NS-Experte zu Antisemitismus-Resolution: „Wissenschaftsfremd und wissenschaftsfeindlich“
Am Mittwoch wendet sich der Bundestag in einer Resolution gegen Antisemitismus an Unis. Das greife die Wissenschaftsfreiheit an, sagt Historiker Ulrich Herbert.
taz: Herr Herbert, der Bundestag verabschiedet eine Resolution, die den Kampf gegen Antisemitismus in den Hochschulen stärken soll. Ist das nötig?
Ulrich Herbert: Ja. Es gibt an Universitäten Übergriffe propalästinensischer Aktivisten bis hin zu Gewalttätigkeit. Manche negieren oder rechtfertigen sogar das Massaker der Hamas am 7. Oktober. Es ist richtig, dass die demokratischen Parteien dagegen ein starkes Wort erheben. Das Problem ist, was hier unter Antisemitismus verstanden und zur verbindlichen Interpretation an Schulen und Universitäten erklärt wird.
taz: Laut Resolution soll die Definition der IHRA für die Wissenschaft „maßgeblich“ sein. Warum ist das problematisch?
Herbert: Was Antisemitismus ist, wird in Israel, in den jüdischen Gemeinden und weltweit an Universitäten seit Langem intensiv und strittig diskutiert. Im Dezember 2019 protestierten 127 jüdische und israelische Intellektuelle gegen die IHRA-Definition, weil sie „bewusst Kritik und Opposition gegen die politischen Maßnahmen des Staates Israel mit Antisemitismus in Verbindung“ bringe. Im April 2023 kritisierten 60 Menschenrechtsorganisationen wie Human Rights Watch, European Jews for a Just Peace oder Medico International, dass die IHRA-Definition dazu verwendet werde, Kritik an der Politik Israels als „antisemitisch“ zu verunglimpfen.
74, ist Historiker. Seine „Geschichte Deutschlands im 20. Jahrhundert“ und die Biographie des SS-Manns Werner Best gelten als Standardwerke.
Und der Bundestag beschließt nun, dass diese umstrittene Definition verbindlich für die Wissenschaft gelten soll – in Forschung und Lehre. Studierenden soll also die IHRA-Definition als die gültige Wahrheit vermittelt werden. Das ist wissenschaftsfremd und wissenschaftsfeindlich. Deswegen ist die Resolution in dieser Form inakzeptabel.
taz: Gibt es keinen relevanten israelbezogenen Antisemitismus?
Herbert: Doch. Darunter fällt etwa der Vorwurf, Israel dramatisiere oder instrumentalisiere den Holocaust. Oder die Tendenz, Israel mit der NS-Politik gleichzusetzen. Das hat, zur Erinnerung, zum Beispiel der stellvertretende FDP-Vorsitzende Jürgen Möllemann Anfang der 2000er Jahre getan, verbunden mit der Ankündigung, er würde in Deutschland mit der Waffe in der Hand gegen eine Landnahme wie in Palästina kämpfen.
Andererseits versucht die rechtsnationalistische Regierung unter Netanjahu in Israel seit Jahren, Kritik an Israel mit Hilfe der IHRA-Definition als antisemitisch zu stigmatisieren, nicht ohne Erfolg. Und natürlich besteht jetzt die Gefahr, dass diejenigen, die die israelische Besatzungspolitik im Westjordanland oder das Vorgehen in Gaza kritisieren, dann des Antisemitismus geziehen werden. Das führt zu absurden Verdrehungen.
taz: Zum Beispiel?
Herbert: Omer Bartov ist einer der bedeutendsten Holocausthistoriker weltweit. Er hat in der israelischen Armee gedient und weist darauf hin, dass Netanjahu den Antisemitismusvorwurf nutzt, um die Kritik an der Besatzung im Westjordanland und dem Krieg in Gaza abzuwehren. Dass jemandem wie Bartov deshalb Antisemitismus vorgeworfen wird, entbehrt nicht einer gewissen Absurdität und zeigt, wie sachfremd die Debatte mittlerweile ist.
taz: Laut Resolution darf, wer Boykottbewegung gegen Israel wie BDS unterstützt, „in deutschen Bildungs- und Wissenschaftseinrichtungen keinen Platz haben“. Das sei „israelbezogener Antisemitismus.“ Was bedeutet das praktisch für den deutschen Universitätsbetrieb?
Herbert: Dass Dozenten und Dozentinnen, die Boykott-Aufrufe unterzeichnet haben, unter Druck gesetzt oder entlassen werden können. Wer wie Saul Friedländer, Shulamit Volkov, Eva Illouz, Dan Diner oder Christopher Browning darauf hinweist, dass Israel im Westjordanland eine Art Apartheidregime etabliert hat, muss in Deutschland mit Sanktionen rechnen. Wer die Position vertritt, dass die Besetzung des Westjordanlandes widerrechtlich ist und man nach internationalen Regeln Israel daher boykottieren müsse, ebenfalls. Ich teile diese Pro-Boykott-Position nicht. Aber dass sie aus Bildungs- und Wissenschaftseinrichtungen verbannt werden soll, ist Zensur.
taz: Es geht aber um kein Gesetz, sondern nur um eine Resolution, eine Absichtserklärung des Bundestags.
Herbert: Das ist zutreffend. Es ist aber zu befürchten, dass diese Resolution Universitätsleitungen und Wissenschaftsministern die Legitimation verschafft, Unliebsame zu bedrängen und ihnen Forschungsmittel zu entziehen, wie ja bereits geschehen.
taz: Der Bundestag hat im November 2024 eine Resolution gegen Antisemitismus verabschiedet. Damals wurde kritisiert, dass die Freiheit der Wissenschaften tangiert würde. Die neue Resolution soll, so das Argument, nun die Wissenschaftsfreiheit unterstreichen, die ja mehrfach in dem Text betont wird …
Herbert: Wenn das die Absicht war, findet sich davon nichts im Ergebnis. Diese Resolution ist in dieser Form ein Eingriff in die Hochschulautonomie und die Wissenschaftsfreiheit, wie es ihn in der Bundesrepublik noch selten gegeben hat. Es ist verwunderlich, dass es in demokratischen Parteien dagegen kaum öffentlichen Protest gibt.
taz: Wahrscheinlich spielt dabei die Angst eine Rolle, als antisemitisch gebrandmarkt zu werden. Das ist wenig karriereförderlich.
Herbert: Vielleicht. Für Wissenschaftler darf das keine Rolle spielen. Mich sorgt, dass die Debatte um den Nahostkonflikt völlig aus dem Ruder gelaufen ist. Im postkolonialen Diskurs erscheint Israel als kolonialer Staat, Antisemitismus ist der Gegenbegriff. Die komplexe Wirklichkeit des Nahostkonflikts erfassen beide Begriffe nicht.
Dieser Konflikt ist ein Konflikt zweier Völker um das gleiche Land. Die Verwendungen von Begriffen wie antisemitisch, rassistisch oder kolonialistisch sind Teile der begrifflichen Kriegführung und tragen zum Verständnis des Konflikts nichts bei. Es gibt bei diesem politischen Konflikt keine einfache Lösung. Wer sie verspricht, will betrügen.
taz: Sie haben sich jahrzehntelang mit dem Holocaust und Antisemitismus befasst. Meinte Kampf gegen Antisemitismus immer das Gleiche? Oder gibt es Konjunkturen bei diesem Begriff?
Herbert: Es gibt Bedeutungsverschiebungen im Verhältnis der Bundesrepublik zur NS-Zeit. Die 50er und 60er Jahre waren von einem pflichtschuldigen, defensiven Philosemitismus des schlechten Gewissens geprägt. In den 70er und 80er Jahren gab es einen Hegemoniewandel, den die Rede von Richard von Weizsäcker 1985 zum Ausdruck brachte. Danach machten sich auch Konservative – die beim Thema NS-Zeit bis dahin, vorsichtig gesagt, zurückhaltend gewesen waren – eine deutliche Pro-Israel- und Anti-Antisemitismus-Haltung zu eigen.
taz: Und heute?
Herbert: Seit ungefähr 2015 gibt es eine neue Variante. Die Rechtsradikalen in Europa sehen in Israel einen Verbündeten gegen die muslimische und arabische Welt. In Frankreich symbolisiert der Wechsel von Jean-Marie Le Pen, der den Holocaust leugnete, zur Tochter Marine Le Pen, die gegen Antisemitismus demonstriert, diesen Wandel. In Deutschland sympathisiert die AfD mit Israel als antiarabischem Frontstaat.
Die Rechtsradikalen nutzen heute die Pro-Israel-Haltung und den Anti-Antisemitismus, um Kritiker der Netanjahu-Regierung, die ja mit den rechten und rechtsradikalen Bewegungen und Regimen in enger Beziehung steht, als Antisemiten zu diffamieren. Das ist auch vor dem Hintergrund der deutschen Geschichte ein schlechter Witz.
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