöpfer des Bildes, unterm Kreuz kniend.

Alle zwölf – eine heilige christliche Zahl – ziert ein Heiligenschein. Dazu kommen aber drei weitere Figuren: ein behindertes Baby, der erste „Anstaltsbewohner“ Carl Koops und eine Krankenschwester, die einen behinderten Erwachsenen hält. Diese drei haben keinen Heiligenschein und damit, so der Subtext, keinen Zugang zum Himmel, sind Menschen zweiter Klasse und vielleicht gar nicht „Gottes Kinder“.

Unbemerkter Skandal

Damit spiegelt das Bild sehr klar die Ideologie des NS-affinen Pastors und Hobbymalers Lensch, der die Botschaft 1938 nicht bloß aufmalte, sondern in den Beton fräste, quasi für die Ewigkeit. Fast hätte es geklappt: Lange blieb der Skandal unbemerkt. Erst in den 1980ern fiel Michael Wunder, Leiter des Beratungszentrums Alsterdorf und seit Jahren mit der „Euthanasie“-Aufarbeitung befasst, das Bild auf. Er schrieb ein Buch darüber und sann auf substanzielle Veränderung. Denn bis dato hatte es bloß temporäre künstlerische Interventionen gegeben, bei denen Vorhänge oder Installationen das Bild verdeckten.

Ab in die Grube

Aber es hat nicht gereicht. „Je mehr der Gemeinde das Diffamierende des Bildes deutlich wurde, desto weniger war sie bereit, davor Gottesdienst zu feiern“, sagt er. „Es entspricht in keiner Weise unserer Vorstellung von Inklusion.“ Weil man das deutschlandweit größte bekannte erhaltene NS-Kunstwerk aber nicht zerstören wollte, entschied man sich – finanziert von Bund und Land –, zu einem drastischen Schritt: Man schnitt die ganze Kirchenrückwand heraus, wendete sie und setzte sie hinter der Kirche in jene Grube.

Da kann man es jetzt vom Grubenrand betrachten, sowohl physisch als auch ideologisch tiefergelegt. Am Geländer sind Erklärungen zu Inhalt, Geschichte und Aufarbeitung des Bildes angebracht. Bilder und Viten der Opfer sowie der Alsterdorfer Haupttäter finden sich in Vitrinen auf dem Plateau. Die benachbarte inklusive Bugenhagen-Schule hat Fotos einer Auschwitz-Fahrt beigesteuert. Überhaupt ist es ein – natürlich barrierefreier – kongruenter Ort geworden auf dem hoch gelegenen Gelände, das 1850 bewusst außerhalb der Stadt angelegt wurde. Heute ist der Gedenkort Teil der „Straße der Inklusion“, zu der auch die Kirche sowie in einem kleinen Backsteinhaus gegenüber das damals erste Gebäude der Einrichtung gehören.

Auch die Kirche hat durch den Umbau gewonnen: An die Stelle der düsteren Betonwand ist mit lichtem Vlies bedecktes Glas getreten, durch das man die Rückseite des Altarbildes sieht. Auch dort wird man die Namen der Opfer eingravieren. „Wir wollen den Menschen mit Behinderung ihre Würde wiedergeben“, sagt Wunder. „Dass ein solches Bild hier entstehen konnte und so lange in der Kirche war, bleibt schambesetzt. Die Erinnerung wird ein Stachel im Fleisch bleiben.“

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