Musiktheater „Schlaflos“ in Braunschweig: Mitgefühl für die Elenden
Regisseur Philipp Krenn verlegt seine Adaption von Jon Fosses Erzählung „Schlaflos“ ins Berlin der 1970er: Teenager kämpfen am Bahnhof Zoo ums Überleben.
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Der Handlungsort ist klar benannt, aber auch ins archaisch Mythische überhöht: Norwegens wilde Küste mit ihren schroffen Bewohner:innen. Der Kampf ums Überleben kann in dieser feindlichen Welt geradezu Tragödienwucht gewinnen. Für solche existenziellen Deutungen verzichtet Jon Fosse auf eine Zeitangabe in seiner mit dem Literaturnobelpreis 2023 ausgezeichneten „Trilogie“.
Der im März 2024 verstorbene Komponist Peter Eötvös erdet die erste der drei traumdunkel schwebenden Erzählungen, „Schlaflos“, als einen Versuch in nordisch-modernem Verismo, überschreibt die Tristesse mit Hoffnungsausbrüchen und bringt die brodelnde Gemengelage der hässlichen, schäbigen und schönen Gefühle des Personals in musikalisch wirkungsvolle Form.
Dabei jongliert Eötvös souverän mit den Klangeffekten der Musikgeschichte. Und immer wenn der Tod ins Geschehen lugt, erklingen Melodien im warm-weichen Marimba-Idiom. Dem Schauplatz gemäß ist auch Folkloristisches aus Norwegen in die Partitur eingewoben, die auch immer wieder Skandinavienstimmung evozieren soll. Was in etwa klingt wie Kälte im Zwielicht, sehr apart.
Als sich jetzt aber der Vorhang des Staatstheaters in Braunschweig zur „Schlaflos“-Premiere erhebt und das Staatsorchester unter Alexander Sinan Binders Leitung loslegt – sind realistische Nachbildungen des schmuddelig-gelben Fliesen-Designs im Berliner Bahnhof Zoologischer Garten zu sehen – wo nun Fosse-Sentenzen über das Meer, den Lachs, die Fischerei recht fremd anmuten und Fosse-Blicke in einen religiös aufgeladenen Himmel nicht möglich sind.
Dafür liegen „Wir Kinder vom Bahnhof Zoo“ am berühmt-berüchtigten 1970er-Jahre-Treffpunkt der Drogenszene unter einem Zigarettenautomaten, suchen die letzten erbettelten Groschen für Glimmstängel zusammen und spritzen sich auch mal Heroin für die Momente, die sie als Glücklichsein beschreiben. Von solchem Junkie-Elend steht nichts bei Fosse.
Mit dem gnadenlosen Realismus im Retro-Setting nimmt Regisseur Philipp Krenn dem Stoff seinen kunstvoll überwirklichen Charme, gewinnt aber konkrete Charaktere: zwei Minderjährige aus prekären Verhältnissen. Sie besitzen nichts außer einer ererbten Geige, aber lieben sich inständig. Das Mädchen ist hochschwanger, ihr Freund zu Tode erschöpft und kurz vorm psychischen Kollaps.
Beide suchen eine Unterkunft, die vor dem Obdachlosendasein schützt. Bei Fosse klingeln sie an den Türen eines Fischerdorfs, in Braunschweig fragen sie andere Bahnhofsbewohner:innen: Prostituierte, Trinker, Verkäufer:innen und Reinigungskräfte. Sie lässt Krenn als Stereotypen der Bosheit, des Egoismus und Machismo auftreten.
Kein Wunder also, dass sich dem jungen Paar nirgendwo eine Herberge auftut. Nein, die beiden heißen nicht Maria und Joseph, sondern Alida (Veronika Schäfer) und Asle (Matthew Peña). Norwegen begegnen sie tatsächlich auch noch, wenn auch nur auf einem riesigen Plakat, das unter der PR-verlogenen Überschrift „Freiheit Erleben“ einen „Traumurlaub“ per Kreuzfahrtschiff in den Fjorden verspricht.
Verwilderung am gesellschaftlichen Rand
Alida und Asle eröffnen die Wirklichkeit, reißen also die Werbung herunter. Dahinter liegt die heruntergewohnte Küche von Alidas Mutter. Ein trostlos herumhockender Mann gehört zum Inventar. Vor dem Fenster erheben sich Sozialwohnungsblöcke.
Als Alida etwas zu essen aus dem Kühlschrank und Geld aus der Spardose klauen will, beschimpft die Mutter ihre Tochter als „Abschaum“. Asle rafft das Geld zusammen, sucht mehr und schlitzt der Mutter den Hals auf.
Damit nicht genug. Als daran erinnert wird, wie das Paar aus einem Haus vertrieben wurde, durchzucken Asle wieder aggressive Schübe. Später wird klar, auch dort hat er gemordet. Eine besonders harsch die Übernachtungsbitte ablehnende Frau überlebt die Begegnung mit Asle ebenfalls nicht.
Schlaflos: wieder am Mi, 19. 2., 19.30 Uhr, Staatstheater Braunschweig; weitere Termine: 1. 3., 15. 3., 23. 3., 30. 3., 12. 4.
Die am gesellschaftlichen Rand Dahinvegetierenden sind in einem so desolaten Zustand, dass daraus Verwilderung erwächst. Es sind die übergroße Not und die täglichen Demütigungen, die zivilisatorischen Firnis bröckeln und Asle zuschlagen lassen.
In ihrem Mitgefühl für die Außenseiter:innen sind sich Fosse und Krenn einig. Und in der Anklage einer herzlosen Gesellschaft, die Asle schließlich für seine Taten lyncht – in Braunschweig wird er in einem Bahnhofsschaukasten als Hassobjekt ausgestellt und erstickt.
Das antiromantische Sozialdrama funktioniert bestens dank der sängerisch und schauspielerisch eindringlichen Rollengestaltungen. Am Ende sitzen beide wie am Anfang im Bahnhof Zoo – als wäre alles nur ein Traum gewesen, den zu träumen niemandem zu wünschen ist. Ihn anzuschauen aber ergibt einen bewegenden Theaterabend, erbarmungslos deprimierend und mit empathischer Zärtlichkeit für das Liebespaar einnehmend.
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