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Messerattacke in Zug bei BrokstedtSystem U-Haft ist gemeingefährlich

Gernot Knödler
Kommentar von Gernot Knödler

Wer als staatenloser Ausländer aus langer U-Haft entlassen wird, hat ein doppeltes Problem: keine Vorbereitung auf die Entlassung, kaum Hilfe draußen.

Zeichen der Trauer: Kerze auf dem Bahnsteig in Brokstedt Foto: Gregor Fischer/dpa

D er Messerangriff im Zug beim schleswig-holsteinischen Brokstedt verweist auf schwierige Probleme, sowohl bei der Untersuchungshaft als auch beim Umgang mit straffälligen Ausländern. Sich dieser Defizite anzunehmen, könnte helfen, ähnliche Fälle in Zukunft zu verhindern.

Bei dem Vorfall in einem Regionalzug von Kiel nach Hamburg hatte ein staatenloser ­Palästinenser am Mittwoch zwei junge ­Menschen erstochen und fünf weitere zum Teil lebensgefährlich verletzt. Nur sechs Tage zuvor war der mutmaßliche Täter aus einer einjährigen Untersuchungshaft in Hamburg entlassen worden. Dort saß er, weil ihm ebenfalls ein Messerangriff vorgeworfen worden war.

Dass der Mann ohne Vorbereitung auf die Straße gesetzt wurde, hat mit den Besonderheiten der U-Haft zu tun. Ibrahim A. war nicht rechtskräftig verurteilt, aber eben auch nicht freigesprochen. Solange sein Fall in der Schwebe blieb, musste er wegen Fluchtgefahr in Haft bleiben – allerdings keinesfalls länger als die allenfalls anstehende Haftstrafe. Das führte dazu, dass er nach einem Jahr Knall auf Fall entlassen werden musste. Vorbereitung? Fehlanzeige!

Zuzugestehen ist der Justizverwaltung, dass sie bei der U-Haft meist nicht weiß, wann der Häftling frei kommt. Im Fall von Ibrahim A. hätte sie allerdings, spätestens als sich abzeichnete, dass die U-Haft die Dauer der möglichen Strafhaft erreichen würde, mit Entlassungsvorbereitungen beginnen können. Das gilt besonders für einen Menschen ohne Obdach und möglichen psychischen oder Suchtproblemen.

Eine einjährige Untersuchungshaft ist an sich schon ein Unding. Vom Staat ist zu fordern, dass er sich dann wenigstens nach Standards um die Menschen kümmert, die aus guten Gründen für die Strafhaft gelten.

Das wäre allerdings nur die halbe Miete, wenn der Entlassene dann draußen durch die Maschen des Hilfesystems fällt. Einem Staatenlosen mit unsicherem Aufenthaltsstatus sind viele Hilfsangebote verschlossen. Am Ende landet einer wie Ibrahim A. dann wieder vor einer Notunterkunft, wo er dann womöglich schon Hausverbot hat – also auf der Straße.

Es wäre an der Zeit, einen pragmatischeren Umgang mit Menschen zu finden, die nicht abgeschoben werden können, also faktisch hier im Land bleiben werden. Davon hätten alle was, die Inländer wie die Ausländer.

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Gernot Knödler
Hamburg-Redakteur
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10 Kommentare

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  • Haftanstalten sind nur dazu da, Menschen von der Gesellschaft wegzuschließen. Selten wird der Mensch dort 'verbessert' oder 'gebessert'. Hier hat man den Menschen wohl gar nicht mehr gesehen und nur noch an die Formalien gedacht. Eigentlich gibt es schon ein Procedere, dass es bestimmte Möglichkeiten gibt, ein Wohnheimplatz zu erhalten. Das ist hier offenbar unterblieben, damit hätte der junge Mann sich noch in den Obdachlosenunterkünften einfinden können.

  • Der Artikel stellt aus meiner Sicht richtige Fragen. Sehr wahrscheinlich ist diese Geschichte, so nenne ich es mal, sehr komplex. Es liegt mir fern, eine einfache Antwort zu finden. Sowohl der Autor als auch die Kommentierenden kennen wie ich nicht alle Details. Vieles "wabert" durch die Presse. Die jeweiligen Artikel und auch Kommentare lassen die Haltung der Zeitung und/oder der jeweiligen AutorIn erkennen.



    Es geht doch nicht darum, den Tatverdächtigen zu entlasten und den Geschädigten die Verantwortung in die Schuhe zu schieben.



    Es ist noch gar nicht bekannt, wie es zu dieser Tat kam, in welchem Zustand der Taverdächtige sich befunden hat. Es sind viele Inhalte nicht bekannt, wie bereits geschrieben.



    Fakt ist, es gibt in Deutschland staatenlose Menschen. Es gibt Menschen, die aus unterschiedlichen Gründen nicht abgeschoben werden können. Vor diesem Hintergrund stellt der Autor die richtige Frage, nämlich die Frage des Umgangs, ob nun in oder außerhalb einer Haftanstalt.

  • Manche Täterleben laufen leicht mal in den Terror, das ist doch bekannt, beinahe vorhersehbar. Man hätte anders mit ihm umgehen können, um den Terrormord zu verhindern. Oder ausweisen. Ist eine so gravierende Straftat in Deutschland nicht ein triftiger Grund für Abschiebung?

  • 4G
    47351 (Profil gelöscht)

    Bei anderen Terrorakten, wie z.B. in Hanau vor drei Jahren, wurde den Opfern ein Gesicht gegeben und zugleich wurde nicht versucht, Verständnis für die Lage des Täters aufzubringen. Warum ist das hier anders?

  • Was soll uns dieser Kommentar sagen? Das System ist schuld? Jegliche Eigenverantwortung des Täters wird ja hier scheinbar ausgeblendet. Wie soll den der pragmatische Umgang mit Straftätern, die nicht abgeschoben werden können aussehen? Alle dauerhaft einsperren?

  • Sollten man nicht lieber darüber nachdenken warum er in U Haft sitzt?

  • "...keine Vorbereitung auf die Entlassung..." Was? Was gibts denn da vorzubereiten? Der Mann war einige Wochen oder vielleicht Monate in U-Hast, nicht Jahre oder Jahrzehnte. Wie es sich also draußen anfühlt sollte in der Zeit nicht vergessen sein. Oder wie und was stellen Sie sich da vor?

    • @Pia Mansfeld:

      "Der Mann war einige Wochen oder vielleicht Monate in U-Hast, nicht Jahre oder Jahrzehnte."



      Also, im Artikel steht etwas von einer einjährigen Untersuchungshaft.



      1 Jahr.



      Und U-Haft ist jetzt nicht gerade für Resozialisierungsmaßnahmen berühmt. Der Typ wurde also praktisch ins Nichts entlassen und geisterte danach noch 6 Tage irgendwo herum, bevor er zu seinen anscheinend üblichen und bereits bekannten Methoden griff.



      Also ja, irgendeine Art von Vorbereitung hätte es geben müssen.

      • @Tetra Mint:

        Was denn bitte schön? Wenn man nach einem Jahr wieder in die Freiheit entlassen wird, ist das nicht in eine fremde Welt in der man sich erst orientieren muß. Man wird doch nicht in etwas entlassen, was man noch nie gesehen hat. In einem Jahr vergisst man nicht das, woher man kam und verliert alle Erinnerungen daran. Meine Güte, müssen heutzutage alle an die Hand genommen werden?

  • Die Attacke hat ihre Ursache doch nicht in der U-Haft. Solange er in Haft war, konnte er niemanden erstechen. Und dass die U-Haft nicht länger dauern darf als die Strafhaft, ist selbstverständlich, aber es ist nicht selbstverständlich, dass der vorangegangene Messerangriff (nebst dem zugleich abgeurteilten Diebstahl) nur mit einer Haftstrafe von 1 Jahr und 1 Woche wegen gefährlicher Körperverletzung geahndet wurde ( taz.de/Attacke-in-...rokstedt/!5908039/ ). Wäre die erstinstanzlich verhänte Haftstrafe höher gewesen, säße der Angreifer sehr wahrscheinlich noch in U-Haft, und die beiden Todesopfer könnten noch leben.