Migrantifa über Rassismus: „Wir vertrauen der Polizei nicht“

Bündnisse von rassismusbetroffenen Menschen protestieren gegen staatliche Gewalt. Auch in Berlin fordern sie, der Polizei nun Gelder zu entziehen.

Protest gegen Polizeigewalt auf dem Hermannplatz in Berlin

Protest gegen Polizeigewalt auf dem Hermannplatz in Berlin Foto: Reuters/Christian Mang

taz: Camila Parks*, Meryem Malik, in Minneapolis, dem Ausgangspunkt der Black-Lives-Matter-Proteste, soll die Polizeibehörde aufgelöst und neu aufgestellt werden. Ebenso gibt es in den USA die Forderung „Defund the Police“. Diese sieht vor, weniger Geld in eine Militarisierung der Polizei zu stecken und stattdessen etwa in soziale Arbeit zu investieren. Sie sind Teil der Migrantifa Berlin. Sind das für Sie auch Forderungen für Deutschland?

Camila Parks: Erst mal muss Rassismus in Deutschland als strukturelles Problem überhaupt anerkannt werden. In einem zweiten Schritt sollte man überlegen, ob die Polizei, wie sie jetzt ist, nach einer ehrlichen Aufarbeitung von Rassismus überhaupt bestehen bleiben kann. Wir würden sagen: Nein. Rassismus und Unterdrückung sind Teil der polizeilichen Struktur und werden dies auch bleiben.

Also lieber gleich auflösen?

Parks: Wir würden sagen: Ja, Polizei abschaffen. Sie schützt die Bürger:innen nicht, sondern die Herrschenden und die Besitzverhältnisse. Eine Berliner Polizeigewerkschaft stellte die Polizei im Streit um die Kennzeichnungspflicht mal als „die größte Menschenrechtsorganisation der Stadt dar“, die das vollste Vertrauen der Bevölkerung genießt. Für uns als migrantisierte und rassifizierte Menschen ist das blanker Hohn.

Warum?

Parks: Wir vertrauen der Polizei nicht: Sie hat weder in Rostock-Lichtenhagen eingegriffen, noch hat sie den NSU aufgedeckt. Polizisten werden als Reichsbürger suspendiert und die Berliner Polizei ist am Ende der Black-Lives-Matter-Demo gewalttätig gegen migrantisierte und schwarze Jugendliche und junge Menschen vorgegangen.

Nun, für eine Abschaffung der Polizei dürfte es derzeit keine Mehrheit geben. Wie könnte denn zunächst das Konzept Defund the Police in Deutschland aussehen?

Meryem Malik: Wenn wir Defund the Police im deutschen Kontext verwenden, meinen wir damit, dass die Gelder, die in Wasserwerfer, Polizeischikane, Polizeischulen, Ausstattung und Bürokratie fließen, stattdessen in relevante Bereiche wie Bildung, Gesundheitswesen und Wohnungsbau umverteilt werden sollten. Auch hier in Deutschland werden soziale Probleme mit „carceral solutions“ – also mit Justiz und Kriminalisierung – beantwortet. So werden Obdachlosigkeit, psychische Probleme und Drogenprobleme sowie Armut mit Polizei und Knast angegangen, was völlig nutzlose Maßnahmen sind.

Wohin sollen die Gelder gehen, wenn die Polizei keine Panzer mehr kaufen darf?

Meryem Malik, 28, und Camila Parks (Name geändert), 24,

sind Aktivist:innen bei Migrantifa Berlin.

Malik: Gerade angesichts des neuen ­Landesantidiskriminierungsgesetzes (LADG) braucht es eine Res­sour­cen­umverteilung. Wir brauchen nicht nur neue Gesetzesgrundlagen, sondern müssen auch Verbände und Organisationen finanzieren, die Antidiskriminierungsarbeit leisten. Erst über neue Förderungen wäre es überhaupt möglich, zum Beispiel Verbandsklagen auf Basis des LADG durchzuführen und damit Einzelpersonen zu entlasten. Berlins CDU-Fraktionschef Dregger weist ja immer wieder darauf hin, dass er das Gesetz nicht unterstütze, weil wir ja schon Gerichte hätten und alle klagen könnten. Dabei blendet er aber völlig das gesellschaftliche Ungleichgewicht an Macht und Ressourcen aus. Gerichtsbarkeit ist letztlich für viele unerreichbar.

Wie geht es nach den großen antirassistischen Protesten der letzten Wochen in der Bewegung weiter?

Parks: Nach der Polizeigewalt auf der Demo und den vielen Festnahmen geht es jetzt erst mal um Betroffenen-Support, Vernetzungs- und Pressearbeit. Nach der Ermordung von George Floyd wurde medial vor allem Rassismus in der USA problematisiert. Aber es gibt auch in Deutschland seit Jahrzehnten migrantische und antirassistische Kämpfe gegen diese Strukturen. Die werden von Mehrheitsgesellschaft und Politik viel zu wenig beachtet.

Wo knüpfen Sie da an?

Parks: Wir führen die Kämpfe der Vergangenheit weiter. Es gibt ja bereits viele Kampagnen und Aufklärungsversuche gegen rassistische Polizeigewalt: Die Ermordung Oury Jallohs im Polizeigewahrsam, der 2005 in seiner Zelle verbrannte. Halim Dener, der 1994 von Polizisten erschossen wurde. Amad Ahmad, der 2017 in seiner Zelle verbrannte.

Zur großen Black-Lives-Matter-Demo sind überwiegend junge Menschen gekommen – und viele von ihnen haben gleich Erfahrungen mit Repression gemacht. Wie kann es gelingen, diese Jugendlichen in ihrer Politisierung zu stärken und trotz ihrer Repressionserfahrung sich nicht machtlos fühlen zu lassen?

Malik: Ich habe mich gefragt, ob das eine Abschreckungstechnik von der Polizei war, aber unterstelle der Polizei da gar kein bewusstes Handeln. Ich glaube aber, dass die Eskalation sehr viel verrät: Wir konnten beobachten, dass die Polizei sich während der offiziellen Kundgebung zurückgehalten hat und passiv präsent war. Es gibt sogar Augenzeugenberichte, dass Polizist:innen sich solidarisch mit den Protesten zeigen wollten. Aber nach der offiziellen Kundgebung ging die Polizei plötzlich auf Kleingruppen los, die eben auch viel verletzlicher waren als 20.000 Menschen auf dem Alex.

Warum kippte die Stimmung?

Malik: Auf der Demo wurde hauptsächlich die Polizei in den USA angeprangert. Sobald sich die Polizei mit Kritik am eigenen Fehlverhalten in Deutschland konfrontiert sah, hat sich ihr Verhalten geändert. Die Polizei ist höchstens solidarisch mit leisem Protest, der sie nicht direkt in die Kritik zieht. Und in dem Moment, wo sich migrantische Jugendliche einer Polizeimacht gegenübersahen, die sie ja seit Jahren aus ihrem Stadtbild durch Unterdrückung ihrer Eltern, ihrer Cousins und Cousinen kennen, ist das gekippt. Das ist überhaupt nicht überraschend.

Wie habt ihr die Reaktionen nach der Polizeigewalt wahrgenommen?

Malik: Es gab diese Schnappatmung in Presse und Polizei, die jedes Mal losgeht, wenn es darum geht, Polizeigewalt zu rechtfertigen und rassistische Gewalt zu problematisieren. Jungen Migrant:innen wird immer eine latente Gewaltbereitschaft unterstellt. Viele Jugendliche, teilweise sogar Minderjährige, wurden kriminalisiert und in die Gefangenensammelstelle Gesa mitgenommen. Es gab Augenzeugenberichte, dass viele weißdeutsche Jugendliche wieder gehen durften oder auch in der Gesa weniger kriminalitätsbehaftet behandelt wurden.

Aber es gab auch Flaschenwürfe auf Polizist:innen.

Wir finden es wichtig, Gewalt immer im Kontext zu sehen. Die Jugendlichen waren nicht vor Ort, um Stunk zu machen, sondern um gegen einen rassistischen Status quo anzugehen und gegen staatliche Gewalt, die sich durch Abschiebungen, Tote im Mittelmeer und Polizeigewalt manifestiert. Gewalt ist immer eine Reaktion. In diesem Fall auf Jahrzehnte der Unterdrückung und Gewalt, die die Leben und Erfahrungen der Familien und der Jugendlichen selbst vom Alex geprägt haben und weiterhin prägen. Die Frage ist nicht: Was passiert, sondern was steht dahinter? In den USA werden Proteste und Gewalt medial als Widerstand gegen einen rassistischen Status quo gelesen. Wenn das Gleiche hier passiert, wird es als Linksextremismus und pure Zerstörungswut gelesen. Das verurteilen wir.

Dezidierte Migrantifas tauchten ortsübergreifend erstmals nach Hanau auf. Warum haben sich Migrantifas zusammengefunden?

Parks: Migrantifa ist keine Institution, sondern sind bundesweit lose Zusammenhänge, die antifaschistische Politik von Migrant:innen für Migrant:innen machen. Nach Hanau ist das vor allem mit dem Bezug auf den Generalstreik am 8. Mai passiert.

Malik: Für uns war es super wichtig, nach Hanau der Wut und Trauer Raum zu geben und sie nicht in Verzweiflung abdriften zu lassen.

Warum war es notwendig, diese auch in Abgrenzung zu anderen linken Bündnissen formen?

Malik: Klassische linke Strukturen wie auch die Antifa in Deutschland sind mehrheitlich weiß dominiert und geben dem Kampf gegen rassistische Unterdrückung nicht genügend Raum. Viele Migrantisierte fühlen sich auch einfach unwohl in linken Kontexten. Dort ist es super wichtig, sich mit Szenecodes auszukennen, politisch zu sein als Lifestyle, und es gehören eben auch verdreckte und versoffene Kiezkneipen zum guten Ton. Wir wollen an einem Ort sein, wo Migrant:innen sich wohlfühlen und wo jeder mitkämpfen kann und nicht erschlagen wird von Politsprech, Manifesten und autonomer Selbstdarstellung.

Gibt es auch inhaltliche Unterschiede?

Malik: Der große Unterschied zu weißdeutschen linken Strukturen ist, dass wir per se durch unsere Körper politisch sind. Wir gehen raus in die Welt und sind bereits ein Politikum. Eine weiße Person kann auch von Faschismus betroffen sein – siehe Walter Lübcke, siehe Antifaschist:innen, die Polizeirepression auf der Straße erfahren. Die können aber theoretisch ihr T-Shirt ausziehen, die Meinung ändern und sind dann nicht mehr Zielscheibe. Wir sind jederzeit Zielscheibe.

Parks: Aber natürlich haben nicht alle von uns eigene Migrationserfahrungen gemacht. Auch sind nicht alle unsere familiären Migrationsgeschichten vergleichbar. Aber wir haben uns trotzdem unter dem Label Migrantifa zusammengefunden, um auf die gemeinsamen Erfahrungen mit rechtem, rassistischem und antisemitischem Terror aufmerksam zu machen und uns zu organisieren.

Inwiefern ist antirassistischer Protest für euch mit Kapitalismuskritik und Systemfragen verknüpft?

Malik: Kapitalismus braucht immer Rassismus, um zu funktionieren. Da ist Cedric Robinson mit Black Marxism schon in den 80ern drauf eingegangen. Die Sklaverei und ihre ideologische Rechtfertigung durch Rassismus war eine notwendige Voraussetzung für die Entwicklung moderner Industrie und die Ausbeutung von Schwarzen, indigenen und migrantisierten Menschen und ihrer Arbeitskraft.

Lassen sich Analysen aus den USA auf Deutschland übertragen?

Malik: Auch hier ist Rassismus eine Grundvoraussetzung des Kapitalismus. Die Grundpfeiler eines kapitalistischen Systems sind Eigentums- und Produktionsverhältnisse, die in Dominanzverhältnissen angeordnet sind, die anhand des Markers „Race“ verlaufen. Dadurch werden massive ökonomische Ungleichheiten reproduziert. In den USA und auch hier sind Black-Lives-Matter-Kämpfe eigentlich immer mit Kapitalismuskritik verbunden. Schwarze Aktivist:innen und Menschenrechtler:innen wie Angela Davis schreiben seit Jahrzehnten Systemkritik.

Was folgt daraus?

Malik: Uns geht es darum, eine soziale Ordnung zu hinterfragen, in der Gefängnisse, Sweatshops (Ausbeutungsbetriebe in Entwicklungsländern – Anm d. Red.) und Flüchtlingscamps völliger Allgemeinplatz und normal sind. Gleichzeitig gilt die Idee, Gefängnisse und den Kapitalismus abzuschaffen, als utopische Spinnerei. Das müssen wir ändern. Wir müssen sagen: Hey, lasst uns das doch noch mal neu denken.

Wir würden Ihnen hier gerne einen externen Inhalt zeigen. Sie entscheiden, ob sie dieses Element auch sehen wollen.

Ich bin damit einverstanden, dass mir externe Inhalte angezeigt werden. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen übermittelt werden. Mehr dazu in unserer Datenschutzerklärung.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.