Michael Müller über Afghanistan: „Es tauchte die ‚Ursünde‘ auf“
Beim Bundeswehreinsatz in Afghanistan ging vieles schief. Michael Müller (SPD) leitet die Enquetekommission, die Fehler und Versäumnisse aufklärt.
wochentaz: Herr Müller, in Afghanistan jähren sich die Machtübernahme der Taliban und der Abzug der Bundeswehr zum zweiten Mal. Die von Ihnen geleitete Enquetekommission des Bundestags arbeitet 20 Jahre deutsche Politik am Hindukusch auf. Was ist Ihre Zwischenbilanz nach dem ersten Jahr der Kommission?
Michael Müller: Wir formulieren gerade den Zwischenbericht. In den Anhörungen tauchte immer wieder die „Ursünde“ auf, wie es einige nennen: dass die Taliban nie Gesprächspartner waren. Auch dass der Einsatz zu überhastet umgesetzt wurde, Bundeswehr und zivile Helfer hatten sich kaum vorbereiten können. Der Bundeswehr wurde zu viel übertragen, was nicht ihre Aufgabe ist, wie etwa der Staatsaufbau. Und dann hörten wir, dass die Koordinierung des Einsatzes der verschiedenen Ressorts weder hier noch vor Ort ausreichend funktioniert hat. Das klare Commitment, wer macht was, und wer steuert es dann von Berlin aus, damit es vor Ort umgesetzt wird, hat nach einigen Aussagen nicht hinreichend stattgefunden.
58, ist SPD-Bundestagsabgeordneter und leitet die Enquetekommission Afghanistan des Parlaments. Von 2014 bis 2021 war er Berlins Regierender Bürgermeister.
Die damalige Entwicklungsministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul hätte doch nicht Nein gesagt, hätte sie mehr Ressourcen und eine größere Rolle beim Institutionenaufbau bekommen, wo sich die Bundeswehr reingedrängt hat. War das keine politische Entscheidung?
Ja, aber auch Wieczorek-Zeul sagte uns, dass sie gar nicht gewollt hätte, dass die Bundeswehr mehr Aufgaben übernimmt. Damit stimmt beides: Das Entwicklungsministerium hätte gern mehr Ressourcen und eine klare Verständigung gehabt, was es machen soll. Aber auch die Koordination zwischen den Ressorts Verteidigung, Inneres, Entwicklung, Wirtschaft und Finanzen hat untereinander offenbar nicht ausreichend stattgefunden.
Nach außen war stets die Rede vom „vernetzten Ansatz“ zwischen militärischen und zivilen Mitteln. Die Bundeswehr bekam aber das Gros der Mittel. Hat der vernetzte Ansatz so gar nicht stattgefunden?
Der Einsatz begann mit der militärischen Aufgabe Kampf gegen den Terror. Es bestand eine Abhängigkeit von militärischen Fähigkeiten und vom Engagement der Amerikaner, die bald ihren Hauptfokus auf den Irak richteten. Wir blieben ohne diese Koordinierung weiter in dieser militärischen Verpflichtung in Afghanistan. Die war damit von Anfang an auf einer schiefen Ebene. Es ist nachvollziehbar, dass man mit den Amerikanern gegen den Terror kämpfen wollte. Aber diese selbstkritische Bestandsaufnahme – was haben wir erreicht, was wollen wir mit welchem Schwerpunkt und welchen Ressourcen erreichen? – hat mutmaßlich nicht hinreichend stattgefunden.
Warum versäumte die Regierung eine ehrliche Bestandsaufnahme?
Es mag mehrere Gründe für eine nicht weit genug gehende Analyse geben. Zum Ersten, um in dem internationalen Bündnis engagiert zu bleiben, zum Zweiten mangelndes Wissen zu Kultur, Geschichte und Entscheidungsstrukturen des Landes. Und drittens gab es ja durchaus Erfolge, insbesondere in der Anfangsphase. Bundeswehr und zivile Helfer waren gerade zu Beginn akzeptierte Partner. Bildungs-, Gesundheits- und Wasserinfrastruktur wurde aufgebaut, was zunächst beruhigte, denn es lief doch.
Wollte man es womöglich gar nicht so genau wissen aus Angst vor möglichen Konsequenzen? Und war eine Funktion dieser Berichte vielleicht auch, leichter Flüchtlinge abschieben zu können?
Ich bleibe dabei: Eine intensivere Ressortabstimmung hätte vielleicht vieles in dem Dialog der Ministerien miteinander offengelegt. Womöglich gab es auch innenpolitische Gründe, nicht alles so klar zu formulieren. Bei den Anhörungen wurde deutlich: Wenn wir zumindest auf Regierungsebene zum Schluss kommen, dass wir nicht erfolgreich sind, was ist dann die Konsequenz? Können wir uns aus der internationalen Solidarität verabschieden? Es haben sich auch Abgeordnete vor Ort selbst ein Bild gemacht. Es gab kritische Diskussionen, aber nicht mit den Konsequenzen, die uns aus heutiger Sicht notwendig erscheinen.
War die Option eines deutschen Rückzugs realistisch?
Es gab ja die Freiheit, sich nicht am Krieg der Amerikaner im Irak zu beteiligen. Vielleicht war dieses Nein möglich wegen des Ja zu Afghanistan. Dass Deutschland auch in der Verantwortung war, diesen auch von Afghanistan ausgehenden Terror zu bekämpfen, stellte niemand ernsthaft in Frage. Ich erinnere mich: 15 Jahre später als Regierender Bürgermeister– was wir hier in Berlin für Sorgen hatten nach dem Anschlag auf dem Breitscheidplatz 2016 und dem Terror in unseren Partnerstädten.
Deutschland war 2001 Gastgeber der Konferenz auf dem Petersberg, die nicht nur einen sehr kleinen militärischen Einsatz beschloss, sondern vor allem den Aufbau staatlicher Strukturen. Hat man sich von dieser Führungsrolle zu früh verabschiedet?
Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.
Hatten wir nach 9/11 wirklich die Führungsrolle? Ihre Frage impliziert, dass Deutschland insbesondere am Anfang eine andere Rolle hätte spielen können. Aus den Anhörungen kann ich das nicht schlussfolgern.
In der Kommission wurde deutlich, dass es beim Antiterrorkampf der USA wie der Verbündeten viele zivile Opfer gab und dies die Taliban stärkte. Müsste die Kommission nicht die Option diskutieren: Wir machen bei dieser Art Militäreinsatz nicht mehr mit, sondern kümmern uns um den Aufbau politischer Institutionen?
Wir waren sehr aktiv beim Aufbau der Polizei, der auch nicht funktioniert hat. Aber viele haben uns bestätigt, dass wir da inklusive der Stadt Berlin sehr engagiert waren und viel versucht haben. Doch welche Konsequenzen ziehen wir daraus, wenn wir heute sehen, dass es so nicht funktioniert hat?
Polizei ist bei uns Sache der Länder, von denen sich viele nicht beteiligt haben. War es denn sinnvoll, das die Bundesregierung etwas übernommen hat, das unwillige Bundesländer umsetzen sollten?
Der Bundeswehreinsatz und die humanitäre Hilfe fanden ja auf Bundesebene statt. Bei der Polizei sollte gerade unsere Erfahrung der zivilen, also nichtmilitärischen Struktur eingebracht werden. Da sehe ich kein Problem.
Aber wie? Da kommen wir doch wieder zur Frage: Hat der vernetzte Ansatz geklappt oder müssen wir nicht eigentlich viel mehr politisch tätig werden?
Eine Konsequenz dürfte sein, dass es eine klare Fehlerkultur geben muss, eine offene Auseinandersetzung zu Zielen und Fähigkeiten, der permanenten Evaluierung eines Einsatzes samt Schlussfolgerungen, um gegebenenfalls Dinge zu ändern.
Die Intervention in Afghanistan scheiterte auch politisch. Die Kooperation mit Warlords diskreditierte und destabilisierte das demokratische System, das man errichten wollte. Was lernen Sie aus dem gescheiterten Demokratie-Aufbau?
Offensichtlich kann man eine Demokratie oder ein Staatsgebilde aus Legislative, Exekutive und Judikative einer anderen Kultur nicht von außen überstülpen. Wir haben versäumt, auf relevante Entscheider zuzugehen und sie einzubinden. Dadurch fehlte bei ihnen wie bei großen Teilen der Bevölkerung die Akzeptanz für das Vorgehen.
Kriminelle Warlords wurden bei Wahlen zugelassen und so in Positionen gebracht, wo sie von internationaler Hilfe sehr profitierten.
Ausgangspunkt war ein weltweiter Schock, das Engagement war anfangs klar militärisch geprägt. Nach Jahrzehnten Krieg in Afghanistan war die Frage: Wie können wir da überhaupt Strukturen aufbauen? Man hat zunächst mit Menschen kooperieren müssen, die einen mitunter zweifelhaften Ruf hatten. Dass man dann nicht auf andere zugegangen ist, die eine andere wichtige Rolle spielten, wird als größerer Fehler gesehen.
Warlords stellten bei der Bonner Konferenz 2001 drei der vier Delegationen. Eine fünfte, demokratische Delegation wurde wieder ausgeladen.
Ich sehe das als großen Fehler. Wir haben noch nicht aufarbeiten können, warum es so war.
Brauchen wir eine andere parlamentarische Begleitung?
Deutschland wird international wahrscheinlich mehr gefordert, woraus auch die Diskussion um den Bundessicherheitsrat folgt: Brauchen wir ein Regierungsgremium, wo Ressortinteressen und -verpflichtungen zusammengeführt werden? Wir haben aus gutem Grund starke Ressortverantwortung bei den Ministerien und kein Präsidialsystem. Parlamentarier haben die Aufgabe, das Regierungshandeln zu kontrollieren, einschließlich der Ressortabstimmung. Möglicherweise ist es sinnvoll, das in einem Gremium zu diskutieren, das das zusammenführt, oder in gemeinsam tagenden statt getrennten Ausschüssen.
Transparenzhinweis: Thomas Ruttig ist taz-Autor und Mitglied des Afghanistan Analysts Network. Früher arbeitete er für die UN in Kabul, weshalb er von der Enquetekommission zur Afghanistan-Konferenz 2001 befragt wurde.
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