Musiktheater über Kolonialgeschichte: Bis auf die Knochen
Die Band Kante und das Künstlerkollektiv Khoi Konnexion aus Südafrika erzählen beim Kampnagel-Sommerfestival von einer schmerzhaften geteilten Geschichte.
Sie hören nicht auf, von der Decke und aus dem Kamin zu fallen. Immer wieder landen Schädel und Knochen im Teig für die Pfannkuchen, die für den Gast dieses unheimlichen Hauses irgendwo in der ockerfarbenen Sandwüste in Namibia gebacken werden: einen Wanderer, der immer wieder lautstark erklärt, nicht an Gespenster zu glauben.
In jeder Wand dieses „Hauses der herabfallenden Knochen“, von dem die namibische Spoken-Word-Artistin Nesindano „Khoes“ Namises auf der Kampnagel-Bühne so eindringlich wie in einem Schauermärchen erzählt, stecken diese nicht zum Schweigen zu bringenden Gebeine.
Immer wieder rufen sie sich in Erinnerung, rastlos spuken die Geister der Ahnen herum. Und nicht nur in diesem Märchenhaus, das nicht zufällig irgendwie ans Hexenhaus erinnert, in dem Hänsels Fleisch bis auf die Knochen abgenagt werden soll: Jedes Heim, wird Peter Thiessen, Sänger der Hamburger Band Kante, am Ende dieses sagenhaften Abends singen, ist ein „haunted house“, ein von Geistergeschichten heimgesuchtes Spukhaus.
Die Bühne für diese Geschichten, in denen Vergangenheit und Gegenwart untrennbar miteinander verknüpft sind, auch sie ist zu Beginn ein Spukort. Zu den sirrenden Klängen des einsaitigen Mundbogens – für das Selbstverständnis der Khoisan im südlichen Afrika das wichtigste traditionelle Musikinstrument – machen Theaternebelschwaden, die sich aus Paketen und Kisten ergießen, die zu Beginn auf die Bühne getragen werden, aus ihr einen Friedhof.
Bühne für Geistergeschichten
Auf diesem Friedhof beginnen Kante gemeinsam mit Namises, dem südafrikanischen Musikaktivistentrio Khoi Konnexion und dem Theatermacher Nikola Duric von der postdramatischen Performancetruppe Showcase Beat le Mot von Knochen zu erzählen – und von all den (alb-)traumhaften Geschichten von Geistern, Chimären, Kolonialgewalt, Schuld und Sühne, die die in ihnen steckenden Geister erzählen.
Es ist ein Friedhof, der sich über zwei Kontinente erstreckt. Denn die Knochen der zwischen 1903 und 1908 von den Deutschen ermordeten Ovaherero und Nama, so erzählt Namises ebenso kraftvoll poetisch wie unverblümt, liegen nicht nur in Massengräbern ohne Grabsteine in Namibia begraben. Tausende lagern in den Sammlungen der Berliner Charité und in den Schränken von Forschungsinstituten in Freiburg, Frankfurt und Dresden.
Schmerzhafte Vergangenheit
Dorthin verschifft wurden sie vor über 100 Jahren, um an ihnen „Rasseforschung“ zu betreiben. Warum etwa die Nama sich so taktisch schlau den deutschen Kolonialtruppen entgegenstellten: Das wollten die rassistischen Forscher durch die Untersuchung der abgeschnittenen Schädel und Gehirne von Nama-Offizieren herausfinden.
Es ist eine geteilte Geschichte, vor deren Hintergrund dieses transkulturelle Musiktheater entstanden ist; eine Geschichte voller Gewalt, Schmerz, Trauer, Verdrängung und Verkennung, die kaum miteinander geteilt, zu wenig einander mitgeteilt wird.
Und die dennoch brennend aktuell ist: Seit März vergangenen Jahres wird vor einem New Yorker Gericht eine Klage gegen die Bundesregierung verhandelt, die sich bis heute weigert, sich für den von den Kolonialtruppen begangenen Völkermord zu entschuldigen – oder ihn überhaupt als Genozid anzuerkennen. Über 70 Prozent der Ovaherero und rund 10.000 Nama fielen ihm zum Opfer, wurden in Konzentrationslagern ausgehungert, zu Tode gefoltert und erhängt.
Vielstimmige Erzählung
Eine Entschädigung hat Deutschland dafür nie gezahlt. Kommende Woche sollen Schädel und Gebeine aus der Kolonialzeit an Namibia zurückgeben werden, aber es gibt Streit: Die namibische Botschaft hat Kritiker wie den Paramount Chief der Herero, Vekuii Rukoro, nicht eingeladen. Rukoro ist es, der in New York gegen Deutschland klagt.
Eine historisch adäquate Aufarbeitung der grausamen Verbrechen aber will „Das Haus der herabfallenden Knochen“ nicht leisten. Stattdessen haben alle Beteiligten im Vorfeld auf zwei Reisen durch Namibia und Südafrika Märchen und widerständige Geschichten gesammelt, sich auf die Spuren der in ihnen anklingenden Motive begeben und sie in einer vielstimmigen Erzählung zusammengefügt.
Denn in diesen Märchen und Volksmythen verknüpft sich die geteilte Geschichte bereits lange bevor die Gebrüder Grimm die deutschen Volksmärchen schriftlich fixierten. Mit den holländischen und hugenottischen Siedlern waren auch Geschichten von Hexen und Drachen nach Südafrika gekommen, mit den Missionaren und deutschen Kolonisatoren gelangten sie nach Namibia.
Sa, 25.8., 20 Uhr, Kampnagel, Hamburg
Fr, 31.8., Sa 1.9. und So, 2.9., 20 Uhr, Zürcher Theaterspektakel
Es sind wandernde Geschichten, die die Khoisan in das Repertoire ihrer Erzählkultur aufnahmen, sie veränderten, umdeuteten und subversiv wendeten.
Für all diese Geschichten – von der explodierenden Schlange, dem Schakal und dem Missionar oder eben vom Haus der herabfallenden Knochen – findet der Abend im reduzierten, aber assoziationsreichen Bühnenbild der Künstlerin Ruth May eine überzeugende Form: Mal poetisch, mal szenisch verspielt und immer wieder in hinreißenden gemeinsamen Songs wird – auf Deutsch, Englisch, Afrikaans und Nama – eine Geschichte erzählt, die kein abgeschlossenes Ganzes, sondern ein zerklüftetes, fragiles Fraktal ergibt.
Es ist eine Geschichte, die Raum schafft für eine gegenwärtige Begegnung auf Augenhöhe, die Möglichkeiten sucht, jenseits kolonialer Lasten einen Weg aus der geteilten Vergangenheit in eine gemeinsame Zukunft zu finden. Identitäten und Gewohnheiten sind nicht in Stein gemeißelt, das macht dieser Abend immer wieder deutlich. Zu erleben ist hier ein Stück aufrichtiger und lebendiger Erinnerungskultur.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!