Misshandlungen im Kinderheim: Hinter Milchglas
Fünf Betroffene berichten von Isolation und Polizeigriffen in einem Brandenburger Kinderheim. Ein Jugendlicher hat Anzeige erstattet.
Wir treffen Elvis in einem Wohnprojekt für Straßenkinder im Bahnhof Jamlitz im Süden von Brandenburg. Seit März lebt er dort, hat sich seiner Betreuerin Anett anvertraut. Vorher lebte er anderthalb Jahre in einem Heim namens „Neustart“, betrieben vom Arbeiter Samariter Bund (ASB) in Lübben, gelegen in einem Wald bei Jänschwalde. „Der Aufenthalt dort hat Elvis schwer traumatisiert“, sagt die Sozialpädagogin.
Elvis redet leise, guckt auf den Tisch. „Das ist wie eine geschlossene. Also man sitzt den ersten Monat allein im Zimmer“, berichtet er. Da habe er „Reflexionsaufgaben“ schreiben müssen und ein Namensschild aus Papierkügelchen basteln. „Da ist alles angeschraubt, die Betten und Tische. Die Fenster sind zur Hälfte zugeklebt. Man hat nur einen Schrank. Aber der ist verschlossen“, sagt der junge Mann, als er in Begleitung seiner Betreuerin mit uns spricht.
Sechs Jahre ist es her, dass nach Recherchen der taz drei Heime der Haasenburg GmbH geschlossen wurden, weil die dortigen Methoden nicht mit dem Kindeswohl vereinbar waren. Der Heimalltag dort sei von „überzogenen, schematischen und drangsalierenden Erziehungsmethoden geprägt gewesen“, sagte die damalige Jugendministerin Martina Münch (SPD) nach Lektüre eines Untersuchungsberichts und entzog die Betriebserlaubnis. Zugeklebte Fenster als Form des Reizentzugs, auch das gab es in der Haasenburg.
Hat sich nichts geändert?
Wir fragen nach. Gab es wirklich zugeklebte Fenster? Elvis sagt: „Na, unten zumindest. Und auf die Heizung darfst du nicht, um rauszugucken. Also den ersten Monat sollst du keinen sehen.“ Erst nach zwei Wochen habe er einmal an die frische Luft gedurft für eine Stunde Sportprogramm. Aber auch das nur in einem Fußball-Käfig, der hinter ihm abgeschlossen worden sei. „Und dann warst du doch wieder im Zimmer.“
Fast das ganze erste Jahr von Elvis’ Aufenthalt spielt sich in und um „Haus 1“ ab, ein beiger Putzbau, in dem laut Zeitungsberichten früher mal die Bundespolizei war. Im ersten Stock ist die Gruppe 1 für die Neuen, im Erdgeschoss die Gruppe 2 für jene, die schon länger da sind. „Da zieht man hin, wenn man das alles verstanden hat“, sagt Elvis. Wir sprechen in den nächsten Wochen mit vier weiteren Jugendlichen, die Elvis’ Schilderung bestätigen. Die Bewohner der Gruppe 1 dürfen nach ihren Aussagen nur in Begleitung der Erzieher ins Freie und sich tagsüber einen Großteil der Zeit nicht ohne Erlaubnis zwischen den Zimmern bewegen.
Elvis, der wie alle ehemaligen Bewohner des Heims in diesem Text in Wirklichkeit anders heißt, ist knapp 1,80 Meter groß, etwas schüchtern und trägt immer eine Mütze. Er weiß noch, was am ersten Tag in Jänschwalde passierte, als er seine Mütze nicht absetzen wollte. Sie hätten ihn deswegen zu zweit fixiert, sagt er. „Sie haben mich auf den Boden gedrückt. Einer hat sein Knie auf meinen Rücken gedrückt und mich festgehalten. Und der andere hat mir die Mütze weggenommen und mich so lange festgehalten, bis ich ruhig war.“ Ob das wehgetan hat? „Ja, klar, das war ein Polizeigriff.“
Er spricht leise. Es fällt ihm nicht leicht, zu berichten. Von dem umständlichen Toiletten-Ritual zum Beispiel. Er erzählt, dass er an seine Zimmertür klopfen musste, wenn er aufs Klo wollte, und dann musste er warten – bis ein Erzieher kommt. Diesen musste er dann um Erlaubnis fragen, für jeden einzelnen Abschnitt seines Gang zur Toilette. Darf er raus auf den Flur? Rein ins Bad? Raus aus dem Bad? Zurück in den Flur? Wieder rein ins Zimmer? Vor jeder Türschwelle eine Frage. Insgesamt sechs, sieben Fragen, um einmal pinkeln zu gehen.
Auch das erinnert an Berichte aus der Haasenburg. Elvis berichtet, dass ehemalige Mitarbeiter von dort in Jänschwalde arbeiten, „die haben mal drüber erzählt“. Er nennt fünf Namen, einer findet sich auch auf einer alten Mitarbeiterliste, die der taz vorliegt. Elvis kam erst nach einem halben Jahr im Haus nach unten in die „Gruppe 2“. Auch dort habe er nach allem fragen müssen. „Man hatte so eine Liste zum Abarbeiten“, sagt er. Der letzte Punkt, den man dort erreichen konnte, war „selbstständig gehen“ – sich also im Haus frei zu bewegen, ohne einen Erzieher um Erlaubnis fragen zu müssen.
Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.
So ähnlich ging es wohl den „Zöglingen“ in der Dzierzynski-Kommune des sowjetischen Hauspädagogen Makarenko zur Stalin-Zeit. In dem Buch „Beschädigte Seelen“ beschreibt Kulturwissenschaftler Manfred Franz die Lage eines Neuankömmlings so: „Selbst um tagsüber seinen Schlafsaal zu betreten, brauchte er eine schriftliche Erlaubnis“. Und jederzeit konnte ein Kommunarde bei Fehlverhalten auf die „nahezu rechtlose Stufe des Zöglings zurückgestuft werden“.
Zu „Neustart“ gibt es alte Zeitungsberichte. 2013 gewährte das vom ASB-Lübben betriebene Heim einer Reporterin der Märkischen Allgemein Einblick. „Neustart ohne Türschlösser“, titelte die Zeitung. Und weiter: „Der Alltag im Heim ist hart, und manche Jugendliche reißen deshalb auch aus. Kein Kunststück, da die Türen offen stehen“. Aber stimmt das noch? Elvis sagt, die Tür zwischen dem Eingang und seiner Gruppe war abgeschlossen. Den Schlüssel hätten die Erzieher.
Der Nachwuchs lerne, „Defizite zu beseitigen“
Als wir Ende August das Jugendministerium konfrontieren, leitet dieses die Anfrage an die Staatsanwaltschaft Cottbus weiter, um dem Verdacht der Freiheitsberaubung nachzugehen. Zudem seien Mitarbeiter des Jugendministeriums vor Ort gewesen, um den Vorwürfen nachzugehen. Weitere Gespräche mit dem Träger und Prüfungen würden folgen. Es handele sich um eine offene Einrichtung – „jede freiheitsberaubende Maßnahme ist nicht gestattet“. Weitere Nachfragen will die Behörde nicht beantworten.
Brandenburgs Ministerpräsident Dietmar Woidke müsste vertraut sein mit „Neustart“. Auf einem Foto, das die Lausitzer Rundschau am 8. April zeigte, hält der SPD-Politiker einen roten Adler aus Holz in den Händen, den ihm Heimkinder überreichten. „Ministerpräsident vom Projekt ‚Neustart‘ beeindruckt“, lautet die Titelzeile. In dem Text steht, der ASB betreue in Jänschwalde Jugendliche mit „massiven Verhaltensstörungen, die sich Regeln und Normen verweigern“. In dem Projekt lerne der Nachwuchs, seine „Defizite zu beseitigen“. Wie die Mitarbeiter dies angingen, habe Woidke imponiert.
Elvis sagt, man sollte das Heim zumachen: „Ich war aggressiver danach als davor.“ Irgendwann stieg er in die Gruppe 3 im Nachbarhaus auf, das mehr Freiraum bietet. Aber nachdem er dort weglief, kam er zurück in die Eingangsphase. Nach anderthalb Jahren schließlich flog Elvis raus, wie er berichtet, nachdem er sich mit einem Erzieher geprügelt habe. Das Jugendamt findet für den 17-Jährigen eine normale Jugendwohnung in Cottbus. Doch nur bis zu seinem 18. Geburtstag. Dann steht der Junge ohne Obdach da.
Das war im März. So kam Elvis nach Jamlitz zu dem alternativen Straßenkinder-Projekt des Trägers „Karuna“, das ganz anders arbeitet. Seine Betreuerin mischt sich ins Gespräch ein. „Ist das, wenn du jetzt darüber erzählst, Elvis, ist das für dich schwer?“ – „Ja“, antwortet er, „weil ich weiß, wie es den anderen da geht, die jetzt da sind. Die sitzen da im Zimmer.“
Chips als Bezahlmittel für Telefonate mit den Eltern
Auch in der Gruppe 2 blieb das Leben sehr reglementiert. Für die Teilnahme am Spieleabend, ein längeres Telefonat mit den Eltern oder dafür, sich zu schminken oder zu „stylen“, musste mit „Chips“ bezahlt werden, die die Jugendlichen sich durch Wohlverhalten verdienten. Alle zwei Stunden, erinnert Elvis, habe er einen Chip „anmelden“ können. Danach habe der Betreuer ihm gesagt, ob er ihn verdient hat oder nicht. Normal gab es drei Minuten Telefonzeit die Woche, berichtet er. „Hat man zehn Chips, darf man 13 Minuten telefonieren“.
Die Betreuerin von Elvis regt das alles auf. „Am meisten dieses Klopfen“, sagt sie, „dann nicht zu wissen, wann kommt der jetzt eigentlich. Wie viel Zeit man dort verwartet.“ Auf Toilette gehen sei ein Grundbedürfnis des Menschen. „Das kann nicht reglementiert werden.“
Wir entschließen uns, selber zu schauen, ob es Milchglasfolie gibt. Ende Juni fahren wir nach Jänschwalde in die Niederlausitz. Den Besuch kündigen wir bei der Heimleitung nicht an, weil wir fürchten, dass die Milchglasfolie schnell verschwinden könnte.
Wir parken anderthalb Kilometer entfernt, um vom Waldrand einen Blick auf die Fassade zu werfen. Die brütende Sonne scheint durch die Kiefernwipfel, hier und da liegen leere Flaschen auf dem trockenen Waldboden. Spaziergänger gibt es hier nicht, nur Jäger-Hochsitze und zugewachsene Wege. Im Umkreis befindet sich kaum etwas außer einem ehemaligen Militärflughafen und einer Tagebau-Marslandschaft. Wir klettern den kleinen Hang hinauf und sehen zwischen Tannen und Birken rote Dachziegel. Das ist das Heim.
Wir sehen den beigen Putzbau vom Gruppentrakt eins und zwei. Obwohl wir keine 100 Meter vom Haus entfernt sind, herrscht Stille. Kein Kind ist am frühen Nachmittag draußen. Es ist, wie Elvis gesagt hat: Im ersten Stock sind vier Zimmerfenster verklebt. Drei je zur Hälfte, ein viertes komplett. Wir machen Fotos.
Zugeklebte Fenster, matratzenloose Betten
Das Heim hat eine Facebookseite. Wir lesen dort einen Chat aus dem Jahr 2016. Ehemalige befürworten rückblickend die Härte und sorgen sich, dass ihre Nachfolger zu viel Luxus haben, etwa eigene Handys. Eine junge Frau fragt dort die Heimleitung, „ob es immer noch so ist, dieses Aufnahmeverfahren mit dem Aufnahmezimmer wo man voll abgeschirmt von allem ist“. Darauf antwortet die Heimleitung, es gehe jetzt im Nachbarhaus „lockerer“ zu. „Aber es gibt immer noch Haus 1 und das Konzept hat sich dort nicht wesentlich verändert.“
Im Netz finden sich auch Hinweise auf ehemalige Jugendliche. Wir schreiben Sabine aus Sachsen an. Die 19-Jährige ist bereit, mit uns zu telefonieren. Sie sagt, sie wohnt heute alleine und hat mit der Jugendhilfe nichts mehr zu tun. Aufgeregt erzählt sie, wie sie mit 15 in das Heim kam: „Also, ich bin ins Zimmer rein, das Fenster war zugeklebt. Das Bett war leer. Keine Matratze drauf. Alles angeschraubt.“ Elvis kennt sie nicht. Sie wünsche keinem, dort reinzugehen. „Das ist ja wirklich schlimmer als Knast. Also vielleicht in Gruppe 2 würde ich jemanden reinschicken, aber nie in die Gruppe 1. Das ist wirklich Horror, das ist krank.“
Tagsüber habe sie auf dem angeschraubten Stuhl sitzen müssen. „Also, da tat schon mein Popo weh.“ Sehr lästig sei die Klopf-Regel. Ein Erzieher war besonders streng. „Ich hatte denen gesagt: ‚Ich will jetzt auf Toilette gehen.‘ Und da meinte der: ‚Nee, du gehst jetzt nicht auf Toilette.‘ Obwohl ich pissen musste. Und dann habe ich gesagt:,Soll ich hier auf den Boden pinkeln?' Und dann meinte der: ‚Nee. Aber du redest mit mir ordentlich.‘“
„Du darfst nie was Falsches sagen, sonst wirst du übelst bestraft“, erinnert sie. Zum Beispiel mit „Zimmeraufenthalt“. Auch Sabine berichtet, dass andere begrenzt wurden. Und sie erinnert sich, wie sie Chips verdiente. Welche Sätze sie auswendig lernen und aufsagen musste, um die begehrten Papiermünzen zu bekommen. Wir schicken Sabine das Foto mit den verklebten Fenstern. Sie malt weiße Kreise drauf und schickt es zurück, um uns zu zeigen, in welchem Zimmer sie war. Sie sagt, es gebe an der Seite noch mehr Zimmer mit Fensterfolie, insgesamt sechs oder sieben.
Der Kontakt zu Sabine bricht wieder ab. Sie kommt nicht zu einem vereinbarten Treffen. Doch wir interviewen noch drei weitere Jugendliche, mit denen wir im Austausch bleiben. Janina zum Beispiel kam mit 15 nach Jänschwalde, weil sie aggressiv zu ihrer Mutter war und gelegentlich kiffte, wie sie sagt. „Meine Mama meinte nur zu mir, dass ich in eine Einrichtung komme. Und dass es so eine ist, hätte ich echt nicht gedacht“, sagt sie. „Die ersten vier Wochen war ich in diesem Zimmer, wo die Fenster abgeklebt sind.“ Wegen des angeschraubten Stuhls habe sie sich öfter auf den Boden gesetzt, denn auf dem Bett lag keine Matratze. „Man hat sich halt irgendwie wie in einer Geschlossenen gefühlt.“ In den vier Wochen allein im Zimmer ging es ihr „nicht gut. Gar nicht gut“.
Martin ist 16 Jahre alt und war neun Monate da – ebenfalls zuerst in einem Zimmer mit Milchglas. Auch er bestätigt die abgeschlossenen Türen, die Fragerituale und dass er anfangs keine anderen Jugendlichen zu Gesicht bekam. Aus dem Fenster konnte er ebenfalls nicht rausschauen: „Man musste auf das Fensterbrett steigen, um drüber zu gucken“, sagt er.
Er beschreibt auch, wie andere Jugendliche mit Handgriffen zu Boden gebracht wurden. „Der hat schon geweint, aber die Erzieher haben nicht aufgehört.“ Martin erinnert sich an vieles nicht ganz genau, aber als wir nach seinen „Verhaltenspunkten“ fragen, zitiert er problemlos aus dem Kopf: „Ich höre auf alle Anweisungen der Erzieher und erledige alle Aufgaben ordentlich und gewissenhaft.“ Warum er überhaupt dort war? Er habe viele Geschwister und habe sich zu Hause „nicht so benommen“.
Lina hatte schon zwei andere „Jugend-WGs“ hinter sich, als sie nach Jänschwalde kam. Sie hatte positive Erwartungen, „aber dann, wo ich da hingekommen bin – Katastrophe“, erinnert sie. Zu den verklebten Scheiben wurde ihr gesagt, das sei, „damit die anderen einen nicht sehen“. In die Folie, berichtet sie, war ein kleines Loch gepult. Dadurch konnte sie Elvis im Hof sehen und hat ihm manchmal gewunken.
Petra Rademacher, Landratsamt
Die Existenz dieser Folie, die dem optischen Eindruck nach von außen angeklebt ist, bestreitet selbst der zuständige Landkreis Spree-Neiße nicht, als wir danach fragen. Die Milchglasfolie bedecke die untere Hälfte der Sprossenfenster und diene der „Wahrung der Privat- und Intimsphäre“, antwortet die Büroleiterin Petra Rademacher im Auftrag des CDU-Landrats Harald Altekrüger.
Das beträfe „das Aufnahmezimmer und den Sanitärbereich in den Gruppen“. Ausschließen, dass Jugendliche nicht rausschauen können, kann das Amt nicht. Auf die Frage, warum Jugendliche kleinteilig danach fragen müssen, ob sie aufs Klo gehen dürfen, antwortet die Büroleiterin: „Der Punkt Wertevermittlung ist in der Konzeption verankert. Das Konzept ist Bestandteil der Betriebserlaubnis.“ Eltern und Jugendamt müssten sich vorher „mit der Konzeption einverstanden erklären.“
Für Lina war der harte Stuhl ein Problem. Die Matratze gab es auch bei ihr erst abends. „Ich habe mich dann auf den Boden gelegt, weil es in den Zimmern so kalt war“, erinnert sie. „Und dann habe ich mich immer an die Heizung gekuschelt.“ Der Landkreis schreibt nur, die räumliche Ausstattung sei in der Konzeption verankert. Lina schaffte es nach einem halben Jahr runter in Gruppe 2. Auch dort hielt sie es nicht aus. Sie sei mehrfach mit Polizeigriff festgehalten worden. Sie habe geweint und gefleht, der Erzieher solle aufhören, und hinterher zwei Tage Schmerzen gehabt und das Gefühl, es sei etwas in der Schulter gebrochen.
Der Landkreis schreibt zur Frage nach Polizeigriffen und Fixierungen auf dem Boden, solche „Handlungsstrategien“ und gegebenenfalls Betroffene, seien dem Jugendamt „nicht bekannt“. Das Jugendministerium, dem die Heimaufsicht unterliegt, prüft die Vorwürfe noch. Grundsätzlich könnte es nötig sein, eine Gefahrensituation auch mit Polizeigriff abzuwenden. Hätte diese Handlung „Auswirkung über den Augenblick hinaus, wäre das in jedem Fall zu melden“.
Heimkind im Hungerstreik
Irgendwann lief Lina weg. Sie tat so, als wolle sie draußen Wäsche aufhängen, schnappte sich heimlich ihr Portemonnaie und lief durch den Wald zum nächsten Bahnhof: Jänschwalde Ost. „Da sind die mit dem Auto hinterhergefahren, haben mich eingesackt.“ Und dann musste sie wieder von vorn anfangen. „Auch wieder diese vier Wochen. Und da habe ich mich so geweigert. Ich habe zwei Wochen nichts getrunken und gegessen. So weit war ich da.“ Lina bezweifelt, dass die positiven Kommentare auf Facebook authentisch sind. „Wer würde positiv darüber urteilen, wenn man eingeschlossen ist? Warum hauen denn dort so viele ab, wenn es angeblich so gut dort sein soll?“ Und dann nennt sie aus dem Kopf acht Namen von Jugendlichen, die dort weggelaufen seien.
Das Ministerium schreibt, wenn Jugendliche weglaufen, muss ein Heim dies melden. Man spreche nicht von „Flucht“, die würden sich „entziehen“. Wir wollten auch der Einrichtung „IP Neustart“ Fragen stellen. Wir fragen, ob wir vorbeikommen dürfen. Als wir eine Absage bekommen, befragen wir den Träger der Einrichtung, ASB Lübben, schriftlich zu den geschilderten Sachverhalten. Wir geben drei Tage Zeit für die Beantwortung.
Der Geschäftsführer Sven Meier antwortet uns nur allgemein: Man erkläre jedem Jugendamt und Sorgeberechtigten sehr genau die dortige Arbeit. Und diese träfen die Entscheidung, „ob unser Angebot die passende Hilfeform darstellt“. Unsere tendenziösen Fragen zusammen mit der Fristsetzung hätten ihn sehr befremdet. Auf die einzelnen Fragen geht er nicht ein, bietet dafür nun aber doch einen Vor-Ort-Termin an, allerdings erst zwei Monate später, aufgrund der „Urlaubszeit der Leitung“.
Der Landkreis Spree-Neiße bringt selber Jugendliche bei „IP Neustart“ unter und schreibt, Beschwerden seien dem Jugendamt nicht bekannt. Die Mehrzahl der Kinder und Jugendlichen hätte vorpsychiatrische Erfahrungen, sie seien teilweise traumatisiert und erforderten eine „engmaschige pädagogische beziehungsweise therapeutische Betreuung“. Die Maßnahmen seien im Konzept beschrieben und würden vorab den Sorgeberechtigten und den Kindern transparent dargestellt. In der Anfangsphase gebe es eine Eins-zu-eins-Betreuung.
Tilman Lutz, Prof. Soziale Arbeit
Tilman Lutz, Professor für Soziale Arbeit an der evangelischen Hochschule Hamburg, findet die Praxis im Heim untragbar: „Das, was die jungen Menschen schildern, ist Gewalt. Vom anfänglichen Freiheitsentzug über die degradierenden Fragerituale bis zu den körperlichen Übergriffen. Das Recht auf gewaltfreie Erziehung gilt auch in Einrichtungen.“ Dies als Wertevermittlung zu bezeichnen, sei „zynisch und ignoriert die Rechte der Kinder.“ Das Konzept sei auf Dressur ausgelegt und nicht auf Pädagogik. Erziehung sollte etwas mit Aushandlung zwischen Subjekten zu tun haben – hier würden die Jugendlichen zu Objekten gemacht, die verändert werden müssen. „Das widerspricht Würde und Kinderrechten“, sagt Lutz. Die Aufsichtsbehörden müssten sich darum kümmern, dass die Rechte von Kindern gewahrt werden.
Lutz forscht seit fünf Jahren zur Wirkung von sogenannten Stufenmodellen und verweist auf den Deutschen Ethikrat. Der zweifelt schon länger an Punktesystemen und Phasenkonzepten, wie sie in Jänschwalde praktiziert werden. In seinen Empfehlungen zu Zwang in Sorgebeziehungen aus dem Herbst 2018 schreibt er: „Intensiv-pädagogische Konzepte sind nicht zu rechtfertigen“. Denn sie würden aufseiten des Kindes oder Jugendlichen „zu Ohnmachtserfahrungen und zu äußerer Anpassung aus Resignation führen, sodass die eigentlich verfolgten wohltätigen Absichten konterkariert werden“.
Ähnlich schätzt es auch Heuser-Collier ein, Direktorin der Klinik und Hochschulambulanz für Psychiatrie und Psychotherapie an der Berliner Charité. Sie sagt: „Horror. Ich kann mir gar nicht vorstellen, dass es eine solche Einrichtung gibt.“ Bei den Jugendlichen könnten solche Maßnahmen dazu führen, dass sie sich noch mehr verhärten und sich das Gefühl von „ich bin ja eh allen egal“ verfestige. „Keine Ahnung, wie da die Erfolgsaussichten sein sollen.“ Diese Methode jedenfalls könne nicht von Erfolg gekrönt sein, weil den Jugendlichen beigebracht werde: Es gibt niemanden, der sich wirklich für sie interessiert.
Das Ministerium, welches das Konzept erlaubt hat, antwortet schmallippig auf unsere Fragen, zeigt sich aber alarmiert. Es wäre hilfreich, „wenn sich die betroffenen Kinder und Jugendlichen direkt an uns wenden“, sagt Sprecherin Antje Grabley. Die Hinweise würden vertraulich behandelt. Die Staatsanwaltschaft Cottbus bestätigt, dass ein „Prüfverfahren“ läuft – aber Näheres oder genaue Delikte seien noch nicht bekannt. Zumindest einer der Jugendlichen, mit denen die taz sprach, erstattete mittlerweile Anzeige bei der Polizei.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Rekrutierung im Krieg gegen Russland
Von der Straße weg
Proteste bei Nan Goldin
Logiken des Boykotts
Israelische Drohnen in Gaza
Testlabor des Grauens
Pressefreiheit unter Netanjahu
Israels Regierung boykottiert Zeitung „Haaretz“
Gewalt an Frauen
Ein Femizid ist ein Femizid und bleibt ein Femizid
Twitter-Ersatz Bluesky
Toxic Positivity