Migrationspolitik der Union: Brutal zurück
Unionsfraktionschef Brinkhaus kritisiert die „brutale Offenheit im Bereich Migration“ der Ampelkoalition – und zeigt die Verzweiflung seiner Partei.
Brutale Offenheit. Bei dieser Wortkombination handelt es sich um ein Oxymoron. Der gute alte Duden sagt, der Name dieser rhetorischen Figur bedeute „klugdumm“ und komme vom griechischen oxýs, was so viel bedeutet wie „scharf, spitz, scharfsinnig“, und móros, was „einfältig, dumm“ heißt. Das passt zu dem, was der Unionsfraktionschef Ralph Brinkhaus einen Tag nach Vorstellung des Koalitionsvertrags im Deutschlandfunk-Interview über die migrationspolitischen Ziele der Ampelkoalition gesagt hat: „Wir hätten sicherlich nicht diese brutale Offenheit im Bereich Migration gehabt.“
Warum haut Brinkhaus so früh am Morgen mit so widersprüchlichen Konstruktionen um sich? Das neue Regierungsbündnis hat in finanz- und sozialpolitischen Fragen zweifellos einen starken, dominanten Gelbstich. Man muss aber auch feststellen, dass dieses progressiv-neoliberale Bündnis in gesellschaftspolitischen Fragen Maßnahmen plant, die mit der Union nicht möglich waren.
Der Paragraf 219a, der Ärztinnen und Ärzten verbietet, über sichere Schwangerschaftsabbrüche zu informieren, wird abgeschafft. Im Bereich innere Sicherheit klingt es danach, als wolle die Ampelregierung das angehen, was die Union mit Innenminister Horst Seehofer lange blockierte: Sicherheitsbehörden sollen besser kontrolliert werden, etwa mit einem unabhängigen Polizeibeauftragten, der Einsatz von V-Leuten soll parlamentarisch nachvollziehbar werden.
Und auch in der Migrationspolitik sollen Dinge passieren, die mit der Union selbst unter der ach so progressiven Angela Merkel nicht möglich gewesen wären: Die Ampelkoalitionäre schreiben von mehr legalen Fluchtwegen, einer Zusammenarbeit mit einer Koalition der Willigen, falls die Herausforderung der Migration nicht auf EU-Ebene gelöst werden kann, wonach es derzeit stark aussieht. Die neue Regierung will dafür eintreten, dass keine Menschen mehr im Mittelmeer ertrinken und dass zivile Seenotrettung nicht mehr behindert wird. Sie will Bleibeperspektiven schaffen, Integrationskurse für alle, keine Arbeitsverbote, geduldete Azubis sollen eine Aufenthaltsgenehmigung bekommen und der Zugang zum Arbeitsmarkt für Migrant:innen grundsätzlich erleichtert werden.
Erwartbar zynisch
Natürlich müssen diese Vorsätze dann an Taten gemessen werden. Aber sie liefern auch so schon eine Projektionsfläche für eine konservative Partei auf Identitätssuche. Deshalb sind Brinkhaus’ Worte erwartbar zynisch: Man denke bei der Wortkombination „brutale Offenheit“ einmal an die gegenwärtige Situation vieler Menschen an der polnisch-belarussischen Grenze. Und diese Worte klingen zynischer, wenn man bedenkt, dass auch ihr Urheber weiß: Deutschland leidet unter Fachkräftemangel, ist ein Land, das wegen seiner demografischen Entwicklung rein ökonomisch auf Migration angewiesen ist. Die FDP, deren lautesten Akteure gern auf den Grenzen nach Rechts balancieren, wenn es ihnen politisch opportun vorkommt, dürfte die neue liberale Migrationspolitik deshalb nicht so sehr als Zugeständnis empfinden.
Brinkhaus’ Worte, der in seiner Partei alles andere als ein rhetorischer Hardliner ist, dienen nun also insgesamt als Indikator für den Grad der Verzweiflung der konservativen Partei. Sie erfüllen somit ein weiteres Kriterium für ein Oxymoron, nämlich, dass die Wendung, „die logisch betrachtet zunächst einmal widersprüchlich“ sei, „bei näherer Betrachtung und in bestimmten Zusammenhängen aber durchaus einen (Hinter)sinn“ offenbare. Der „(Hinter)sinn“ von „brutale Offenheit im Bereich Migration“ lautet: Die Konservativen in Deutschland sind am Arsch und wissen nicht wie weiter.
Manche sehen in Friedrich Merz die Erlösung. Merz soll die Union entmerkelisieren, zu ihrem wahren Kern zurückführen. Auch Brinkhaus scheint an diese Überlebensnotwendigkeit zu glauben. In dieser Zeitung schrieb ein Kollege vor Kurzem, dass Merz als Parteivorsitzender dafür sorgen könne, dass das Konservative nicht heimatlos werde, dass sonst das Erstarken der blaubraunen Alternative drohe.
Die Zeit lässt sich aber nicht zurückdrehen. Und wenn man sie zwanghaft zurückdrehen will, dann geht das nicht, ohne demokratische Standards zu entsorgen. Denn die Zeiten von Helmut Kohl waren nicht nur die der blühenden Landschaften. Sie waren auch jene der brennenden Migrantenhäuser.
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