Mitangeklagter im Fall Lina E.: Bröckelnde Anklage
Seit sechs Monaten wird gegen die Linke Lina E. verhandelt, weil sie Rechtsextreme attackiert haben soll. Doch der Prozess kommt nur schleppend voran.
Wer war diese Frau? Laut Bundesanwaltschaft war es Lina E., die seit September 2021 vor dem Oberlandesgericht Dresden steht, auch am Mittwoch wieder. Bereits seit 15 Monaten sitzt die 26-jährige Leipzigerin in U-Haft. Laut Anklage soll sie mit mindestens den drei Mitangeklagten eine linkskriminelle Gruppe gebildet und sechs schwere Angriffe auf Neonazis verübt haben.
Doch der Prozess läuft schleppend: Keiner der Zeugen konnte die vermummten Angreifer erkennen, auch Lina E. nicht. Aufwändig wurden stattdessen DNA-Spuren oder andere Indizien besprochen.
Am Mittwoch aber ist es anders. Denn mit Leon Ringl sagt dort einer der angegriffenen Neonazis aus, und zwar derjenige, der als Einziger Lina E. erkannt haben will. Der 24-Jährige ist trotz seines Alters eine Art Szenegröße: In seinem Bull’s Eye fanden Szenekonzerte statt, er beteiligte sich an Kampfsportevents. Auch gibt es Hinweise, dass Ringl einen deutschen Ableger der Atomwaffendivision gründen wollte, eine rechtsterroristische US-Truppe. Und erst am Dienstag veröffentlichten Antifa-Rechercheure ein Foto, das Ringl mit Gesinnungskameraden vor einer Hakenkreuzfahne zeigt. Die Aufnahme soll im Januar in der Eisenacher NPD-Zentrale entstanden sein.
Schlag auf den Arm
Vor Gericht wird Ringl dazu vorerst nicht befragt. Gelassen schildert der Kurzgeschorene zunächst den Angriff auf seine Kneipe im Oktober 2019. Alles sei schnell gegangen, er selbst habe nur einen Schlag auf den Arm erlitten. Näher beschreiben kann er die vermummten Angreifer aber nicht, auch die Frau nicht. Diese habe er im Tumult kaum sehen können.
Aber die Angreifer kamen zwei Monate später wieder. Bekannte hätten ihn im Dezember 2019 nachts vom Bull’s Eye nach Hause gefahren, als wieder Vermummte vorn ihm standen, berichtet Ringl. Als er ein Pfefferspray und Cuttermesser gezogen habe, seien sie zurückgewichen. Dann aber hätten die Vermummten seine Begleiter in ihrem Auto attackiert, den Wagen zertrümmert.
Und wieder sei eine Frau dabei gewesen, die Kommandos gegeben und mit Pfefferspray gesprüht habe, die gleiche wie beim ersten Angriff, behauptet Ringl. An der Stimme, Statur, dem „Gesamtbild“ will er sie wiedererkannt haben.
Auto der Mutter
Mehr noch: In Polizeivernehmungen behauptete Ringl, dass es eben Lina E. gewesen sei. Er habe sie später auf Fotos in Medien wiedererkannt, auch habe ein Bekannter sie nach dem zweiten Angriff in Eisenach auf einer Polizeiwache gesehen. Tatsächlich wurde Lina E. damals das erste Mal vorläufig festgenommen: Die Polizei hatte sie in einem Fluchtwagen mit einem Mitangeklagten gestoppt. Es war das Auto ihrer Mutter.
Aber es bleiben Fragen, auch zu Ringls Aussage. Als Richter Hans Schlüter-Staats zur Frauenstimme nachhakt, bleibt Ringl vage: „Hochdeutsch, weiblich.“ Und in ersten Vernehmungen hatte er zunächst nichts von einer beteiligten Frau gesagt. Auch ist fraglich, ob er Lina E. wirklich unter der Vermummung und in den Tumulten erkennen konnte. Und als die Polizei ihm ein Foto von Lina E. vorlegte, konnte er sie noch nicht als Angreiferin erkennen.
Zumindest der Mitangeklagte Philipp M. wird am Mittwoch überraschend entlastet. Der Berliner soll sich am ersten Angriff auf Ringls Kneipe beteiligt haben, zudem auf einen weiteren auf Neonazis in Wurzen. Am Mittwoch aber legen seine Verteidiger Beweise vor, dass M. in Eisenach gar nicht vor Ort war. Vielmehr würden Aufnahmen einer Überwachungskamera zeigen, dass er am Tattag sein Haus gegen 20 Uhr mit dem Fahrrad verließ und um kurz nach 5 Uhr morgens wiederkehrte. Laut Geodaten seines Handys und einem abgehörten Telefonat mit seinem Mitbewohner sei er statt in Eisenach in einer linken Szenekneipe in Berlin-Kreuzberg gewesen.
M.s Anwalt Einar Aufurth spricht von einem „handfesten Alibi“. Sein Mandant habe schlicht einen „netten Abend mit Freunden“ verlebt. Es sei aber bezeichnend, dass die Bundesanwaltschaft dies bisher nicht selbst ermittelt habe oder ihr Wissen dazu verschweige. Das zeige, wie „einseitig“ in diesem Fall ermittelt wurde, so Aufurth.
Dem stimmen die anderen Verteidiger:innen schließlich zu. Richter Schlüter-Staats sagt, man werde die Hinweise „in Ruhe“ prüfen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nach dem Anschlag in Magdeburg
Rechtsextreme instrumentalisieren Gedenken
Anschlag in Magdeburg
„Eine Schockstarre, die bis jetzt anhält“
Anbrechender Wahlkampf
Eine Extraportion demokratischer Optimismus, bitte!
EU-Gipfel zur Ukraine-Frage
Am Horizont droht Trump – und die EU ist leider planlos
Exklusiv: RAF-Verdächtiger Garweg
Meldung aus dem Untergrund
Bundestagswahl am 23. Februar
An der Wählerschaft vorbei