Militäranalysten in Kriegszeiten: Die neuen Virologen
Seit Beginn des Ukrainekrieges sind Militärexperten gefragte Gesprächspartner. Doch beenden könne einen Krieg nur die Politik, sagt Franz-Stefan Gady.
Um zu verstehen, was bei den Kämpfen in der Ukraine eigentlich passiert, ist gerade das Wissen von Leuten sehr gefragt, die – wie Virologen vor Beginn der Pandemie – bisher nur einer Fachöffentlichkeit bekannt waren. Leute wie Franz-Stefan Gady.
Er ist Militäranalyst und Politikberater beim International Institute for Strategic Studies (IISS). Der Thinktank hat sich darauf spezialisiert, möglichst viele Daten zu den Armeen dieser Welt zusammenzutragen. Er veröffentlicht etwa Analysen zur russischen Militärreform, zum Drohnenkrieg und dem Einsatz künstlicher Intelligenz auf dem Schlachtfeld.
Gady wird mit seinen Einschätzungen zum Ukrainekrieg gerade in der Zeit und der Süddeutschen zitiert, er gibt dem Deutschlandfunk und tagesschau.de Interviews, hält Vorträge vor Bundeswehroffizieren und berät Bundestagsabgeordnete. Jeden Morgen veröffentlicht er auf Twitter einen Kurzüberblick über den Verlauf des Krieges.
Infos aus öffentlichen Quellen
Mit einem weichen österreichischen Akzent empfängt er einen an einem Dienstagvormittag in seinem Berliner Büro. Er ist in der Südsteiermark aufgewachsen. Den größten Teil seines Lebens habe er aber in den USA verbracht, sagt er. Er trägt einen grauen Anzug mit weißem Einstecktuch, 39 Jahre ist er alt.
Im Flur hängen große Infografiken, auf denen abgebildet ist, welche Länder wie viele U-Boote haben, wo die chinesische Armee ihre Divisionen stationiert oder wie weit die Raketen des Iran fliegen können. „Alle Informationen werden aus öffentlichen Quellen zusammengetragen“, sagt Gady. Akademische Literatur, soziale Medien, Presseaussendungen, Militärattachés und offene Quellen von Regierungsbehörden. Alles werde streng überprüft und verifiziert. Es sei verblüffend, was sich da so alles finden ließe.
Das Militär habe ihn schon immer interessiert, erzählt er. Mit 16 Jahren ging er an eine Highschool nach Maine, später studierte er internationale Beziehungen in Österreich und Japan, dann „Strategische Studien“ mit Schwerpunkt Militäranalyse an der Johns-Hopkins-Universität in Washington. Anschließend arbeitete er in den USA bei einer NGO, die Vorschläge für eine nationale Sicherheitsreform formulierte, Vorträge im Pentagon inklusive.
Gady ist Reserveoffizier des österreichischen Bundesheeres. Er war als sogenannter eingebetteter Journalist bei Militäroperationen dabei und als Militärbeobachter in Afghanistan und im Irak, bei der US-Armee, der afghanischen Armee, bei rumänischen Truppen und kurdischen Peschmerga. Seine Rolle sei es gewesen, mit dem Blick von außen eine Einschätzung abzugeben. „Ähnlich wie ein Unternehmensberater.“
Er kann eindrücklich von einem Gefecht zwischen Peschmerga und dem IS erzählen. Er erinnert sich an das Pfeifen der Kugeln. „Wenn man das hört, sind sie wirklich nah.“ Es ist ihm wichtig zu betonen: Bei aller nüchternen Analyse von Waffensystemen sei ihm immer bewusst, was Geschosse und Granaten anrichten können. „Letztendlich geht es darum, eine große Anzahl von Männern so schnell wie möglich kampfunschädlich zu machen“, sagt er. „Also zu töten oder zu verletzen.“ Es sei wichtig, dass auch er das nie vergesse.
Von seinem Schreibtisch kann er auf den Reichstag blicken, keine 200 Meter entfernt. Das IISS bekommt seine Mittel aus öffentlichen Geldern und von privaten Unternehmen, auch Rüstungsfirmen. 1958 in London gegründet, hat die Organisation Niederlassungen in Washington, Singapur und Bahrain. Vergangenen Herbst wurde mit Geldern der Bundesregierung das Berliner Büro eröffnet. Mit dem erklärten Ziel, den „strategischen Diskurs“ in Deutschland voranzubringen.
Man wolle mithelfen, mit einer klugen Verteidigungspolitik den Frieden zu sichern, sagt Gady. „Dazu braucht es ein gewisses Maß an Aufrüstung, um potenzielle Gegner abzuschrecken. Der Gedanke der Abschreckung geht in der deutschen Debatte oft verloren.“ Es ist eine andere Formulierung für die Maxime: Wenn du Frieden willst, rüste für den Krieg.
Am Morgen hatte er eine Gruppe Bundestagsabgeordnete zu Gast. Er hat ein Briefing zur militärischen Situation in der Ukraine gegeben. Über manche Nachfragen wunderte er sich. „Sie gingen in die Richtung: Der Ukraine schwere Waffen zu liefern, sei sinnlos.“ Mit dem Argument, dies würde das Leid nur verlängern.
Die Vorstellung, dass Kapitulation etwas per se Gutes sei, gehe in Deutschland vielleicht auf die Endphase des Zweiten Weltkriegs zurück, sagt Gady. Damals sei es mutig gewesen, sich zu verweigern und nicht weiter für ein verbrecherisches System zu kämpfen. Das könne man aber nicht verallgemeinern.
Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.
Als Jugendlicher in der Südsteiermark hat ihn der Jugoslawienkrieg geprägt, das Kämpfen und Sterben unweit seiner Heimat. Der Einsatz der Nato, um die Belagerung Sarajevos schließlich zu beenden, beeindruckte ihn. „Ich habe da zwei Dinge mitgenommen: Militärische Macht kann Leben retten. Sonst wäre das Sterben immer weitergegangen. Und mich hat beeindruckt, wie die Amerikaner gesagt haben: Wir machen das jetzt, und ihr Europäer kommt mit oder nicht.“
In den vergangenen Jahren gehörte die russische Armee zu seinen Forschungsschwerpunkten. Ihr Vorgehen beim versuchten Sturm auf Kiew hat ihn aber überrascht. „Es waren zu viele Angriffsachsen, es war absehbar, dass es Versorgungsprobleme geben würde.“ Ein Land von der Größe der Ukraine mit 200.000 Soldaten einnehmen zu wollen, sei von vornherein unrealistisch gewesen. „Die politische Führung hat den russischen Streitkräften eine unlösbare Aufgabe aufgegeben, weil sie eine Generalmobilmachung vermeiden, zugleich aber möglichst große Teile okkupieren wollte.“
Verblüfft hat ihn auch die schlechte Koordination der russischen Streitkräfte, es fehlte am „Kampf der verbundenen Waffen“, wie das Militärexperten nennen. Dabei sollen sich die verschiedenen Teilstreitkräfte gegenseitig schützen, Panzer, Infanterie, mobile Flugabwehr, Fernaufklärung. Stattdessen konnte man auf Drohnenvideos russische Panzerkolonnen sehen, die ohne jede Absicherung in ein Dorf fuhren und von ukrainischer Artillerie zusammengeschossen wurden. „Die russischen Kräfte hatten den Kampf der verbundenen Waffen offenbar nicht trainiert – wohl auch, weil sie nicht damit gerechnet hatten, in der Ukraine einen hochintensiven Krieg zu führen.“
Franz-Stefan Gady, Militäranalyst
Die russische Armee setze auf eine überlegene Feuerkraft, die einzelnen Bataillonsgruppen führen viel mehr Geschütze mit als vergleichbare Nato-Verbände. „Zur russischen Militärdoktrin gehört es zu sagen, wir lösen unsere taktischen Probleme, indem wir den Gegner zerschießen“, sagt Gady. Das brauche aber sehr viel Munition, die Probleme habe man gesehen, als es den Ukrainern gelang, Nachschublinien abzuschneiden. Eigentlich sei Russlands Armee darauf ausgelegt, auf dem eigenen Gebiet einen Verteidigungskrieg zu führen.
Gady spricht detailreich und schnell, eine Faszination für Militärgeschichte klingt durch. Seine Freunde witzelten oft, dass er in jedem Gespräch auf Schlachten des amerikanischen Bürgerkriegs verweise, sagt er.
Bei der Analyse von Feldzügen gelte es verschiedene Faktoren zusammenzuführen: Wissen über die Waffen, geografische Gegebenheiten, Armeetraditionen und militärhistorisches Wissen, was etwas über den psychologischen Faktor sagen könne. „Napoleon meinte einmal, die Kampfmoral stehe zu den physischen Gegebenheiten im Verhältnis drei zu eins. Motivierte Soldaten können also unmotivierte Gegner immer besiegen, egal, welche technischen Fähigkeiten diese haben.“
Die erste Phase des Krieges hat die Ukraine gewonnen. Wie die meisten Experten sieht Gady nun einen langwierigen Abnützungskrieg im Osten. Dafür brauche die Ukraine schwere Waffen. „In der ersten Phase ging es darum, den weiteren Vormarsch zu stoppen – nun muss die Ukraine Gegenangriffe starten, wenn sie verlorenes Terrain zurückerobern will. Das geht nur mit gepanzerten Fahrzeugen.“
Gady betont immer wieder, dass es seine Rolle sei, eine militärische Einschätzung abzugeben. Alles andere sei Sache der Politik. Ähnlich wie die Virologen in der Pandemie zieht auch er eine Trennlinie zwischen seiner Expertise und politischen Entscheidungen. Nicht immer ist die Linie trennscharf.
Prognosen, wie lange der Krieg dauert, macht Gady nicht. „Wir wissen nicht, ob wir am Anfang, in der Mitte oder am Ende stehen“, sagt er. „Das entzieht sich militärischer Expertise. Einen Krieg zu beginnen und zu beenden, sind politische Entscheidungen.“
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