Muslimische Kultur in Deutschland: Und der Islam verändert sich doch

Die deutsche Gesellschaft verändert die muslimische Kultur. In einem Modestudio und in einer Öko-Moschee kann man sehen, wie.

Bestatter Isikali Karayel auf dem Zwölf-Apostel-Friedhof in Berlin

Isikali Karayel auf dem Zwölf-Apostel-Friedhof in Berlin: „endlich ein Platz für Muslime mitten in der Stadt“ Foto: raa

BERLIN taz | Wenn man ein Bild suchen würde, auf dem man sofort sieht, dass der Islam irgendwie schräg in der deutschen Landschaft steht, dass er nicht zur deutschen Geschichte gehört, dass er ein „Fremdkörper“ ist, der in Deutschland „keine Heimat“ finden könne, wie es etwa aus der AfD heißt: Auf dem Zwölf-Apostel-Friedhof in Berlin könnte man es finden.

Man könnte mit dem Geodreieck nachmessen. Denn die Reihen der muslimischen Gräber liegen nicht im 90-Grad-Winkel zum Gehweg, wie die meisten anderen Ruhestätten und wie man es im gut geregelten Deutschland erwarten würde, sondern im 45-Grad-Winkel.

Es ist Teil des islamischen Bestattungsritus, die Verstorbenen mit dem Gesicht nach Mekka auszurichten, von Deutschland aus gesehen nach Südosten. Dafür aber wurde der Friedhof nicht angelegt. Seine Wege verlaufen auf einer Nord-Süd-Achse.

Der muslimische Bereich liegt am Rand des Friedhofs. Seit 2015 gibt es ihn hier. Ein grüner Ort des Friedens, nur durch eine Mauer vom Autobahnkreuz Schöneberg getrennt. Mekka liegt hinter dem Kreuz.

Eine Frage des Mind-Sets

Isikali Karayel, 42, führt ein islamisches Bestattungsunternehmen. Er plaudert kurz mit den Friedhofsangestellten, die mit Rechen und Schubkarren neben der Kapelle stehen. Karayel mag diesen Ort. „Endlich ein Platz für verstorbene Muslime mitten in der Stadt“, sagt er.

Islamkritiker, die es in allen politischen Lagern gibt, halten den Islam für unvereinbar mit dem Grundgesetz. 61 Prozent der Deutschen – Tendenz steigend – sind laut einer Studie der Bertelsmann-Stiftung von 2015 der Meinung, der Islam passe nicht in die westliche Welt. Dass klar getrennt wird zwischen „Deutschland“ und „Islam“, als wäre eindeutig, was damit gemeint ist, setzen viele in der politischen Debatte voraus.

Wenn man aber mit einem anderen Blick hinschaut, sieht man keine Unvereinbarkeit. Man sieht, wie dynamisch deutsche Verwaltungen und muslimische Interessenvertreter aufeinander zugehen. Man sieht, dass der Islam nicht wie eine Burka über Deutschland gestülpt wird und die Gesellschaft islamisiert, wie einige ernsthaft behaupten. Man sieht, dass der muslimische Alltag deutsche Besonderheiten hat. „Es hat sich irre viel verändert in den letzten dreißig Jahren“, sagt Karayel, der Bestattungsunternehmer.

Deutsche Friedhofsverordnungen

In einer berühmten Studie verglich der Ethnologe Clifford Geertz die muslimischen Gesellschaften Indonesiens und Marokkos. „Islam Observed“ heißt sie, von 1968. Geertz zeichnete das Bild einer Religion, die von den kulturellen Prozessen vor Ort überformt wird. Der Islam, so kann man Geertz verstehen, ist nur im sozialen Rahmen lesbar, in dem er praktiziert wird. Er ist also nicht nur das, was alle Muslime eint, sondern auch das, was alle Muslime trennt.

Wie also ist die muslimische Kultur deutscher Muslime davon geprägt, dass sie Deutsche sind, die deutsche Modezeitschriften lesen, deutsche Debatten verfolgen, deutsche In­fra­struk­tur nutzen und deutsche Friedhofsordnungen einhalten? Wie deutsch ist die muslimische Kultur in Deutschland?

Meriem Lebdiri muss überlegen, wie sie erklärt, was deutsche muslimische Mode sei. „Deutsch, da denke ich schon auch erst mal an Dirndl und Lederhosn“, sagt sie. Aber dann zeigt sie ihre Stücke.

Lebdiri, 28, ist Modedesignerin, geboren in Algerien, aufgewachsen in Rheinland-Pfalz, ausgebildet in Bruchsal. Sie sagt, sie verschmelze in ihren Entwürfen die Attribute Muslima-Sein und Deutsch-Sein. Das klingt nicht spektakulär angesichts der Tatsache, dass vier Millionen Muslime in Deutschland leben. Aber wenn man darüber nachdenkt, was das bedeutet, geht doch ein ganzer Schrank voller Fragen auf.

Der Reißverschluss erlaubt eine Entscheidung

Belagertes Wien: Die ersten Muslime kommen als Kriegsgefangene nach Deutschland, nachdem die Osmanen 1683 Wien zum zweiten Mal belagert haben.

Diplomatie: 1763 richtet sich die erste ständige osmanische Gesandtschaft in Berlin ein.

Erster Weltkrieg: 1915 wird im brandenburgischen Wünsdorf die erste Moschee in Deutschland gebaut – in einem Internierungslager für muslimische Kriegsgefangene.

Zweiter Weltkrieg: 1922 hat sich die „Islamische Gemeinde zu Berlin“ gegründet. Während des Naziregimes werden sämtliche muslimischen Vereine aufgelöst.

Anwerbeabkommen: Die meisten Muslime kommen in den 1960er und 1970er Jahren als Arbeitsmigranten nach Deutschland.

Wie sieht etwas aus, in dem „deutsch“ und „muslimisch“ explizit miteinander verwoben wird, zwei Konzepte also, die in der gesellschaftlichen Debatte oft wie zwei Betonklötze nebeneinander stehen, starr und unvereinbar? Wie sieht etwas aus, das nicht die Unterschiede zeigt, wie die 45-Grad-Gräber auf dem Zwölf-Apostel-Kirchhof, sondern die Übereinkünfte?

Meriem Lebdiri trägt schwar­ze Pumps, eine schwarze Hose, darüber ein schwarzes Kleid und einen schwarzen Blazer. Sie, die Pfälzerin, spricht geschliffenes Hochdeutsch, am allerliebsten, sagt sie, wäre sie Fernsehmoderatorin geworden – aber mit Kopftuch: „Schwierige Sache in Deutschland.“ Lebdiri betreibt nun ein kleines Modestudio im pfälzischen Germersheim, einem verwinkelten Städtchen mit einer Festung aus dem 19. Jahrhundert. In den Ruinen veranstaltete sie einmal ein Modeshooting: Models mit Hi­dschab auf den Trümmern der alten Mauern.

Ihr Studio ist ein weißer Raum mit weißen Stühlen, weißen Ablagen und weißen Margeriten auf einem weißen Tisch. Auf einem Kleiderständer hängen sechs Stücke: drei schlichte Kleider aus Leinen- und Baumwollstoffen, alle mit dem Kamineffekt ausgestattet – unten Luft rein, oben Luft raus. Eine dezent geblümte Tunika. Ein Fischgrätmantel. Und ein brauner Mantel aus italienischer Wolle.

Was soll deutsch sein an einem Mantel aus italienischer Wolle, der dort, wo andere Mäntel einen Kragen haben, mit schwarzer Spitze aus Algerien benäht ist? Lebdiri sagt: „Deutsch ist schlicht.“ Gutes Material, zurückhaltende Eleganz und gedeckte Farben – das sei es, was bei Fashion-Shows im Zweifel als deutsch beschrieben werde.

Kleider von Meriem Lebdiri

Was ist deutsch an einem Mantel aus italienischem Stoff und algerischer Spitze? Stücke von Meriem Lebdiri Foto: raa

„Ich nenne meine Mode nicht muslimisch, sondern Modest Fashion“, sagt Lebdiri. Im internationalen Modejargon steht Modest Fashion für dezente, den Körper bedeckende Kleidung, wie sie muslimische Frauen tragen. Theoretisch kann sie aber jede Frau anziehen, ohne dass man sie deswegen für muslimisch halten würde. Lebdiris Label „Mizaan“, Arabisch für „Balance“ oder „Maß“, ist eines der wenigen deutschen Labels, die solche Mode designen. Nicht explizit muslimisch also. Ob sie auch Kopftücher designt? „Ja, ich entwerfe auch Schals.“

Muslimisch-deutsche Mode, sagt Meriem Lebdiri, sei Mode, die von einer in Deutschland aufgewachsenen, deutsch denkenden Muslima entworfen wurde. Einer Frau, die ihren Körper aus religiösen Gründen bedecken will und von den ästhetischen Besonderheiten ihrer Umgebung beeinflusst ist. Der Blazer, den Lebdiri trägt, ist an den Seiten mit Reißverschlüssen versehen. Man könnte sie öffnen und Haut durchblitzen lassen. Lebdiri hat sie geschlossen.

Kultur ist nie rein

Deutsch ist diesem Verständnis nach das, was in Deutschland geschieht. In einem offenen Land, in dem die Gedanken derer zusammenfließen, die hier leben; in dem, wie in Lebdiris braunem Mantel, italienische Wolle und algerische Spitze neu zusammengesetzt werden und etwas Drittes ergeben können. Etwas, das es nur hier gibt.

Kultur ist nie rein. Kultur ist mehr als das „Erbe der Väter und Vorväter“. Und zu Deutschland gehören nicht nur diejenigen, die dieses Erbe kennen und erhalten. Auch wenn der AfD-Politiker Alexander Gauland das kürzlich so definiert hat. Kultur ist, wenn Dinge zusammenfließen, weil Menschen sie zusammen denken. Weil sie dem Zusammenfluss Sinn zuschreiben.

Es gibt die Tendenz, Radikale und Fundamentalisten für „den Islam“ zu halten. Salafisten, die zum Teil für den „Islamischen Staat“ rekrutieren, und deutsche Konvertiten, die sich von ihnen umgarnen lassen, bis sie selbst Salafisten sind. Sie, die Patriarchen, die Ehrenmörder, die reaktionären Hyperreligiösen. Es ist nicht ungewöhnlich, dass die extremsten Figuren herausstechen.

Das Panoramabild aber ist viel komplexer. Der Kulturwissenschaftler John R. Bowen schrieb 2012 in „A New Anthropology of Islam“, der Prophet Mohammed „hat keine Anleitung hinterlassen, keine komplette Liste, wie man die Religion ausübt – wie man zu beten hat, wie man rituelle Waschungen vornimmt, was man an Tagen des Fastens tun muss“.

Was alle Muslime teilen, ist das Label Muslim. Was alle deutschen Muslime teilen, ist zudem das deutsche Umfeld. Es ist ein pluralistisches, in dem Reli­gions­freiheit besteht. Jeder darf glauben, was er will, und auch offen darüber reden.

Es ist auch ein Umfeld, in dem es ein christlich geprägtes Staatskirchenrecht gibt. Es gibt christliche Wohlfahrtsverbände, aber noch keinen muslimischen, auch deshalb nicht, weil es zwar viele muslimische Organisationen gibt, aber keine einzige, die für alle deutschen Muslime spricht. Muslimische Kranke werden daher häufig von christlichen Seelsorgern betreut und muslimische Pflegebedürftige in Heimen christlicher Verbände.

Außerdem teilen alle deutschen Muslime die deutsche Debatte über den Islam. Es gibt Streit über Kopftücher in Schulen und Ämtern, über Burkinis im Schwimmbad, vor Moscheen werden Schweineteile abgelegt.

Es gibt nicht „den Islam“

Vor allem aber gibt es zwischen den deutschen Muslimen Unterschiede. Es gibt Sunniten, Aleviten und Schiiten; es gibt in Deutschland viele türkisch- und nicht ganz so viele südosteuropäisch- und arabischstämmige Muslime, dazu südost- und zentralasiatische, persische und aus dem subsaharischen Raum stammende. Es gibt die, die jeden Tag beten, es gibt aber auch die, die sich mit ihren tradi­tions­ver­bundenen Vätern streiten, weil sie öfter ausgehen als in die Moschee.

Bis zu 80 Prozent der Muslime in Deutschland gelten als sogenannte Kulturmuslime, die so gläubig sind wie die Mehrheit der deutschen Christen: Sie feiern ihre Feste und pflegen eine muslimische Kultur, ohne besonders religiös zu sein.

Was es nicht gibt, ist eine zentrale Institution wie den Papst, der für alle Katholiken spricht.

Rabeya Müller, 59, eine gebürtige Deutsche, konvertierte Ende der Siebzigerjahre zum Islam. Zwanzig Jahre später gründete sie das Zentrum für Islamische Frauenforschung in Köln, das sich für eine geschlechtergerechte Lesart des Koran einsetzt. In der Muslimischen Gemeinde Rheinland, der sie angehört, beten Männer und Frauen gemeinsam, und sie leiten abwechselnd die Gebete. Müller führt sogar islamische Trauungen durch, wie ein Imam.

Als muslimische Feministin bezeichnete sich Müller, die eine randlose Brille trägt und ihr Kopftuch hinten bindet, sodass der Hals frei bleibt, schon, als das noch nicht so populär war. Die Offenheit für solche Strömungen sei schon immer im Islam angelegt, sagt sie. „Viele wären gern der Papst der Muslime. Aber es gibt im Islam kein solches oberstes Lehramt. Diese Pluralität müssen wir uns erhalten.“

Versteht sie sich als Botschafterin eines deutschen Islams oder wenigstens eines rheinischen? Der Begriff behagt ihr nicht – und ja, vielleicht ist er tatsächlich nur das nächste Klischee. Zudem liegt die Asso­zia­tion nahe, „deutsch“ sei ein normativer Begriff, nach dem Motto: Der Islam ist schlecht – bis er deutsch ist, dann ist er gut.

Aber eines kann man doch sagen: Eine geschlechtergerechte Lesart des Koran mag nicht exklusiv deutsch sein – aber dass das Thema in Deutschland verankert ist, befruchtet die Aus­ein­andersetzung.

Drei Tore, alle verpasst
Ender Cetin kniet neben Justizminister Heiko Maas in der Sehitlik-Moschee

Ender Cetin, links neben Justizminister Heiko Maas (mit Brille), in der Berliner Sehitlik-Moschee, nach dem islamistischen Terroranschlag auf Charlie Hebdo in Paris, Januar 2015 Foto: ap

Ein Freitagabend im Rama­dan, dem islamischen Fastenmonat. In der Neuköllner Şe­hit­lik-­Moschee, Deutschlands zweitgrößter muslimischer Gebetsstätte, sind rund hundert Gläubige zusammengekommen, um gemeinsam das Fasten zu brechen. Die Frauen sitzen an langen Tafeln im Hof. Einige Männer bereiten die Verteilung der Mahlzeiten vor, andere schaukeln Kinderwagen auf der Straße, die restlichen sitzen in einem Innenraum und schauen Fußball, Spanien gegen die Türkei. Spanien gewinnt 3:0, die meisten Männer verpassen alle drei Tore. Essensausgabe, dann ruft der Muezzin zum Fastenbrechen, das dritte Tor fällt während des anschließenden Abendgebets in der Moschee.

Die Şehitlik-Moschee, ein an das Parkgelände des ehemaligen Flughafens Tempelhof geschmiegter Prachtbau mit Minarett, wurde nicht nur im Stil der osmanischen Moscheen des 17. Jahrhunderts erbaut. Sie befindet sich auch offiziell auf türkischem Boden. Zu diesem Boden gehört auch ein muslimischer Friedhof, dessen Ursprünge auf einen Diplomatenfriedhof zurückgehen. In den 1920er Jahren wurde er der Türkei übereignet.

Die Moschee gehört zum türkisch-islamischen Dachverband Ditib, der dem Religionsministerium in Ankara untersteht. Ankara entsendet den Imam, der in der Moschee predigt, Ehepaare traut und bei Bestattungen das rituelle Totengebet spricht. Für Grünen-Chef Cem Özdemir ist Ditib deshalb der „verlängerte Arm des türkischen Staats“.

Vor Kurzem – nachdem der Bundestag die Verbrechen des Osmanischen Reichs an den Armeniern als Völkermord benannte und das von der türkischen Regierung heftig kritisierte wurde – hat die Ditib deutsche Politiker wieder ausgeladen, die sie zunächst zum Fastenbrechen in die Şehitlik-Moschee eingeladen hatte.

Die Moschee ist ein Beispiel dafür, warum die Islamdebatte in Deutschland mit großer Keule geführt wird. Sie entspricht auf den ersten Blick genau dem, woran deutsche Politiker und Pu­bli­zis­ten denken, wenn sie einen übergestülpten Import-Islam beklagen – einen nicht verwobenen Fremdkörper.

Nur ist das, was man sieht, immer auch das, was man zu sehen bereit ist. Wer hier eine Parallelgesellschaft vorfindet – auch so ein Konzept, das die Unvereinbarkeit betont –, findet sie nur, weil er sie gesucht und die komplexen lokalen Gegebenheiten ausgeblendet hat.

Eine Moschee mit Öko-Zertifikat

Ender Çetin, 40, der Vorsitzende der Şehitlik-Gemeinde, ist ein Mann, der an der Auflösung der Fronten arbeitet. Er hat es mit Islamhassern zu tun, die Brand- und Farbanschläge auf die Moschee verüben, und er jongliert mit den unterschiedlichsten Ansprüchen: denen aus Ankara und denen alter und junger Gemeindemitglieder. Manche sehen die Moschee als Rückzugsort, andere als einen Ort der Repräsentation, an dem man seinen Glauben vorzeigt.

Ist die Şehitlik eine türkische Moschee? Bei der Frage muss sich Çetin kurz sortieren, dann sagt er: „Jein.“ Denn ja, sie ist strukturell mit der türkischen Religionsbehörde Diyanet verbunden. Und doch: Manches von dem, was hier geschieht, geschähe wohl in keiner Moschee in der Türkei.

Im vergangenen Jahr hat die Gemeinde rund 30.000 Besucherinnen und Besucher durch die Moschee geführt, was man auch als Werben um Anerkennung in einer aufgeheizten Stimmung verstehen kann. Çetin lud Schwule und Lesben ein, um über muslimische Homophobie zu diskutieren. In einigen türkischen Medien sorgte das für einen Aufschrei und bei älteren Mitgliedern seiner Gemeinde für Irritation.

Die Şehitlik-Gemeinde wurde einst von ehemaligen Gastarbeitern der ersten Generation gegründet, Menschen also, die sich auch selbst als Gäste verstanden und stets vorhatten, wieder zurück in die Türkei zu gehen. „Für die Älteren war die Moschee ein Stück Heimat und ein Treffpunkt“, sagt Ender Çetin. Ihre Kinder und Enkel aber sind, wie Çetin selbst, in Deutschland aufgewachsen und verstehen sich als Teil der deutschen Gesellschaft.

Blick in Meriem Lebdiris Studio

Einer der wenigen deutschen Orte, an denen Modest Fashion entsteht: die Lebdiri-Studios Foto: raa

Wie sehr seine deutsche Sozialisation auf seine Interpretation des Islams durchschlage, sagt Çetin, bemerke er etwa daran, dass er Umweltaspekte einbeziehe. „Das Umweltbewusstsein ist in der ersten Generation und in der türkischen Community allgemein nicht so groß. Für mich gehört der Schutz der Umwelt zu den Kernbotschaften des Islam. Wir wollen eine grüne Moschee sein.“ Çetin hat sich beraten lassen, wie er die Umweltbilanz der Moschee verbessern kann. Bald bekommt er ein Ökostrom-Zertifikat, er will es an einer gut sichtbaren Stelle in der Moschee aufhängen. Manchmal höre er deswegen jemanden spotten, seine Gemeinde sei so integriert, sagt Çetin – „weil wir uns Themen widmen, die zumindest die ältere Generation nicht gewohnt ist“.

Deutsche Themen in der türkischen Moschee

Was erkennbar ist, ist Bewegung: Traditionen aus dem Herkunftsland münden eben nicht einfach in parallele Strukturen. Çetin importiert nicht türkische Debatten nach Deutschland. Er integriert in die türkische Moschee vielmehr Themen der deutschen Gesellschaft.

Möglich ist das auch deshalb, weil der Moscheeverein, dem Çetin vorsteht, nach deutschem Vereinsrecht gegründet wurde. Das Gebetshaus wird deshalb von der lokalen Gemeinde getragen. Und die Entscheidungen, die der Verein trifft, sind stark mit den Entwicklungen in Neukölln verwoben.

Aus Ankara entsandte Imame sind bisweilen ernüchtert, wenn sie hier ankommen. Wenn die Absolventen einer hoch angesehenen islamischen Institution aus der Türkei auf Neuköllner Großstadtjugendliche treffen, bleiben Reibungen nicht aus. Manche Jugendliche sind im Koranunterricht unaufmerksam, reden dazwischen. Die türkischen Imame aber sind Respekt gewohnt. Sie kennen die Lebenswelt der Jugendlichen kaum – und diese tun sich deshalb manchmal schwer damit, sie als Autoritäten zu akzeptieren. Die Lebenswelt prägt das Muslim-Sein ebenso wie die Tradition.

Die Geschichte, die die Mode­designerin Meriem Lebdiri über sich erzählt, beginnt, als sie elf war. Damals habe sie begonnen, sich darüber Gedanken zu machen, was es heißt, Muslima in Deutschland zu sein. In den Sommerferien, bevor sie aufs Gymnasium kam, begann sie, ein Kopftuch zu tragen. „Ich war religiös erzogen, so wie christliche Kinder religiös erzogen werden. Aber es gab nichts anzuziehen für mich. Ich hatte die Wahl zwischen kurzen, fast bauchfreien Blusen und Hüfthosen, wie sie in den Neunzigern halt in Deutschland üblich waren. Und der importierten traditionellen Kleidung, die an mir wie ein Sack aussah.“ Sie fühlte sich nicht zugehörig. „Ich wollte mich bedecken, ja, aber auf meine Art.“

In dieser Phase der Selbstfindung begann Lebdiri zu zeichnen. Sie entwarf Schlaghosen, die ein wenig höher gingen, und Blusen, die ein wenig weiter nach unten reichten.

Es war Mode für sie selbst, ein in Algerien geborenes Mädchen in der Pfalz, das gerade beschlossen hatte, die Religiösität, die ihr im Elternhaus vorgelebt wurde, in ihr eigenes Leben zu übersetzen.

Dass ihre Mode sich vom Standard unterscheide, sagt sie, sehe sie daran, dass es nur wenige Schneidereien gebe, die verstünden, was sie mache. „Die würden manche meiner Kleider eher enger nähen. Die sagen: ‚Das macht man nicht so.‘ Und ich sage: ‚Ich weiß, dass man das nicht so macht.‘ “

Es bewegt sich was, auf beiden Seiten

Isikali Karayel, der Bestattungsunternehmer, hat sein Büro in Berlin-Neukölln, nur wenige Kilometer von der Şehitlik-Mo­schee entfernt. Hinter seinem Schreibtisch hängt ein qua­dra­ti­sches Gemälde, rote Rosen vor grauem Hintergrund – Motiv der Trauer und ihrer Bewältigung. Vor Karayels Büro steht ein Kawasaki-Motorrad, das seiner Auszubildenden gehört. Sie soll Berlins erste muslimische Bestatterin werden. „Das ist revolutionär!“, sagt Karayel.

Es tue sich viel. Die Öffnung des evangelischen Zwölf-Apostel-Friedhofs für islamische Bestattungen sei für die Berliner Muslime ein großer Fortschritt. Früher wurden die meisten auf dem städtischen Friedhof Gatow beerdigt; der befindet sich am Stadtrand, jenseits der Havel, 25 Kilometer von hier entfernt.

„Die Berliner Standesämter drücken bei der Ausstellung einer Bestattungsgenehmigung auch mal beide Augen zu, wenn der Ausweis eines Verstorbenen nur in Kopie vorliegt“, sagt Karayel.

Und manchmal dürfen individuelle Entscheidungen getroffen werden, wie bei der sarglosen Bestattung. Muslime werden üblicherweise im Leintuch beerdigt. In einigen deutschen Bundesländern ist das mittlerweile erlaubt, auch in Berlin. Trotzdem entscheiden sich heute viele für die deutsche Regel. Auf dem Zwölf-Apostel-Kirchhof ist das Verhältnis etwa fifty-fifty. Rechts vom Fußgängerweg liegen die Gräber, in denen muslimische Verstorbene mit Sarg, links die, die ohne Sarg beerdigt wurden.

Manchmal aber findet sich kein Kompromiss: Muslimische Tradition ist es, Verstorbene innerhalb von 24 Stunden zu beerdigen. „Das hatte damit zu tun, dass die mehrheitlich muslimischen Länder eher heiße Länder sind“, sagt Karayel. „Und dann hat sich das auch in der Religion verankert.“ In den meisten Bundesländern gilt dagegen eine 48-Stunden-Frist, was früher etwa damit begründet war, dass man einen Scheintod ausschließen wollte. Man kann nur die eine oder die andere Regel befolgen. Also wird diese muslimische Tradition in Deutschland meistens gebrochen.

Isikali Karayel sagt, es gebe einen Generationenunterschied. Die ersten türkischen Gastarbeiter lassen sich nach ihrem Tod noch eher in ihre Heimatländer überführen, um dort die letzte Ruhe zu finden. Aber die Tendenz in der zweiten und dritten Generation gehe deutlich dahin, sich in Deutschland beerdigen lassen zu wollen. Zu Hause.

„Für die ist das selbstverständlich, sich dort beisetzen zu lassen, wo sie gelebt haben“, sagt Karayel. „Erde ist Erde.“

Und alles ist im Fluss.

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