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Mordprozess Idar-ObersteinPlanvoll oder schuldunfähig?

War der Todesschütze von Idar-Oberstein schuldunfähig? Der Mordprozess wurde aufgrund von Zweifeln an Gutachten erneut unterbrochen.

Der Angeklagte vor Gericht im März – er hat einen jungen Mann erschossen und plädiert auf schuldunfähig Foto: Sebastian Gollnow/picture alliance

Bad Kreuznach taz | „Mord“ steht auf dem Aushang vor Saal 7 des Landgerichts Bad Kreuznach. In der Sache gibt es im Prozess gegen den 50-jährigen Mario N. kaum Zweifel: Der Angeklagte hat zugegeben, in einer Tankstelle in Idar-Oberstein am Abend des 18. September letzten Jahres den 20-jährigen Alexander W. mit einem Revolver erschossen zu haben.

Vorangegangen war eine Auseinandersetzung um die Coronaschutzregeln. Der Tankstellenmitarbeiter hatte es abgelehnt, N. Bier zu verkaufen, weil der die vorgeschriebene Mund- und Nasenmaske verweigerte. N. trank sich zu Hause Mut an, kehrte mit einem nicht zugelassenen Revolver in die Tankstelle zurück und tötete den jungen Mann mit einem Kopfschuss. Soweit ist die unfassbare Tat unstrittig. Eigentlich wollte das Gericht bereits vor der Sommerpause die Plädoyers aufrufen, doch die Verteidigung versucht in letzter Minute, die drohende lebenslange Haftstrafe für N. abzuwenden.

An diesem Montag ging es in dem Verfahren so weiter, wie es Mitte Juli in die Sommerpause gegangen war. Die Vorsitzende Richterin Claudia Büch-Schmitz verlas zwar den Beschluss, mit dem die Strafkammer den Befangenheitsantrag des Angeklagten gegen den psychiatrischen Gutachter als „unbegründet“ zurückweist. Doch die Verteidigung legte nach. Sie beantragte ein zweites Gutachten, wegen „mangelnder Sachkunde“ des ersten Gutachters.

Frage der Schuldfähigkeit

Der hatte dem Angeklagten, trotz fast zwei Promille Alkohol im Blut, bei der Tat „volle Schuldfähigkeit“ attestiert. Folgt ihm das Gericht, muss es Mord und vielleicht sogar die besondere Schwere der Schuld feststellen. Der 50-Jährige müsste dann bis ins hohe Rentenalter ins Gefängnis. Deshalb kämpft die Verteidigung um die „Schuldfähigkeit“ des Angeklagten.

Sie führt dabei nicht nur den konsumierten Alkohol ins Feld – vor der Tat hatte E. 5,5 Liter Bier getrunken – sondern auch die „Verletzbarkeit“ ihres Mandanten. Er sei in besonderer Weise von der Pandemie und den Schutzmaßnahmen dagegen gebeutelt gewesen. Zum einen durch Gehaltseinbußen. Im Jahr 2018 hatte der selbständige Softwareentwickler 100.000 Euro, 2020 pandemiebedingt nur noch 18.000 Euro erwirtschaftet.

Außerdem habe er unter einer Anpassungsstörung nach dem Selbstmord seines Vaters gelitten. Der Vater, an Lungenkrebs erkrankt, hatte im März 2020 seine Frau niedergeschossen und anschließend sich selbst getötet. N.s Mutter überlebte schwerverletzt, ihr Sohn habe sie betreuen müssen. Das hätten die Coronaschutzmaßnahmen erschwert. Auch die medizinische Behandlung seines Vaters habe unter den Pandemiebeschränkungen gelitten, führt die Verteidigung an. Zudem lösten Gesichtsmasken bei ihm wegen einer früheren Asthmaerkrankung Panikattacken aus, hatte der Angeklagte vortragen lassen.

Die Mutter des mit einem gezielten Kopfschuss getöteten 20-jährigen Opfers verfolgte diese Argumentation am Montag sichtbar um Fassung ringend.

Ein weiteres Gutachten gibt es von einer Polizeipsychologin, die frühere Chatverläufe des Angeklagten ausgewertet hatte. Ihre Stellungnahme wurde vor Gericht nicht angefochten. Sie erkannte in N.s Texten zu den Coronaschutzmaßnahmen im Netz ein „Sündenbock-Narrativ“ und bescheinigte ihm ein „ausländerfeindliches, rassistisches Weltbild“, das bei ihm eine „Objektivierung und Dehumanisierung von Menschen“ bewirkt habe. Der zwanzigjährige Alexander W. musste danach als „Stellvertreter“ für die Zumutungen der Pandemie sterben. Erschossen wurde er von einem Mann, der sich radikalisierte und schließlich die Pandemie und die Schutzmaßnahmen dagegen für alle Zumutungen des Alltags verantwortlich machte.

Möglicherweise geringeres Strafmaß als lebenslänglich

Zu Beginn des Prozesses hatte sich der Angeklagte N. über den „Ton“ von W.s Anweisung, eine Maske aufzusetzen, beschwert. Er habe sich wie in einem totalitären Staat gefühlt. Mit der Erschießung wollte er „ein Zeichen“ setzen, erklärte ein anderer Gutachter vor Gericht.

Gelingt es der Verteidigung, Zweifel an der Schuldfähigkeit des Angeklagten durchzusetzen, gegebenenfalls auch in einer Revision vor der nächsten Instanz, könnte ein geringeres Strafmaß als lebenslänglich folgen. Den Antrag auf ein weiteres Gutachten wertete die Staatsanwaltschaft indes als Prozessverschleppung. Nach einer Beratungspause wies das Gericht am Montagnachmittag den Antrag ab. Die Plädoyers dürften nun auf September vertagt werden.

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10 Kommentare

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  • Die Tatsache, dass sich jemand Mut antrinkt, zeigt, wie sehr er darum bemüht war, sein Gewissen zum Schweigen zu bringen. Dass der Alkoholeinfluss nun als Strafminderungsgrund gewertet werden soll, ist zynisch.

  • Ein Persöhnlichkeitsbild wie aus dem Lehrbuch für Coronaleugner. Hier die gefährliche Variante.



    Erinnert an einen Juristenwitz.



    Ein Mann hat Vater und Mutter ermordet.



    Plädoyer des Verteidigers:"Herr Vorsitzender, bitte beachten sie bei der Urteilsfindung auch, mein Mandant ist jetzt Vollwaise".

  • LOWANDORDER müsste dazu mehr wissen:

    Die Konstellation "actio libera in causa + Mord" wurde laut Wikipedia noch nicht vom BGH geklärt.

    5,5 Liter Bier ist eine Menge, die man nicht ohne Vorsatz oder Zwang in sich reinschüttet.



    Wieviele Promille hatte der zum Tatzeitpunkt (das müsste man ja sehr gut rückrechnen können)?

  • krass. Wenn ich mir Mut antrinke, ist es doch eine geplante Handlung mit bewussten Konsequenzen. Ich weiß ja, dass Anwälte eine zweifelhaften Beruf haben, aber diesen Menschen da rausboxen zu wollen ist purer Hohn und elitärs Denken vom Feinsten. Vielleicht sollte man die Anwälte mal ein ähnliches Schicksal erleben lassen... jedoch geht das nur mit von mirabgelehnten Mitteln und ist somit ausgeschlossen... aber krass.

  • Ach was! © Vagel Bülow

    “Planvoll oder schuldunfähig?“‘ Hä?



    Die Überschriftenrastellies - 🙀🥳 - 🤬 -

    “Schuldunfähig kann also sein, wer im Moment der Tat nicht das Schuldhafte seines Handelns erkennt oder (!) nicht in der Lage ist, sich zu steuern. Die aufgezählten psychischen Ursachen (sogenannte „Eingangskriterien“ oder „-merkmale“) einer geminderten oder nicht vorhandenen Steuerungs- oder Einsichtsfähigkeit stellen Kategorien dar, die in der Psychologie und Medizin ungebräuchlich sind und im Grunde nur im Rechtswesen für die Beurteilung einer Affekthandlung verwendet werden.“



    de.wikipedia.org/w...ldunf%C3%A4higkeit

    Nur zB „Sündenbock-Narrativ“ - Get it? Fein. - 🚽 -

  • RS
    Ria Sauter

    Können die Verteidiger eigentlich noch in den Spiegel schauen ohne massiven Ekel zu empfinden?



    Dass Alkohol zu eingeschränkter Schuldfähigkeit führt, werde ich nie verstehen.

  • Hoffentlich wird der Drecksack ordentlich verknackt. Mit Sicherungsverwahrung.

  • 6G
    659975 (Profil gelöscht)

    Die Regelung "schuldunfähig" wegen Alkohol oder Drogen verstehe ich nicht?



    Eigentlich müßte das Strafmaß dadurch noch angehoben werden.

    Wenn ich betrunken mit 1,5 Promille im Blut durch die Innenstadt mit 180 km/h fahre, bekomme ich auch keine geringere Strafe, weil ich betrunken war?



    Aber wenn ich einen Menschen töte?

    • @659975 (Profil gelöscht):

      Einfach ins Strafgesetzbuch gucken:

      § 323a



      Vollrausch



      (1) Wer sich vorsätzlich oder fahrlässig durch alkoholische Getränke oder andere berauschende Mittel in einen Rausch versetzt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe bestraft, wenn er in diesem Zustand eine rechtswidrige Tat begeht und ihretwegen nicht bestraft werden kann, weil er infolge des Rausches schuldunfähig war oder weil dies nicht auszuschließen ist.



      (2) Die Strafe darf nicht schwerer sein als die Strafe, die für die im Rausch begangene Tat angedroht ist.



      (3) Die Tat wird nur auf Antrag, mit Ermächtigung oder auf Strafverlangen verfolgt, wenn die Rauschtat nur auf Antrag, mit Ermächtigung oder auf Strafverlangen verfolgt werden könnte.

      Muß man nicht gut finden den Paragraphen, aber er existiert.

  • Die Vorgeschichte des Täters ist sicherlich bitter, rechtfertigt aber in keinster Weise einen geplanten und vorsätzlichen Kopfschuss wegen einer Masken-Streiterei. Und der Alkohlkonsum darf keine Rolle spielen, im Gegenteil, er sollte strafverschärfend wirken. Ansonsten besaufen sich in Zukunft die Täter, um schuldunfähig zu wirken.



    Sorry, aber der Täter hat den Tankstellen-Mitarbeiter schlicht und ergreifend hingerichtet. Punkt.